Seewölfe Paket 24

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4.

Ein paarmal war Jean Ribault kurz aufgetaucht, hatte nach Luft geschnappt und sofort wieder den Schädel eingezogen.

Die Strömung trug ihn ziemlich schnell fort. Als er wieder einmal kurz auftauchte, erkannte er in der Dunkelheit die Umrisse eines kleinen Bootssteges.

Geschafft, dachte er, wenigstens vorerst, denn jetzt befand er sich schon außerhalb des Forts. Er klammerte sich mit einer Hand an dem Steg fest und nahm das Messer in die andere Hand.

Gerade als er tief Luft holte, sah er nicht weit vor sich entfernt einen Schädel aus dem Wasser tauchen.

Na warte, Freundchen, dachte Jean Ribault, hier geht es um mein nacktes Leben, und da darfst du keinen Pardon erwarten. Du oder ich, so lautet hier die Devise.

Er hob das Messer und wartete, bis sein Verfolger heran war. Er nahm an, daß es der Wärter sei, dem er zu dem unfreiwilligen Bad verholfen hatte.

„Bloß nicht“, sagte eine flüsternde Stimme. „Seine Freunde sollte man tunlichst nicht erdolchen.“

Jean Ribault ließ das Messer sinken und spürte, wie sein Herz überlaut in der Brust klopfte.

„Roger!“ sagte er voller Freude. „Wie ist das möglich?“

Roger Lutz war jetzt heran. Beide hielten sich unter dem Steg an den Balken fest. Jean Ribault war froh, einen guten Mann bei sich zu haben.

„Wie hast du das geschafft, Roger?“

„Ich sah dich springen, und da dachte ich, ich kann doch meinen Kapitän nicht allein losschwimmen lassen. Wer weiß, wo der hinwill. Da bin ich eben auch gehüpft.“

„Du alter Halunke“, sagte Jean bewegt. „Mit dir kann man wirklich Pferde stehlen.“

„Tut’s nicht auch ein Boot? Da vorn liegt eins. Du siehst ziemlich fertig aus.“

„Bin ich auch“, gab Jean Ribault zu, „augenblicklich bin ich total erledigt. Die Halunken haben mich halb totgeprügelt, und die letzte Anstrengung hat mich auch nicht gerade aufgemöbelt.“

„Klauen wir erst einmal den Kahn“, sagte Roger trocken, „und dann pullen wir in einen Nebenarm des Flüßchens. Dort wird sich schon ein Versteck finden. Ich bin sicher, daß der ehrenwerte Don Lope uns alles auf den Hals hetzen wird, was er aufzubieten hat. Der gute Mann dürfte vor Wut nur so kochen.“

„Das glaube ich auch“, sagte Jean Ribault grinsend.

Etwas weiter unten war ein kleiner Kahn am Steg vertäut, den Roger gleich auf Anhieb gesehen hatte. Er ließ den Balken los, schwamm zu dem Kahn hinüber und löste die Leinen. Gleich darauf war er zurück.

„Nun mal frisch hinein“, sagte er. „Sonst schläfst du noch im Stehen.“

Er half Jean in das Boot, zog sich selbst an Bord, sah sich vorsichtig und lauernd nach allen Seiten um und pullte dann los.

Während sie mit der Strömung pullten, hielt Jean Ribault nach allen Seiten Ausschau. Er war sicher, daß es hier bald von Soldaten nur so wimmeln würde, denn Don Lope war nicht der Mann, der eine derartige Schlappe einsteckte. Schäumen würde er vor Wut.

Unterhalb des Forts wurde das Flüßchen breiter. Dann zweigte ein kleiner schmaler Arm ab, in den Roger pullte.

„Weiter seewärts suchen sie“, flüsterte er, „es ist besser, wir verschwinden erst einmal von der Bildfläche.“

Jean Ribault nickte erschöpft. Links und rechts wuchs dunkles Grün hoch. Jetzt sah man nur die gewaltigen Umrisse von Bäumen und riesenhafte Schatten. Hoch über ihnen blinkten ein paar Sterne. Weiter hinten schimmerte der Mond als kleine Sichel.

Der Nebenarm führte in zahlreichen Windungen nordwärts und mündete schließlich in einer buchtenreichen großen Lagune. Überall wuchsen Mangrovenhaine, der Rest war Urwald, in dem jetzt das nächtliche Konzert der Zikaden begann. Hier war die Luft dumpf und stickig, und der faulige Brodem der Mangroven überlagerte alles. In den Sümpfen quakten Frösche, ein Schnattern war zu hören, und einmal setzte für Augenblicke das Konzert aus, als eine Stimme durch den Urwald brüllte.

Dann ging es wieder in gleicher Lautstärke weiter.

Roger Lutz suchte nach einem Plätzchen, einem Versteck, das ziemlich unzugänglich war, und nach kurzer Zeit hatte er auch eins gefunden.

Es führte zwischen Mangroven hindurch in eine weiche Sandkuhle.

„Genau der richtige Platz“, murmelte Roger, „hier wirst du dich prächtig ausruhen und solange warten, bis ich wieder zurück bin. Es wird nicht sehr lange dauern.“

Roger sah zu Jean, weil der keine Antwort gab. Ribault hockte auf der Ducht und schlief im Sitzen. Er wurde erst wieder wach, als Roger ihn an Land trug und in die weiche Sandkuhle legte. Aber auch das dauerte nur Augenblicke, dann schlief er wieder.

Roger zog sich die nassen Plünnen aus und wrang sie kräftig aus. Es war zwar nicht kalt, und die nassen Plünnen hätten ihn auch nicht gestört, aber vielleicht störten sich andere daran, die sich dann wundern würden, daß er ins Wasser gefallen war.

Bei der Gelegenheit untersuchte er auch gleich den breiten Ledergürtel, der seine Hosen hielt. Da war alles noch da, Münzen und ein paar Perlen, eingenäht in die Innenseite des Gürtels. Die Spanier hatten sie zwar gründlich gefilzt, aber die Innenseiten ihrer Leibriemen hatten sie nicht untersucht. Das hatten die „Le Vengeurs“ von den Seewölfen übernommen, denn auf diese Art und Weise war jeder mit dem notwendigen Betriebskapital ausgestattet – und das war nicht wenig. Für das, was Roger bei sich trug, hätte er gut und gern eine kleine Karavelle kaufen können.

Als er seine Plünnen genug gewrungen hatte, zog er sie an, sah noch einmal nach dem schlafenden Jean und fand, daß momentan alles in Ordnung sei. Es war kaum anzunehmen, daß sich jemand in diese finstere Mangroven-Ecke verirrte oder hier suchte.

Roger schob das Boot ins Wasser und pullte die Strecke zurück. Dabei ließ er sich Zeit, denn seine Plünnen waren immer noch nicht ganz trocken.

Immer wieder hielt er unterwegs inne und lauschte angespannt nach allen Seiten. Im Nebenarm des Flüßchens war keine Entdeckung zu befürchten, aber hier mußte er vorsichtiger sein. Er konnte jedoch nichts entdecken. Der Teufel mochte wissen, wo die Kerle jetzt gerade suchten.

Ungesehen gelangte er bis an den Steg, wo er das Boot vertäute.

Dann pirschte er vorsichtig durch enge Gassen zum Hafen von St. Augustine. Einmal blieb er mit angehaltenem Atem stehen und drückte sich in einen Torbogen. Vier mit Musketen bewaffnete Soldaten schlichen durch die Gasse, ein Suchtrupp, kein Zweifel, und die Suche galt ihnen beiden.

Er drückte sich noch weiter in den Torbogen, bis er mit der Lehmmauer verschmolz. Als der Trupp auf gleicher Höhe mit ihm war, raschelte es leise.

Roger traute sich nicht mehr, Luft zu holen, als einer der Kerle in den Torbogen blickte.

Ein liebeshungriger Kater fauchte leise und maunzte, dann flitzte er mit einem Satz an den Soldaten vorbei.

„Mistvieh!“ knurrte einer. „Los weiter! Wir suchen zuerst die Kaschemmen auf der linken Seite ab. Ist ja möglich, daß die Kerle dort aufkreuzen.“

Klar ist das möglich, dachte Roger grinsend, aber erst dann, wenn ihr die Kneipe durchsucht habt!

Er wartete noch ein Weilchen, stahl sich aus dem Torbogen und sah ihnen nach, wie sie in einer Pinte verschwanden. Fünf Minuten später waren sie wieder draußen.

Mit der größten Unverfrorenheit betrat Roger etwas später die Pinte. Wenn sie hier gerade gesucht haben, sagte er sich, dann muß schon eine Weile vergehen, bis sie erneut auftauchen.

Seine Klamotten waren mittlerweile trocken, nur sein schwarzes Haar war noch etwas strubbelig, aber das ließ ihn nur noch verwegener und draufgängerischer erscheinen.

Das schien auch einer strammen, lieblich anzuschauenden Rothaarigen aufzufallen, die ihm einen verheißungsvollen Blick zuwarf.

Die Pinte war gut besucht. In den meisten Nischen hockten Kerle mit ihren Turteltäubchen und gaben sich dem Suff oder der Schmuserei hin. Ein paar besoffene Kerle hockten gleich vorn an einem Tisch.

Roger Lutz streifte die Rothaarige auch sogleich mit einem feurigen Blick, er bombardierte sie fast.

„Wie heißt sie denn, das schöne Kind?“ fragte er mit einem charmanten Grinsen.

„Mila“, hauchte sie und tauchte ihre Blicke heiß in die seinen.

Ha! dachte Roger. Das ist, als ob Flintstein auf Stahl kracht, da gibt es sofort mächtige Funken. Da kann ein nettes Feuerchen draus werden.

„Und wie heißt er denn, mein wilder Freund?“ flötete sie.

„Roger“, hauchte er. Noch einmal sah er ihr tief in die Augen. „Der Schwung deiner Augenbrauen ist wie die silberne Sichel des heiligen Ramadans“, sagte er.

Das erschlug sie fast, denn das hatte ihr noch niemand gesagt.

„Wirklich?“ fragte sie fassungslos. „Woher weißt du das?“

„Ich war früher mal Muselmane“, sagte er grinsend. „Man nannte mich Aqua, den Allerprächtigsten. Aber dann hat mich einer zum Christentum überredet. Laß uns in eine der Nischen eilen, o liebliche Perle von St. Augustine. Ich werde deine Händchen halten und die wilde Glut deiner rätselhaften Augen andächtig in mich aufnehmen.“

Sie lachte hell und perlend.

„Du bist so ganz anders als diese rüden Stoffel“, sagte sie. „Einverstanden.“

Der Mann gefiel ihr. Er war nicht betrunken und zerlumpt wie die anderen Kerle, und er konnte sehr herzlich lachen. Und er wurde auch nicht gleich grob und betätschelte sie lüstern.

Sie nahmen in einer Nische Platz. Roger setzte sich so, daß man ihn nur von der Seite sah, er selbst aber bequem den Eingang der Pinte überblicken konnte.

Ihre blaugrauen Augen musterten ihn neugierig. Dabei lag ein kaum merkliches Lächeln auf ihren Lippen.

 

„Ich habe dich hier noch nie gesehen“, sagte sie.

Roger zog lächelnd eine rosa Perle aus der Hosentasche, die er vorher dem Gürtel entnommen hatte, ergriff ihre Hand und legte sie hinein.

„Aber eine solche Perle hast du sicher schon gesehen“, sagte er. „Ich bin gestern auf den tiefsten Grund der See getaucht und habe mit einer Muschel geredet, daß sie mir die Perle für Mila überläßt. Sie war einverstanden, und so gebe ich dir das Kleinod weiter.“

„Roger!“ Ungeniert fiel sie ihm um den Hals. „Willst du mir die Perle wirklich schenken?“

„Ich habe sie dir schon geschenkt. Aber jetzt trinken wir erst mal eine Kleinigkeit.“

„Diese Perle bedeutet ein Vermögen für mich“, sagte sie ernst, „du kannst nicht ermessen, welche Freude du mir damit bereitet hast.“

Sie tranken süffigen spanischen Rotwein. Roger verschluckte sich fast, als übergangslos die Tür aufging und drei Soldaten erschienen.

„Wie wär’s mit einem Küßchen für den lieben Roger?“ fragte er etwas heiser.

Sie umarmte ihn, hing sich an seinen Hals und ließ ihn nicht mehr los.

Unter ihrem linken Arm hindurch peilte Roger die Soldaten an. Ihre Blicke gingen durch die ganze Kneipe, sie schauten auch in die Nischen, doch den schmusenden Paaren schenkten sie keine Beachtung. Für die Soldaten war es nur logisch, daß ein Flüchtiger jetzt etwas anderes zu tun hatte, als seelenruhig in der Kneipe zu hocken und zu schmusen.

Als sie kopfschüttelnd wieder abzogen, stieß er erleichtert die Luft aus.

„Die haben mich gesucht“, sagte er und riskierte dabei viel. Aber sie sah nicht danach aus, als würde sie ihn verzwitschern. Außerdem war da noch das großzügige Geschenk mit der Perle.

„Wer sucht dich?“ fragte sie leise.

„Don Lope“, flüsterte er zurück.

„Dieser Bastard“, sagte sie angewidert. „Der und seine vollgefressene Bande im Fort. Der Teufel soll diesen Drecksack holen.“

„Nanu – was hast du mit ihm zu tun?“

„Ich kam als Näherin hierher, zusammen mit einer Freundin. Tagsüber besorgten wir unsere Näharbeiten und abends hockten wir hier. Dann lernte meine Freundin diesen Don-Lope-Bastard kennen, und wenig später hat er ihr ein Kind angehängt.“ Ihre Stimme wurde bitter. „Als sie ihm das sagte, hat der Halunke nur dreckig gegrinst und gesagt, wenn sie sich nicht zum Teufel schere, dann lasse er sie einbuchten.“

„Und dann?“

„Sie war total verzweifelt, und eines Tages ging sie mit dem Kindchen ins Wasser, wo beide ertranken. Don Lope hat das nicht einmal zur Kenntnis genommen.“

„Das alte Lied“, sagte Roger. „Die alten Halunken. Die da oben leben in Saus und Braus und Völlerei, und euch nutzt man aus und stößt euch noch tiefer in die Gosse.“

„Das hast du sehr richtig gesagt. Bist du ein Rebell?“ Ihre Augen funkelten ihn in unverhohlener Neugier an.

„Nein.“

„Aber du siehst aus, als möchtest du die ganze Obrigkeit stürzen.“

„Manchmal sollte man das tun.“

„Erzähl mir mehr von dir“, bat sie. „Woher stammst du, und was hast du vor?“

Sie hatte auch etwas gegen die „Obrigkeit“, ganz besonders gegen Don Lope, der sie in St. Augustine verkörperte. Roger war sicher, daß er damit eine Bundesgenossin gefunden hatte.

Er sah ihr noch einmal in die Augen, aber ihre Blicke waren durch und durch ehrlich. Da war nichts gekünstelt, sie war ganz natürlich, eine von jenen vielen, die durch widrige Umstände dicht neben dem Abgrund gelandet waren.

„Ich bin auf einem deutschen Handelssegler gefahren“, sagte er unumwunden, „auf einer Karavelle. In der Florida-Straße wurden wir von den Spaniern aufgebracht, unser Schiff wurde beschlagnahmt. Dann hat man uns ohne rechtliche Grundlage kurzerhand zu Gefangenen erklärt, und wir wurden zur Zwangsarbeit getrieben. Meine Kameraden und ich mußten Wasser im Fort schöpfen oder die Loren schieben.“

„Das hat Don Lope getan“, sagte sie empört.

„Ja, er hat uns zur Zwangsarbeit eingesetzt. Die netten Leute im Fort sparten auch nicht mit Schikanen und Prügel. Wer nicht schnell genug war, kriegte die Peitsche.“

„Dieses Schwein!“ sagte sie leidenschaftlich. „Dieser Bastard ist es nicht wert, daß ihn die Sonne bescheint.“

„Heute abend konnte mein Kapitän fliehen, und ich bin ihm sofort gefolgt. Jetzt suchen sie uns natürlich überall, denn im Fort hat unsere Flucht sicherlich große Aufregung ausgelöst.“

„Das freut mich, daß ihr diesen Halunken entwischt seid“, sagte sie ehrlich. „Aber wo ist dein Kapitän jetzt?“

„Ich habe ihn in ein Versteck gebracht, wo man ihn nicht finden wird. Er ist erschöpft und ausgepumpt, denn sie haben ihn auf grausame Art ausgepeitscht.“

Ihre Empörung wuchs, ihre Augen schossen Blitze.

„Was hat er denn getan?“

„Nichts“, sagte Roger lakonisch. „Bei der Zwangsarbeit wird man immer dann ausgepeitscht oder geschlagen, wann es den Aufpassern gefällt. Es sind Sadisten, Lumpenhunde, die Spaß daran haben, wenn andere leiden müssen.“

„Don Lope“, sagte sie nachdenklich, „ihm hat es auch nichts ausgemacht, als meine Freundin sich das Leben nahm. Vielleicht war er sogar noch froh darüber.“

Als sie sich wieder zutranken, ging erneut die Tür auf. Diesmal erschienen zwei Soldaten mit Musketen. Offenbar suchten sie abwechselnd alle Kneipen in St. Augustine ab. Don Lope schien ihnen ganz schön eingeheizt zu haben.

„Sind hier zwei fremde Kerle gewesen?“ fragte einer der Soldaten den Wirt.

Der hörte was von zwei Kerlen und schüttelte den Kopf.

„Nein, niemand hiergewesen“, sagte er.

Mila hatte die Gefahr ebenfalls sofort erkannt. Sie saß auf Rogers Knien und knutschte ihn ab. Ihre langen Haare fielen wie ein Vorhang über sein Gesicht.

Der Soldat stieß den Wirt beiseite und ging mit schweren Schritten durch die Pinte. Auch er blickte in alle Nischen und suchte nach zwei Leuten, die hier fremd waren.

An dem schmusenden Pärchen ging er achtlos vorbei. Als er das Ende der Pinte erreicht hatte, kehrte er mit mürrischem Gesicht um. Ziemlich verärgert, daß sie keinen Erfolg hatten, verließen die beiden Soldaten kurz darauf die Kneipe.

„War herrlich“, sagte Roger grinsend. „Hoffentlich kommen noch mehr Suchtrupps in die Kneipe.“

„Dazu brauchen wir keine Suchtrupps“, sagte Mila lächelnd. „Kann ich dir irgendwie helfen?“

„Ja, zunächst brauche ich ganz dringend Proviant. Ich versorge dich mit dem nötigen Geld, wenn du welchen besorgen kannst.“

Sie trank ihren Wein aus und sah ihn dabei an.

„Das ist kein Problem. Aber ich habe Angst um dich. Wir sollten nicht hier unten bleiben. Es kann sein, daß sich doch noch jemand für dich interessiert. Und wenn sie dich wieder fangen, dann wird dir keine zweite Flucht gelingen.“

„Das ist richtig“, sagte Roger nachdenklich. „Aber wo können wir hingehen?“

„Ich habe hier ein Dachzimmer mit Blick auf den Hafen“, flüsterte sie, „direkt über der Kneipe. Tagsüber erledige ich dort meine Näharbeiten und abends bin ich hier unten. Dort treffen wir uns. Du wirst vorgehen, damit es nicht auffällt. Die Tür ist nur von außen verriegelt und nicht abgeschlossen. Ich besitze nichts, was man mir stehlen könnte.“

„Und wie gelange ich dahin?“

„Über eine Außentreppe auf der Hinterseite des Hauses. Dort befindet sich ein großer Hof, der wiederum an eine Nebengasse grenzt. Der ist durch eine kleine Hintertür zu erreichen. Es ist ganz leicht zu finden. Warte dort auf mich, ich bin in kürzester Zeit da.“

„Danke“, sagte Roger. Er bezahlte, warf Mila ein Kußhändchen zu und schlenderte lässig aus der Tür.

Der Wirt sah ihm nicht einmal nach, und auch keiner der anderen interessierte sich für ihn.

Als er draußen war, sah er sich in der Dunkelheit nach allen Seiten vorsichtig um. Ein grölender, schwankender und total betrunkener Kerl torkelte über das Pflaster. Hin und wieder fiel er um, dann rappelte er sich entsetzlich fluchend wieder auf.

Die Hintertür fand Roger gleich darauf. Er schlich durch die winzige enge Gasse, bis er den Hinterhof erreichte. An der Hinterseite des Hauses erkannte er im schwachen Licht der Sterne eine Außentreppe, die er lautlos hochstieg.

Dann tastete er nach dem Riegel und öffnete die Tür.

Er befand sich in einem winzigen Raum und ging auf das Fenster zu, durch das man den Hafen sehen konnte. Da lagen ein paar Schiffe.

Auf einigen brannten Ankerlaternen, andere lagen schwarz und drohend da und reckten ihre schwarzen Masten wie Leichenfinger in den nächtlichen Himmel.

Er stand da und sah hinaus und dachte an Jean Ribault. Es war anzunehmen, daß er noch schlief und nicht erwachte. Sonst würde er sich vermutlich fragen, wo er, Roger, abgeblieben war. Aber der Kapitän würde sicher das Richtige annehmen und abwarten.

An der Tür war ein leises Geräusch. Ein Schatten huschte ins Zimmer. Die Tür wurde wieder verriegelt.

Mila kam auf ihn zu und umarmte ihn.

„Was brauchst du alles, Roger?“ fragte sie dicht an seinem Ohr. Ihr Atem war heiß wie die Fieberlanzen der Urwaldhölle da draußen, und er spürte ihren strammen Körper.

„Für ein paar Tage Proviant für zwei Männer, eventuell noch zwei Wolldecken. Wasser gibt es genug, das liefert die Natur.“

Er gab ihr drei Goldmünzen, die sie im schwachen Licht des Nachthimmels dicht am Fenster betrachtete.

„Das ist zuviel“, sagte sie ehrlich. „Was ich besorge, das würde nicht mal eine Goldmünze kosten.“

„Behalte den Rest“, sagte Roger großzügig. „Ich weiß, daß du nicht viel verdienst. Du kannst es brauchen. Aber wo willst du um diese Zeit noch Proviant herkriegen?“

„Auch das ist kein Problem. Ich kenne einen Händler, der froh ist, selbst nachts etwas verkaufen zu können.“

„Soll ich mitgehen?“

„Nein, auf keinen Fall. Warte hier auf mich, ich bin bald wieder zurück. Du kannst dich solange da drüben auf dem Bett ausruhen.“

Als sie weg war, deponierte Roger noch zwei weitere Goldmünzen unter ihrem Kopfkissen. Dann streckte er sich auf dem Bett aus und lauschte in die Nacht.

In der Kneipe unter ihm grölten sie und sangen. Einmal fiel polternd etwas um. Offenbar hatten sich zwei Kerle in der Wolle.

Kurz darauf hörte er Schritte, stand auf und sah zum Fenster hinaus.

Sechs Soldaten marschierten über die Katzenköpfe. Du lieber Himmel, dachte er, Don Lope hat ja gleich eine ganze Armee aufgeboten, denn überall in St. Augustine schwärmten Suchtrupps aus, die die Gassen, Straßen und Spelunken durchkämmten. Er grinste, als er sie in eine Nebengasse einbiegen sah. Da könnt ihr lange suchen, dachte er belustigt.

Allerdings mußte er wieder dieselbe Strecke zurück. Wenn der Kahn nicht mehr da war, würde es schlimm werden, dann konnte er sich mit dem Proviant durch Dreck, Schlamm, Morast und Mangroven quälen. Und selbst mit dem Kahn bestand immer noch die Gefahr einer plötzlichen Entdeckung.

Etwa zwanzig Minuten mochten vergangen sein, da war die rothaarige Mila wieder zurück. Sie schleppte schwer an einem großen Segeltuchsack, den Roger ihr gleich abnahm und auf den Boden stellte.

„Mein Gott, was ist denn da alles drin?“ fragte er.

„Proviant für zwei Männer, die sicher hungrig sein werden, wenn sie länger in ihrem Versteck bleiben. Sei bitte vorsichtig, ganz oben auf dem Proviantsack liegt ein Leinenbeutel mit frischen Hühnereiern. Und zu trinken habe ich auch etwas besorgt. Es wird euch für die nächsten Tage an nichts fehlen. Wenn du wieder was brauchst, dann weißt du ja, wo ich zu finden bin.“

Roger nahm die Frau gerührt in die Arme.

„Hast du es sehr eilig?“ fragte sie dicht an seinem Ohr. „Oder hast du noch eine halbe Stunde Zeit, Roger?“

„Ich kann so schlecht nein sagen“, murmelte er, „außerdem wäre das einer Dame gegenüber unhöflich. Mein Kapitän wird mir die halbe Stunde sicher verzeihen.“

Die letzte halbe Stunde mit Mila hatte ihn richtig aufgemöbelt.

Mann, ist das ein Weib, dachte er. Die ist ja noch feuriger als glühende Lanzen, und sie versteht es, einen Mann nicht nur auf Trab zu bringen, sondern auch auf Trab zu halten. Das ist doch besser, als die Nacht im Kerker des Don Lope zu verbringen, dachte er grinsend.

Dann verabschiedete er sich.

„Komm wieder, sobald es geht“, flüsterte sie.

„Ich werde es versuchen“, versprach er, „wenn es die Umstände zulassen, besuche ich dich wieder. Ich weiß aber noch nicht, wie alles ausgeht.“

 

„Ich drücke euch die Daumen, dir und deinem Kapitän.“

„Danke, wir können es brauchen.“

Dann war er draußen, den Proviantsack auf dem Rücken, und schlich durch den Hinterhof in die kleine Nebengasse. Wieder sah er sich vorsichtig um, und kurz darauf mußte er einer Patrouille ausweichen, die auf dem Weg zum Hafen war. Don Lope schien rasend vor Wut zu sein, denn Roger hörte, daß die Soldaten auch an die Türen der Häuser klopften und mit herrischer Stimme Einlaß begehrten, weil sie die Flüchtigen in einem der Häuser vermuteten. Ganz sicher hatten sie Befehl, die beiden Männer tot oder lebendig zu bringen.

Das wird wahrscheinlich die ganze Nacht so gehen, überlegte Roger, bis sie feststellen, daß sie beide längst über alle Berge und nicht mehr zu fassen waren.

Er mußte also höllisch aufpassen.

Als er endlich den Steg fast erreicht hatte, sah er ganz in der Nähe einen Soldaten stehen. Der Kerl gähnte laut und ungeniert und ging dabei auf und ab. Eine schwere Muskete hing über seiner Schulter. Im Bund hatte er außerdem noch eine Pistole stecken.

Ungesehen kam er an den Kahn nicht mehr heran. Er blieb im Schatten einer ärmlichen Hütte stehen und belauerte den Soldaten.

Der dachte nicht im Traum daran, fortzugehen. Auf und ab schritt er, immer wieder laut gähnend.

Sonst war niemand in der Nähe, wie Roger feststellte. Hier war alles still und ruhig.

Frechheit siegt, dachte er, alles andere konnte er vergessen. Er löste sich von der Hauswand und schlug einen Weg ein, der an dem Posten vorbeiführte. Es sah aus, als wollte er eine der jetzt wie tot daliegenden Gassen ansteuern.

„Halt, wohin?“ rief der Spanier prompt und trat näher heran.

„Nach Hause“, sagte Roger etwas lallend und mit schwerer Zunge. „Wenn ich nicht bald zu Hause bin, haut mir meine Alte was auf den Schädel.“

„Was hast du da in dem Sack?“

„Zitronenfalter“, sagte Roger.

Der Soldat starrte ihn verständnislos an.

„Zitronenfalter?“ wiederholte er ungläubig.

„Ja, Zitronenfalter“, sagte Roger. „Ein ganzer Sack voll. Die kann man nur nachts fangen. Aber man muß vorsichtig sein.“

Der Don hatte noch nie einen Sack voller Zitronenfalter gesehen. Das mußte er sich unbedingt anschauen.

„Öffnen!“ befahl er.

„Aber dann fliegen die Zitronenfalter davon“, sagte Roger betrübt.

„Öffnen, habe ich gesagt.“

Roger bückte sich etwas taumelnd und öffnete den Sack. Der Don beugte sich neugierig über den Inhalt und starrte hinein. Er starrte jedoch nicht lange, denn Roger hatte nur auf diesen Augenblick gewartet.

Er schmetterte dem Don die Handkante ins Genick und fing ihn ab, bevor er zu Boden ging. Hastig sah er sich um. Immer noch war niemand zu sehen.

Er nahm dem Posten die Muskete ab, dann die Pistole und vergaß auch nicht Pulver und Munition. Bewegungslos lag der Mann vor ihm am Boden.

Roger richtete ihn auf, schleppte ihn zu einer halbvollen Regentonne an einem alten Haus hinüber und stopfte ihn hinein. Er mußte ihn ein bißchen falten, aber es ging. Der Don hockte jetzt mit dem Achtersteven in der Tonne und lehnte mit dem Kreuz an der Hauswand. Er sah gar nicht heldenhaft aus, wie er so dahockte, eher so, als hätte ihn Montezumas Rache erwischt. Der Helm hing ihm ins Gesicht, und sein Mund war geöffnet.

„Ach ja, der Helm“, murmelte Roger entschuldigend, „den brauche ich zum Wasserschöpfen.“

Er nahm ihm den Helm vom Schädel, raffte alles zusammen und verstaute es in dem Kahn am Steg.

Bevor er die Leine löste, sah er sich noch einmal sehr sorgfältig um, damit ihm nicht im letzten Moment von einer Patrouille die Tour vermasselt wurde. Grinsend blickte er dabei zu dem Don auf der Regentonne. Das Kerlchen würde sich bestimmt sehr wundern, wenn es wieder bei Bewußtsein war. Vielleicht fanden ihn aber auch ein paar Kameraden, und die würden sich dann ebenfalls sehr wundern.

Roger Lutz pullte los. Er war augenblicklich mit sich und der Welt sehr zufrieden. Sie waren getürmt, hatten ein prächtiges Versteck und jede Menge Proviant. Und ein tolles Weib hatte er auch noch kennengelernt. Na ja – das war doch was!

Unterwegs hielt er immer wieder inne und lauschte. Mitunter hatte er das Gefühl, allein auf der Welt zu sein, bis auf die Tiere, die im Urwald lärmten, zirpten oder quakten. Keine Menschenseele ließ sich blicken. Die Dons suchten immer noch in der Stadt.

Er pullte emsig weiter, bis er den flachen Teil der Lagune erreichte. Auch hier war bis auf das Quaken und Krächzen alles ruhig.

Es war jetzt etwa zwei Stunden nach Mitternacht, wie er schätzte.

Er zog das Boot zwischen die Mangrovenwurzeln und versteckte es so, daß man es von der Lagune aus nicht mehr sehen konnte.

Dann lud er den Proviantsack aus und alles das, was er dem neugierigen Don abgeknöpft hatte. Das brachte er zu der kleinen geschützten Mulde.

Jean Ribault schlief tief und fest, wie er sah. Er atmete ruhig und gleichmäßig.

„Schlaf dich nur aus“, brummte Roger, „du hast es wirklich nötig, mon Capitaine.“

Er öffnete den Proviantsack, fand obenauf die Eier, die er behutsam in den Sand stellte und kramte weiter. Sein Blick wurde ziemlich lüstern, als er all die guten Sachen sah, die Mila besorgt hatte.

Da waren zwei Buddeln vom allerfeinsten Rum, Speck, Brot, ein paar Früchte, eine kleine Holzkiste mit Butter, Marmelade, Bohnen, Gemüse, Zwieback und zwei große Stücke Fleisch. Das gute Mädchen hatte sogar an Salz und spanischen Pfeffer gedacht. Das war wirklich rührend von ihr. Als er noch weiterwühlte, fand er eine große Hartwurst, Käse und ein Messer. Er leckte sich hungrig über die Lippen und dachte an die treusorgende Mila.

Dann überlegte er, ob er Jean wecken sollte, aber als er ihn leicht berührte, erfolgte keine Reaktion. Ribault schlief weiterhin wie ein Toter.

Er nahm eine der Wolldecken und deckte Jean Ribault damit zu. Auch dabei rührte er sich nicht.

Nun, er kann morgen in aller Frühe kräftig futtern, dachte er, und natürlich auch einen Schluck aus der Pulle nehmen. So was kräftigte ja bekanntlich.

Er säbelte sich ein Stück Speck ab, dann ein Stück Brot, etwas Käse und angelte nach der Flasche Wein, die Mila ebenfalls nicht vergessen hatte.

Dann starrte er die schmale Mondsichel an, betrachtete die vorbeiziehenden Wolken und aß genüßlich. Er ließ sich Zeit dabei und mampfte langsam und genüßlich. Zeit hatten sie augenblicklich ja genug, daran mangelte es nicht.

Den Abschluß seines piekfeinen Menüs krönte er mit einem Schluck feinsten Rum, der ihm wie Feuer im Magen brannte.

Er hängte sich die Decke um die Schultern und hielt Wache. Schlafen wollte er jetzt nicht, denn diese Ecke war trotz allem noch für Überraschungen gut. Später, wenn Jean aufwachte, konnte er auch ein paar Stunden schlafen.

Er verkürzte sich die Zeit damit, daß er an Mila, das Prachtexemplar von einer Frau, dachte.

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