Buch lesen: «Reflexive Sinnlichkeit III: Lebenskunst und Lebenslust»

Schriftart:

EHP – Edition Humanistische Psychologie

Hg. Anna und Milan Sreckovic

Die AutorInnen

Hans Peter Dreitzel war nach seiner Berufung an die New School of Social Research in New York drei Jahrzehnte Professor für Soziologie an der Freien Universität Berlin; nach Jahren in den USA, in Griechenland und in Österreich lebt er heute in Oberbayern. In den Siebziger-Jahren ließ er sich in Berlin und New York zum Gestalttherapeuten ausbilden, war Mitbegründer des Gestaltzentrums Berlin (GZB) und baute sich eine eigene psychotherapeutisch Praxis auf. Sein wichtigster Lehrer war der Mitbegründer der Gestalttherapie Isadore From in New York. Seit den Achtziger-Jahren war er auch als Ausbilder an verschiedenen gestalttherapeutischen Ausbildungsinstituten tätig. Er ist Autor zahlreicher Beiträge zur Gestalttherapie, darunter im selben Verlag die beiden ersten Bände von Reflexive Sinnlichkeit (Bd. 1.: Emotionales Gewahrsein. Die Mensch-Umwelt-Beziehung aus gestalttherapeutischer Sicht / Bd. 2.: Gestalt und Prozess. Eine psychotherapeutische Diagnostik oder: Der gesunde Mensch hat wenig Charakter).

www.dreitzel-gestalttherapie.org und www.gestalttherapie-ammersee.de; peter.dreitzel@yahoo.de

Brigitte Stelzer-Dreitzel ist u. a. am Institut für Integrative Gestalttherapie Würzburg IGW und bei Dr. Kristine Schneider als Gestalttherapeutin ausgebildet worden. Sie ist Mitbegründerin des Ausbildungsinstitutes für Klinische Lerntherapie (Iigel) und Autorin mehrerer Lernspiele und Ko-Autorin des interaktiven Lehrbuchs für Klinische Lerntherapie (INTERDIKK). Seit Beginn ihrer Ehe mit Hans Peter Dreitzel hat sie mit ihm bereits an dessen Grundlegung einer gestalttherapeutischen Prozess-Diagnostik (Reflexive Sinnlichkeit 2.: Gestalt und Prozess. Eine psychotherapeutische Diagnostik oder: Der gesunde Mensch hat wenig Charakter) gearbeitet.

www.gestalttherapie-ammersee.de; brigittestelzer@yahoo.de


© 2014 EHP – Verlag Andreas Kohlhage, Bergisch Gladbach www.ehp-koeln.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagentwurf: Gerd Struwe, Uwe Giese

– unter Verwendung eines Fotos von Uwe Giese –

Satz: MarktTransparenz Uwe Giese, Berlin

Gedruckt in der EU

Alle Rechte vorbehalten

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print-ISBN 978-3-89797-052-6

epub-ISBN 978-3-89797-602-3

PDF-ISBN 978-3-89797-603-0

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

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Inhalt

Vorwort

Einleitende Frage: Was ist ein gutes Leben?

Teil I. Das Projekt eines guten Lebens

1. Sich in das Abenteuer des Lebens stürzen

2. Neugier und Wissensdurst pflegen

3. Alles fließen lassen

4. Im Hier-und-Jetzt leben

5. Die Bedürfnisse spüren – ordnen – offenlegen

6. Den Ausdruck unserer Gefühle kultivieren

7. Die verborgene Schönheit des Lebens finden

8. Aus innerer Freiheit leben

9. Sich befreunden

10. Maßhalten ohne die Lust zu verlieren

Teil II. Entwicklung und Reifung

1. Die Sinn-Gestalt des Lebens

2. Eine Entwicklungstheorie für die Gestalttherapie?

3. Das holografische Entwicklungs-Modell von Ken Wilber

4. Gleichgewichtsprobleme im Holon: Konfluenz und Narzissmus

5. Im Schatten katastrophischer Entwicklungen

6. Was sonst noch auf uns zukommt

7. Tendenzen zur Autonomie im Privatbereich

8. Lebenskrisen als Übungsfelder

9. Gegenseitigkeit und Teilnahme

10. Übung und Reifung, unbekanntes Ziel

Teil III. Zur Praxis der reflexiven Sinnlichkeit

1. Warum wir mit uns selbst beginnen müssen

2. Die Weisungen des Atisha – das Üben von Bewusstheit

3. Kinomichi und Kum Nye – das Üben von Körper-Gewahrsein

4. Der Gegensatz von Ichhaftigkeit und Ichlosigkeit – ein Missverständnis

Nachwort von Thomas Rieger

Themenverzeichnis

Literaturverzeichnis

Vorwort

Vom Plan dieses Buches bis zu seiner Verwirklichung ist fast ein Jahrzehnt vergangen – Jahre, in denen verschiedene Lebensumstände und langes Nachdenken über das Thema Entwicklung seine Fertigstellung immer wieder verzögert haben. In dieser Zeit aber bin ich auch älter geworden, habe mich also auch selbst entwickelt – und dabei beobachtet. Das hat – zusammen mit meiner wachsenden Skepsis gegenüber einem Denken in Entwicklungsstufen in der gestalttherapeutischen Praxis – dazu geführt, dass sich in diesem Text nun theoretische Überlegungen mit praktischen Lebenserfahrungen sowie philosophische Einsichten mit Erfahrungen aus der psychotherapeutischen Praxis verbunden haben. Aus der Frage nach der Bedeutung von Entwicklung für das Hier-und-Jetzt des gegenwärtigen Lebens ergab sich dabei zwangsläufig die Frage, was Reifung und Reife heute eigentlich sein könnten.

Zu suchen war dies im Bild vom Menschen, das hinter jeder psychotherapeutischen Intervention verborgen ist und therapeutisches Handeln bewusst oder unbewusst leitet. Solche Bilder sind nicht beliebige Produkte des Denkens der Begründer psychotherapeutischer Schulen und Richtungen, sondern wurzeln im Zeitgeist ihrer Epoche und nähren sich ebenso sehr aus den prägenden historischen Leiderfahrungen ihrer Generation wie aus den philosophischen Denktraditionen ihrer Zeit. Deshalb führten mich die Fragen nach Wachstum, Entwicklung und Reifung zurück zu der uralten und immer neu zu stellenden philosophischen Frage nach dem guten Leben. Was könnte das heute bedeuten, ein gelingendes, ein sättigendes, ein glückliches, und in einem tieferen Sinne gutes Leben zu führen? Und ergibt sich aus der Antwort darauf auch so etwas wie eine Richtung, die einem Leben Orientierung und Sinn verleihen könnte?

■ Für mich war es natürlich, mich bei der Suche nach Antworten zuerst in der Gestalttherapie umzuschauen, denn deren Geist hat mich nun schon seit vierzig Jahren in meiner therapeutischen Arbeit beflügelt und inspiriert. Vieles in diesem Buch beruht auf dem, was ich für das Menschenbild der Gestalttherapie halte – denn ein solches findet sich nirgends explizit ausformuliert, auch wenn ich die klassischen Schriften der Gestalttherapie immer wieder zu Rate ziehe. Ansonsten aber stütze und berufe ich mich in diesem Buch ständig auf meine Erfahrungen aus meiner eigenen Arbeit mit Klienten und auf die theoretische Beschäftigung mit der Gestalttherapie in meinen eigenen Veröffentlichungen. Das gilt vor allem für den Band Reflexive Sinnlichkeit I. (Emotionales Gewahrsein) und Reflexive Sinnlichkeit II. (Gestalt und Prozess). Diese drei Bände hatten ursprünglich zur Aufgabe, vier Lücken in der allgemeinen Theorie der Gestalttherapie zu schließen:

1. Die Ausarbeitung des zuvor nur skizzierten Modells der »Kontaktwelle«.

2. Die Ausarbeitung einer Phänomenologie der Gefühle, mit der diese so auf die Arbeit an den Gefühlen fokussierte Therapie gut arbeiten kann.

3. Die Ausarbeitung einer prozessorientierten, Gestaltpraxis nahen Diagnostik der Neurosen.

4. Die Ausarbeitung einer gestalttherapeutischen Entwicklungstheorie.

Diese Vorhaben habe ich mit diesem Buch beendet, wenn auch nicht abgeschlossen. Die Richtung, in die sich meine Arbeiten zu diesen Themen entwickelt haben, hat sich im Laufe der vielen Jahre seit der ersten Auflage des ersten Bandes (1992) verändert – und das gilt insbesondere für dieses vorliegende Buch. Zweierlei ist aber gleich geblieben, und das rechtfertigt den gemeinsamen Obertitel: die Einbettung der Themen in den gesellschaftlichen und historischen Kontext und der Gedanke, dass das Gewahrsein, das ich reflexive Sinnlichkeit oder Bewusstheit nenne, und die Achtsamkeitspraxis, die zu ihr führt, für unser Leben als Einzelne und als Mitmenschen in unserer gesellschaftlichen Umgebung eine heilende und entwicklungsfördernde Bedeutung hat.

Wenn es aber hier nun um die Frage nach dem guten Leben geht, nach der Kunst, das Leben so zu gestalten, dass es als ein sinnvolles erlebt werden und damit glücklich machen kann, dann bekommt dieser zentrale Gedanke meiner Überlegungen notwendigerweise eine ethische Dimension, die so in der Gestalttherapie als Praxis nicht enthalten ist – zu groß erschien den Gründern Frederik und Laura Perls und Paul Goodman die Gefahr, dass Wegweisungen als moralische Fremdkörper introjiziert werden könnten.

■ Dieses Buch aber enthält solche Wegweisungen – und ist deshalb kein gestalttherapeutisches Praxis-Buch! Dennoch wäre mir nichts unangenehmer, als wenn man es bei der verbreiteten Glücks- und Ratgeber-Literatur einordnen würde. Ich denke aber, dass es sich komplex genug darbietet, um nicht allzu leicht introjizierbar zu sein. Es will zum Nachdenken, Nachspüren, Ausprobieren und Üben anregen. Wäre es nur um praktische Tipps gegangen, wie man sein Leben lustvoller und reicher gestalten könnte, dann hätte ich mich zumindest ausführlich mit Erotik, Kulinarik und last not least mit dem Reisen befassen müssen, alles Bereiche, die der Kultivierung bedürfen und über die es eine reichhaltige Literatur kritisch zu besichtigen gilt. Hier geht es mir um die Umgestaltung des Lebens als ganzem durch die tiefgreifende Bewusstseinsveränderung, die unsere Epoche verlangt. Das geht nicht ohne Zumutung einiger Imperative.

Thomas Rieger, der die Idee zum Nachwort zu diesem Text hatte, meinte mit kritischer Freundlichkeit, es sei unter den apodiktischen Büchern das einzige, das er akzeptieren könne. Vielleicht liegt das daran, dass ich die Wirkung meiner Wegweisungen von der Übungspraxis der Leser abhängig mache; erst aus der Selbsterfahrung ihres Übens könnte sich der Sinn meiner Schlussfolgerungen auf je individuelle Weise erschließen. Diese im Druck eigens abgesetzten Schlussfolgerungen sind das Ergebnis meiner jeweils vorangestellten Überlegungen, aus denen sie sich begründen. Diese Übungspraxis wäre aber zugleich auch das Falsifikationsverfahren, dem ich mich nicht entziehen will. Auch meine ich, dass es nicht nur therapeutisches Lernen gibt, das in der Tat auf nichts als angeleiteter Selbsterfahrung beruhen sollte, sondern auch ein Lernen über das geschriebene und gesprochene Wort; das mag altmodisch sein, hat aber den Vorzug, dem Leser und Hörer die Integration oder das Verwerfen des Aufgenommenen zu überlassen.

Die im Text zitierten und im Literaturverzeichnis aufgeführten Texte wollen den Leser weder beeindrucken noch ermüden; sie sind nur als Hinweise für diejenigen Leser gedacht, die dieser oder jener Spur ihrer eigenen Neugier folgend weiter nachgehen möchten. Auch sind sie nicht vollständig genug, um als wissenschaftlicher Beleg für meine Thesen dienen zu können. Stattdessen sollen sie dem Leser zeigen, was die Quellen meines Denkens sind. Der Leser möge sie als einen Teller voller Lesefrüchte sehen, die ich auf dem Weg zu diesem Buch fand, und die mich angeregt und genährt haben – und koste sie nach eigener Lust und Neugier.

Dieses Buch wendet sich an Leser, die den ökonomisch relativ gesicherten Verhältnissen der sogenannten Westlichen Gesellschaften angehören. Denn was ein gutes Leben ist, kann nicht kontextfrei für alle Menschen die gleiche Gültigkeit haben; es ist abhängig vom ökonomischen Entwicklungsstadium der Gesellschaft, in der man lebt, sowie von der eigenen Klassenlage und dem eigenen kulturellen Milieu. Mit dieser Heterogenität müssen wir vorerst leben, denn die Weltgesellschaft ist erst im Entstehen. »Ich bin. Aber ich habe mich nicht: Darum werden wir erst«, wie Ernst Bloch hoffnungsvoll diesen Zustand auf anthropologischer Ebene beschrieb (E. Bloch, 1963, 11).

■ Wenn man heute jenseits der Biologie von Entwicklung spricht und damit anspielt auf zivilisatorische Prozesse der Differenzierung im Rahmen übergreifender, ganzheitlicher Systeme, steht man sogleich unter Verdacht, naiv zu verkennen, wie sehr sich in der Dialektik der Aufklärung (T. W. Adorno & M. Horkheimer, 1963) jedes positive Verständnis von Aufklärung selbst verbrannt hat. Zu schwer lastet die Erfahrung der Ungeheuerlichkeiten des XX. Jahrhundert auf uns, als dass wir noch ungebrochen unsere Hoffnungen auf das Wohltätige der Entwicklung von Technik und Wissenschaft setzen oder gar auf ein Fortschreiten der gesellschaftlichen Vernunft vertrauen könnten.

In diesem Buch stütze ich mich vor allem auf zwei Philosophen, Ken Wilber und Peter Sloterdijk, die sich diesem Verdacht zu entziehen suchen, beziehungsweise über ihn hinaus denken wollen. Wer heute über Entwicklung nachdenkt, kommt am Werk von Ken Wilber nicht vorbei. Wie kein Zweiter hat Wilber den Versuch unternommen, die verschiedenen vorliegenden Entwicklungstheorien systematisch zusammenzufassen, und damit eine Entwicklungsperspektive geschaffen, die es so seit Hegel nicht mehr gegeben hat. Vielleicht ist es die List der Vernunft, auf die Hegel im Zweifelsfall gern vertraute, dass Ken Wilber das Produkt einer Kultur ist, der man oft nachgesagt hat, dass ihr die Idee des Tragischen fremd sei. Sein Werk strahlt bei aller Vorsicht und Differenzierung einen ungebrochenen Optimismus aus, wie man ihn heute wohl nur noch in den USA und dort besonders westlich des Mississippi findet. Was man aus europäischer Sicht vielleicht als einen Mangel an differenziertem Geschichtsbewusstsein kritisieren würde, könnte sich als ein Glücksfall erweisen, denn Wilbers Entwicklungsdenken, so scheint es mir, findet aus der deprimierenden Beliebigkeit der Postmoderne heraus, ohne in die naiven Fortschrittshymnen des 19. Jahrhunderts zurückzufallen. Dazu trägt auch sein unerschrockener Versuch bei, endlich auch im Westen den Erkenntnisweg der subjektiven Selbsterforschung durch disziplinierte Formen der Meditation als eine legitime Form der hermeneutischen Erkenntnissuche zu etablieren. Wilber nennt seine Philosophie eine integrale Theorie, und das ist, worauf sich der Begriff integral im Untertitel dieses Buches bezieht.

Während der erste Teil des Buches sich hauptsächlich auf gestalttherapeutische Einsichten stützt, bezieht sich der zweite Teil eher auf Ken Wilbers integrale Entwicklungstheorie. Der dritte Teil des Buches dagegen verdankt sich letztlich meiner eigenen buddhistischen Lebenspraxis, die für mich stets eine Fortsetzung und Vertiefung der Achtsamkeitspraxis der Gestalttherapie war, in der ich ja nicht nur als Therapeut und Lehrer, sondern über dreißig Jahre hinweg auch als Lernender in zahlreichen Lehr-Workshops teilgenommen habe. Aber angeregt und ermutigt wurde ich zu diesem letzten Teil des Buches von Peter Sloterdijks Denken, insbesondere von seinem 2009 erschienenen Buch Du musst dein Leben ändern – Über Anthropotechnik. Es ist weniger die Fülle der Einzelanalysen als der Grundgedanke und der kühne Entwurf einer grundlegend neuen anthropologischen Perspektive, die mich überzeugt hat, den Menschen generell als ein übendes Wesen zu sehen.

■ Bleibender Hintergrund meines Denkens sind darüber hinaus bis heute meine Lehrjahre bei dem Philosophen Helmuth Plessner und bei dem Gestalttherapeuten Isadore From geblieben. Ihnen bin ich weiterhin zu Dank verpflichtet wie auch den vielen Kollegen und Supervisanden, mit denen ich im Laufe der Jahre arbeiten durfte. Wolfgang Kötter danke ich für die wiederholte energische Aufforderung, meine Gedanken zu diesem Thema zu Papier zu bringen, die mich sehr ermutigt hat, und ganz besonders auch für das Angebot, die letzte Korrektur des Manuskripts zu übernehmen Thomas Rieger danke ich für unsere Gespräche und sein Nachwort, das in seiner unverhohlenen, heute selten gewordenen, sozialistischen Perspektive einen spannenden Blick auf meine Gedankengänge wirft.

Ohne die Zusammenarbeit mit meiner Frau Brigitte Stelzer-Dreitzel gäbe es dieses Buch nicht.

Hans Peter Dreitzel

Hohenpeissenberg, August 2013

Einleitende Frage: Was ist ein gutes Leben?

Hinter jeder Psychotherapie-Richtung steht ausgesprochen oder unausgesprochen ein Menschenbild. Immer gibt es eine manchmal explizite, oft aber nur implizite Vorstellung davon, was einen »gesunden«, psychisch nicht gestörten Menschen ausmacht, was also auch das Ziel der psycho-therapeutischen Bemühung sein sollte. So auch in der Gestalttherapie, der Schule, in der ich als Psychotherapeut ausgebildet worden bin und der ich mich angeschlossen habe – nicht zuletzt, weil mich ihr Menschenbild überzeugt hat.

Auch in der Gestalttherapie ist dieses Menschenbild eher in ihren Vorstellungen von Neurosen versteckt, als dass es in ihrer Literatur deutlich dargestellt und erörtert worden wäre – mit Ausnahme des letzten Abschnitts von PHG,1 betitelt: Das Kriterium – nämlich für psychische Gesundheit (PHG, 333 f.).

Aus diesem Text und aus dem gestalttherapeutischen Ansatz insgesamt entnehme ich die wichtigsten Elemente, aus denen sich das Menschenbild der Gestalttherapie zusammensetzt. Wie bei anderen Therapie-Richtungen ist dieses Menschenbild im Grunde einfach das, was übrig bleibt, wenn die psychischen Störungen überwunden und geheilt sind, unter denen diejenigen Menschen leiden, die sich einem Psychotherapeuten anvertrauen. Auch wenn man, wie es die Gründer der Gestalttherapie getan haben, davon ausgeht, das neurotische Verhaltensweisen Anpassungen an ein gestörtes, ja krankhaftes Gesellschaftssystem sind, so setzt die Gestalttherapie dem die Möglichkeit von kreativen Anpassungen entgegen. Man darf diesen gestalttherapeutischen Begriff nicht als passive Anpassung an den jeweiligen Status quo missverstehen. Vielmehr heißt es bei PHG: »Wir sprechen von der kreativen Anpassung als von der wesentlichen Funktion des Selbst«, und zu der gehören »die schöpferischen Funktionen der Selbstregulation, die für das Neue, für die Zerstörung und Neuintegration der Erfahrung offen sind« (PHG 2006, 49). Und Perls verdeutlichte: »Der Prozess der schöpferischen Anpassung an neues Material und neue Umstände schließt immer auch eine Phase der Aggression und der Zerstörung mit ein, denn nur durch Annäherung, Vereinnahmung und Veränderung neuer Strukturen wird Ungleiches gleich gemacht.« (PHG 1985, 15). Angewandt auf das Projekt eines gelingenden Lebens heißt das mit anderen Worten:

Das gute Leben im schlechten gesellschaftlichen System ist der schöpferische Widerstand gegen die schlechten herrschenden Zustände; ein gesundes Leben ist ein rebellisches Leben.

■ Tatsächlich ist die Frage berechtigt, ob es unter den Bedingungen der großen globalen Krise der kapitalistischen Gesellschaften, in der wir heute leben, ein gutes Leben überhaupt geben kann (H. P. Dreitzel 2009). Hier ist die Beobachtung von Bedeutung, dass Menschen, die sich in praktischer Arbeit und eigenem Engagement gegen die Verwüstungen stemmen, die der unkontrollierte Kapitalismus an der Natur und an den Menschen anrichtet, durchweg glücklicher und zufriedener in ihrem Leben zu sein scheinen, als diejenigen, die resigniert aufgegeben haben oder die immer gleichgültig gegenüber dem Leid anderer geblieben sind. Es geht hier also nicht um ein moralisches Argument, sondern um ein pragmatisches: Es lebt sich besser und gesünder, wenn man im Widerstand lebt. Dies ist jedenfalls der Fall, wenn der Widerstand als sinnvoll erlebt wird. Und damit dies der Fall sein kann, müssen die Ziele als prinzipiell realisierbar erlebt werden, und darüber hinaus auf die Kräfte und Ressourcen der Betroffenen abgestimmt sein. Eine wichtige, oft unabdingbare Hilfe dabei ist die Solidarität einer Aktionsgruppe: Man ist nicht allein, nutzt die Kräfte der wechselseitigen Unterstützung und der Intelligenz der Organisation.

Es lässt sich dies auch umgekehrt sagen: unter den Bedingungen der Welt-Krise kann man ein gutes, das heißt ein einigermaßen zufriedenes und als sinnvoll erlebtes Leben nur führen, wenn die eigene Vitalität, die individuelle Lebenskraft, auch in einen kreativen Zorn einfließt, der sich auf die Veränderung der lebensfeindlichen ökonomischen Systeme und der verholzten soziobürokratischen Strukturen richtet. Das ist, was die Gestalttherapie gesunde Aggression nennt.

Allerdings muss dazu erst einmal die Vitalität freigesetzt werden, die durch die Verhakung in neurotische Prozesse ständig energetisch geschwächt wird.

Je weniger dies der Fall ist, desto eher – so das »Kriterium« von Perls und Goodman –

– »verringert sich die Erregung nicht, sobald Hindernisse gegenüber dem schöpferischen Prozess auftauchen;

– bleibt die Gestaltbildung nicht stecken, sondern man erlebt spontan neue aggressive Gefühle und aktiviert neue Ich-Funktionen der Vorsicht, Besonnenheit oder Aufmerksamkeit, wie es die Hindernisse erfordern.

– verliert man dabei nicht das Gefühl für sich selbst als synthetische Einheit, sondern es wird immer schärfer; man identifiziert sich damit immer mehr und sortiert das aus, was nicht zu einem gehört.

Im Gegensatz dazu schwankt die Erregung bei einer Neurose an dieser Stelle hin und her,

– die Aggression wird nicht erlebt,

– man verliert das Empfinden für sich selbst,

– man wird verwirrt, gespalten, abgestumpft.

Dieser faktische Unterschied, der in einem fortgesetzten, ununterbrochenen schöpferischen Prozess besteht, ist das entscheidende Kriterium für Vitalität oder Neurose.« (PHG 333/334, Kursivierungen und Einrückungen von HPD).

Es gibt also sehr wohl ein Kriterium dafür, wie ein psychisch gesundes Leben auch unter den Lebensbedingungen möglich ist, die uns der globalisierte, digitale Kapitalismus auferlegt – jedenfalls in den Gesellschaften, in denen die Befriedigung der unmittelbaren Bedürfnisse nach Nahrung, Trinkwasser und Obdach gesichert ist. Und nur in einem solchen gesellschaftlichen Kontext sind meine weiteren Überlegungen zu verstehen.

■ Aber ist ein psychisch gesundes Leben auch ein glückliches oder gar ein »gutes« Leben? Ein solches gehörte freilich niemals zu den Versprechen der Psychotherapie, jedenfalls nicht der tiefenpsychologisch orientierten. Freud war da ja eher pessimistisch: Die berühmte Formel »Aus Es muss Ich werden« bedeutete für ihn ja nicht etwa die Befreiung zu einem hedonistischen, rein lustvollen Leben, sondern die Anerkennung des »Realitätsprinzips«, nach welchem es ohne Anpassung an die gesellschaftlichen Normen kein befriedetes Leben geben kann. Das war bei Freud (auch angesichts der Katastrophe des Ersten Weltkriegs) bereits das Höchste des Erreichbaren. Das erwachsene Leben kann nicht einfach dem »Lustprinzip« folgen, menschliche Reife erweist sich für Freud in der Fähigkeit zu Triebaufschub, Triebunterdrückung und Sublimation.

Die Katastrophe erwies sich in der Folge als noch steigerbar: Adorno formulierte seinen berühmt-berüchtigten Satz »Es gibt kein gutes Leben im schlechten« angesichts der Erfahrung von Auschwitz. Dieser Satz aber lebt heimlich von der Utopie, deren Scheitern er sich verdankt – der Vorstellung nämlich, menschliches Leben könnte irgendwann und irgendwie einfach »heil« werden, also ohne selbst gemachtes Leid. Diese Illusion ist freilich erst mit der Säkularisierung christlicher Erlösungsvorstellungen in der Philosophie des deutschen Idealismus, vor allem bei Hegel, in die Welt gekommen. Das Projekt des guten Lebens aber ist eine vorchristliche Idee der Antike, die vor allem mit den Namen Epikur und Seneca verbunden ist.

■ Gestalttherapie setzt allerdings nicht darauf, die Menschen »glücklich« zu machen im Sinne von bloßer Zufriedenheit oder gar Erlösung vom Leid. Sie glaubt aber, dass der Entfaltung des Lebens mit allen seinen Potenzialen ein Gutes innewohnt. Fritz Perls setzte, angeregt von dem Philosophen Jan Christiaan Smuts und dem Gestaltpsychologen Kurt Goldstein, an die scheinbar dem Leben selbst innewohnende Tendenz zum Ausgleich der Widersprüche zum Gleichgewicht an. Während der anarchistische Zug in Paul Goodmans Denken ihn zu der Überzeugung brachte, dass die unterschiedlichen individuellen und gesellschaftlichen Kräfte und Bestrebungen sich am besten selbst regulieren. So waren diese beiden bedeutendsten Begründer der Gestalttherapie auf unterschiedlichen Wegen zu der gemeinsam vertretenen Ansicht gelangt, dass das Leben, wenn sein Wachstum weder von außen noch von innen gestört wird, von allein zu einem befriedigenden, reifen Gleichgewicht tendiert. Dieser Gedanke von Wachstum enthält jedoch noch keine Idee von Entwicklung!

Aber »jede Störung des organismischen Gleichgewichts verursacht eine unvollständige Gestalt, eine unvollendete Situation, die den Organismus zwingt, kreativ zu werden, um die Balance wieder herzustellen« (F. Perls 1980, 84). Solche Störungen können von außen kommen (selbst wenn sie wie bei Introjekten so erlebt werden, als ob sie innen seien), dann handelt es sich – in der saloppen Sprache von Perls – um »unfinished business«, eine offene Gestalt, die geschlossen werden muss; oder sie können von innerhalb des Organismus kommen, dann handelt sich um die Es-Funktionen des Selbst, d. h. um Triebe, Bedürfnisse und Interessen, die befriedigt sein wollen. Ist der Hunger gestillt, der Trieb befriedigt, die Gestalt geschlossen, dann befindet sich der Organismus in einem Zustand des relativen Gleichgewichts, der Homöostase, der lustvoll als Sättigung, Befriedigung oder Erfüllung erlebt wird, auch wenn dieser Zustand nie anhält, stets nur von relativ kurzer Dauer ist. Gelingt es uns, unsere Triebe, Bedürfnisse und Interessen immer wieder ausreichend zu befriedigen, dann werden wir uns vorübergehend zufrieden und glücklich fühlen. Für Friedrich Perls war der Gedanke der Homöostase, nach welchem »offene Gestalten« sich durch eine Tendenz zu ihrer Schließung auszeichnen, zentral, denn er passte zu der Entdeckung der Gestalt-Psychologie.

Bei PHG aber taucht der Gedanke des Gleichgewichts nicht mehr auf; hier wird das Leben implizit bereits realistischer als ein Fluss aufgefasst, in der jedes Gleichgewicht sich sofort wieder auflöst. Das war hellsichtig, denn inzwischen hat sich das Verständnis, das die Biologie vom Leben hat, deutlich verändert: Heute ist klar, dass Leben aus einer immer prekären, ständig sich konfliktreich austarierenden Balance zwischen Chaos und Ordnung entsteht. »Das Miteinander von Chaos und Ordnung bildet das eigentliche Schöpfungspotenzial der Natur«, sagt der Medizin-Forscher Friedrich Cramer. Leben wächst – und vergeht auch; und es entwickelt sich (F. Cramer, 1997; vgl. dazu auch Teil I, 1, »Die Erfahrung am Leben zu sein«). Aber es war wohl nicht einem moderneren Verständnis von der Natur des Lebens geschuldet, dass der Gedanke des Gleichgewichts keine Rolle mehr spielte. Vielmehr lag es einfach daran, dass Paul Goodman hier die bei Perls noch fehlende soziologische Perspektive mit einbrachte. Er wusste, dass befriedigende Kontaktprozesse ohne Scham nur in einer freien Gesellschaft gelingen können, und ohne Schuldgefühle nur, wenn wir unsere Mitmenschen auf diesem Weg mitnehmen. Die »sättigende Erfahrung«, wie ich in Reflexive Sinnlichkeit I das gestalttherapeutische Modell der gelingenden Kontaktprozesse zwischen Mensch und Umwelt genannt habe (H. P. Dreitzel, 2007a, Kapitel II), ist also die Grundlage jedes befriedigenden, zum Glück tendierenden Lebens. Es muss aber, um als ein »gutes Leben« bestimmt werden zu können, noch zweierlei hinzukommen:

– der Kampf gegen das, was unsere Lebenskräfte fesselt und erstickt, und

– das Teilen der »Lebens-Mittel«, wie Karl Marx sie so treffend genannt hat, die wir für die sättigenden Prozesse brauchen, mit anderen Menschen.

■ Beides verschafft uns eine eigene, zusätzliche Freude: Es gibt eine Lust, die im Bemühen um den Abbau überholter Vorstellungen von Charakter und von unnötigen Tabus entsteht, und eine Lust an der Gemeinsamkeit des Kampfes und am Verschenken des Überflusses – geteilte Freude ist doppelte Freude. Und es ist die Erfahrung von Sinnhaftigkeit unseres Handelns, die unseren Tätigkeiten, selbst wenn sie mühevoll und anstrengend sind, ihr eigenes Glück verleiht. Diese Erfahrung muss zur Erfahrung der Befriedigung unserer Bedürfnisse hinzukommen, um von einem »guten Leben« sprechen zu können, denn in ihr löst sich das Individuum aus seiner egozentrischen Vereinzelung und öffnet sich zu einer Verantwortung für seine Mitmenschen.

Wie das im Einzelnen aussehen könnte, hat zur Zeit am besten der »Transformationsdesigner« Harald Welzer in seinem Buch »Selbst denken – Eine Anleitung zum Widerstand« beschrieben (H. Welzer, 2013). Dieser Autor hat sich wie kein anderer im deutschen Sprachraum mit der Frage beschäftigt, welche individuellen und gemeinschaftlichen Handlungsspielräume uns in der gegenwärtigen Situation bleiben, welche Möglichkeiten des Widerstands es heute gegen die scheinbar unaufhaltsame Wachstumsdynamik der kapitalistischen Märkte gibt, wie überhaupt die ethische Dimension eines guten Lebens praktisch gestaltet werden kann.

Die Antworten, die die Philosophie auf die Frage danach, was ein »gutes Leben« sein könnte, entwickelt hat, haben sich von Anfang an in diesem Spannungsbogen zwischen individuellem Glück und mitmenschlicher Verantwortung bewegt. In der Antike ist es die Schule der Epikuräer, die sich am meisten um die Frage nach dem menschlichen Wohlbefinden gekümmert hat. Für Epikuros (im Folgenden nach L. Marcuse 1972 zitiert), den griechischen Begründer dieser Schule, war das höchste Gut das Glück. Und dieses Glück bestand für ihn nur aus zwei Elementen. Erstens lehrte er: »Jede Erregung körperlichen Vergnügens lässt eine Lust und Freude der Seele aus sich hervorgehen.« (85). Da ist er schon, der sättigende Prozess als Grundlage des Glücks! Zweitens aber lehrte er: »Ohne Freundschaft gibt es kein vollkommenes Glück.« Ja, er meinte sogar: »Ohne die Gesellschaft eines Freundes zu essen ist bestialisch.« (74). Seine Wertschätzung der Freundschaft geht schließlich so weit, dass er, dreihundert Jahre vor Jesus, zu dem Schluss kam: »Geben ist seliger denn nehmen.« (74)