Reflexive Sinnlichkeit III: Lebenskunst und Lebenslust

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3. Alles fließen lassen

Der berühmte Hauptsatz des altgriechischen Philosophen Heraklit Alles fließt bezog sich auf den gesamten Kosmos, und wir wissen erst heute, wie Recht er hatte: Unser Universum dehnt sich in die Unendlichkeit aus, Milliarden von Galaxien bewegen sich durch dieses Universum und kreisen um sich selbst und umeinander, wie es in ihnen auch die Sterne und ihre Trabanten tun. Das Gleiche geschieht auf der Mikroebene, wo die Moleküle und die Atome durch die Räume fluten, sich verbinden und wieder trennen und selbst wieder in Teile zerfallen, die umeinander kreisen. Alles bewegt sich: Das, was wir Strukturen nennen, bewegt sich nur langsamer als das, was wir Prozesse nennen: es gibt keine Erstarrung, nie etwas wirklich Statisches.

Was für die anorganische Welt gilt, stimmt umso offensichtlicher für die Welt des Organischen und Lebendigen. Für die Gestalttherapie stand immer das Wachstum im Vordergrund, einfach weil sie eine Therapie sein will, der es vor allem um die Weckung und Wiederbelebung verschütteter oder gehemmter Lebensressourcen geht. Wachstum aber bedeutet immer auch Vergehen: Jede Geburt führt zu einem Tod, jedem Wachstum folgt ein Schrumpfen.

Anders als beim Leben wissen wir allerdings nicht, ob die anorganische Welt Anfang und Ende kennt. Gab es etwas vor dem Urknall? Gibt es Paralleluniversen? Was ist Unendlichkeit? Wir wissen es nicht und unsere Vorstellungskraft versagt hier gegenüber den mathematisch formulierten Vermutungen. Das Leben dagegen hat immer Anfang und Ende. Geburt und Tod bestimmen das individuelle Leben. Aber auch als Ganzes beginnt das Leben an irgendeinem Zeitpunkt der Erdgeschichte und die meisten Gattungen von Lebewesen, die der Reichtum der Evolution hervorgebracht hat, nämlich 95 Prozent, sind schon wieder ausgestorben.

■ ›Alles fließt‹ heißt: Alles ist vergänglich. Die Tatsache, dass wir Menschen um unsere eigene Vergänglichkeit wissen, hat anthropologisch zwei Konsequenzen:

1. Dass der Mensch ein Sinn suchendes Lebewesen ist und

2. dass ihm die Zeit immer knapp und kostbar ist.

Das Tier lebt aus seiner Mitte heraus fest in seine Umwelt eingebunden; es kennt keinen Zeithorizont, sondern nur die Dauer der Gegenwart; sein Antrieb ist das Streben nach Überleben, sei es des Einzeltieres, sei es der Gattung; es weiß nichts von seiner Sterblichkeit – seine Todesangst ist eine Funktion seines Überlebenstriebs. Der Mensch aber weiß, dass er sterben wird und seine Todes angst ist die Angst vor der Auslöschung seiner Identität, seiner Persönlichkeit, seiner Unverwechselbarkeit.

Der Tod wirft dem Menschen Fragen auf: Warum ich? Warum überhaupt? Wozu dann überhaupt leben? Und wenn schon leben, was für ein Leben? Kann das Leben des Einzelnen zu einer Rechtfertigung oder einem Trost oder einer Einsicht führen, die einem die Tatsache des Todes erträglich macht? Kurz: Der Tod verlangt nach Sinngebung, nach einem Sinn des Lebens, denn diesen zu suchen, zwingt der Tod dem Leben auf, mit dem er untrennbar verbunden ist. Deshalb steht das Wissen um den Tod am Beginn jeder Kultur. Und deshalb auch kann es kein gutes Leben geben, ohne sich der Frage des Todes zu stellen.

Nicht dass es auf die Frage nach dem Sinn des Lebens jenseits rein subjektiver Lebensentwürfe eine Antwort geben könnte, die Objektivität beansprucht. Natürlich können religiöse Antworten sozial gestützt und institutionell verankert werden (so war es während des größten Teils der Geschichte), aber ihr absoluter Wahrheitsanspruch ist nach der Aufklärung unhaltbar geworden. Gestalttherapie setzt auch hier auf Erfahrung: Sie ist, wie Laura Perls sie definiert hat, »existential, experiential, experimental«. Das bedeutet in diesem Zusammenhang, dass jeder Mensch die Möglichkeit hat, an den Grenzen seiner eigenen Existenz Erfahrungen zu machen, die ihn zu Sinnentwürfen führen, welche ihm zumindest eine gewisse Gelassenheit gegenüber dem Tod ermöglichen. Die Verortung der eigenen Existenz im Kosmos gehört meines Erachtens auch zu den von Perls und Goodman so bezeichneten »Persönlichkeitsfunktionen des Selbst«, die zur Entfaltung zu bringen allerdings eine gewisse Reife verlangt (vgl. dazu auch Dreitzel 2004, 111/112 und Tabellen 6a und 7).

Das ist die eine Konsequenz unseres Wissens um den eigenen Tod. Die andere ist, dass unter dem Schatten des Endes alle Zeit immer knapp bemessen ist. Dass wir um dieses Ende wissen, nicht aber seinen Zeitpunkt, das macht das Problem der knappen Zeit zu einer Terminfrage. Alles Paktieren mit dem Teufel kreiste stets auch um den Termin des Ablaufs der Kontrakte, dem Zeitpunkt, zu dem der Preis fällig wurde. Schon der Lauf des Lebens selbst ist im Kleinen wie im Großen immer von Endpunkten geprägt, von der ständigen Frage: Wie viel Zeit bleibt mir noch? – bis ich zur Schule gehen muss, bis ich Geld verdienen muss, bis ich einen Lebensgefährten gefunden haben sollte, in der ich noch Kinder bekommen kann, um noch mein Werk zu vollenden, um noch etwas von der Welt zu sehen, um noch körperlich rüstig zu sein, um noch geistig beisammen zu sein (H. Weinrich, 2005).

■ Aus dem gestalttherapeutischen Modell der Kontaktwelle lässt sich lernen, dass es am Höhepunkt jedes Kontaktprozesses, wenn die Energie am größten ist, um das Loslassen aller absichtsvollen Ich-Funktionen des Selbst geht (vgl. vom Verf., 2004, Schaubild 1, auf der Innenseite des vorderen Umschlags). Geschieht das nicht, versucht man auch hier, die Kontrolle zu behalten, statt sich dem Fluss des Lebens hinzugeben. Dann kann es nicht zu einem sättigenden, erfüllenden Kontaktprozess kommen und es bleiben wichtige Bedürfnisse ganz oder teilweise unbefriedigt. Anders gesagt: Es kommt zu einem narzisstischen Prozess, in dem der Mensch sich in den Spiegelungen seiner selbst verfängt (vgl. Dreitzel 2004, Schaubild 15 und die Kommentare dazu).

Es lohnt sich, dieses Bild einer Welle auf die ganze Biografie eines einzelnen Menschen zu übertragen. Dann zeigt sich, dass es – beginnend mit dem energetischen Höhepunkt des Lebens im Alter von 45 bis 55 Jahren – darauf ankommt, vieles an Besitz, an Plänen, und an bisher gehegten Vorstellungen, Einstellungen und Gewohnheiten aufzugeben und sich dem Leben auf neue Weise anzuvertrauen und hinzugeben. Dass der Tiefpunkt an Lebenszufriedenheit heute in genau diese Lebenszeit fällt, hängt vielleicht damit zusammen, dass viele Menschen, die bis dahin mit den Normen und Zwängen der Leistungsgesellschaft zurechtkommen mussten, sich mit diesem Loslassen sehr schwer tun. Jedenfalls habe ich das in der therapeutischen Arbeit mit Menschen in dieser Lebensphase oft beobachtet und miterlebt.

Der Buddhismus lehrt uns, dass viel Unglück im Leben daraus entsteht, dass wir an Menschen, an Dingen, an Gewohnheiten und an Vorstellungen anhaften; dass wir uns von ihnen nicht lösen können, weil wir glauben, die Abenteuer des Lebens nur mit dieser persönlichen Beziehung oder mit dieser Ausrüstung bestehen zu können. Gewiss, nur wenige Menschen werden dann zu echten »Messies« (der englische Fachausdruck für diese Störung ist »compulsive hoarding syndrom«), die ihre Wohnungen mit angesammeltem Zeugs vollstopfen, bis sie sich nicht mehr in ihnen bewegen können. Schon sehr viel mehr Menschen aber haben zu viel unnötigen Besitz angehäuft, von dem sie sich nicht trennen können, und merken es erst, wenn die Umstände sie zwingen, ihre Wohnung zu wechseln. »Überhäufter Besitz besitzt den Besitzenden«, heißt es schon lakonisch im Tao Te King (Laotse, 2002). Aber am meisten ersticken Menschen sich selbst, weil sie sich nicht lösen können von zur emotionalen Gewohnheit gewordenen Bindungen, von eingefleischten Routinen und von Vorstellungen, die längst zu Vorurteilen geronnen sind.

Immer im Leben kommt es darauf an, mit leichtem Gepäck zu reisen – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn.

■ Dazu gehört last not least auch die Vorstellung von dem, was wir selbst sind, unsere Idee von unserer Selbst-Identität. Eine der bemerkenswertesten Lehren der Gestalttherapie enthält deren Begriff des Selbst als »Kontaktgrenze in Bewegung« (PHG 2006, Teil III Theorie des Selbst, vgl. auch M. Mehrgardt & E. M. Mehrgardt, 2001). Hier gibt es keine feste Identität, kein Ich als eine psychische Instanz und nicht einmal den Gedanken einer stabilen Persönlichkeit. Stattdessen wird das Selbst als der Inbegriff dessen verstanden, was wir in unseren jeweiligen Gegenwarten im unablässigen Kontakt mit der Umwelt jeweils erleben und erfahren. Alles fließt, sogar unser Selbst. Wir sind nicht das, was wir in unserer Vergangenheit waren, sogar dann nicht, wenn wir für diese Vergangenheit Verantwortung übernehmen. Stattdessen erfinden wir uns ständig neu, indem wir neue Erfahrungen machen, Neues dazu lernen und uns mit neuen Menschen und neuen Ideen identifizieren – und indem wir dann uns selbst und anderen unsere Geschichte neu erzählen. Wir sind ein Bündel von Kompetenzen und Selbst-Erzählungen, die nur zur Anwendung kommen, wenn sie gebraucht werden – wir sind frei!

Der psychisch gesunde Mensch hat nur wenig Charakter, wenn wir Charakter als die Summe unserer festgelegten Haltungen verstehen. Vielmehr besteht unser Charakter nur aus denjenigen Sedimenten früherer Erfahrungen, die wir nicht mehr aufzurühren wagen, und aus früheren »Introjekten«, die uns daran hindern, dem Leben offen gegenüber zu treten. Auch die Gehirnforschung bestätigt inzwischen: das Ich ist eine Illusion. Und »das Selbst ist kein Ding, sondern ein Vorgang« (so T. Metzinger, 2010). Michael Gazzaniga, ein anderer führender Gehirnforscher, kommt in seinem Buch »Die Ich-Illusion« (M. Gazzaniga, 2011) zu dem Schluss, »dass Hirnaktivität nicht irgendwo im Hirn stattfindet, sondern im Raum zwischen miteinander wechselwirkenden Gehirnen« (zitiert nach U. Babel und U. Schnabel, 2012). Dass entspricht der konstruktivistischen Grundthese der Gestalttherapie, nach der wir unsere Wirklichkeit im intersubjektiven Kontakt miteinander konstituieren (vgl. zu diesem Themenkomplex auch Teil III, 4).

 

Lassen wir also unser Leben fließen und vertrauen wir auf die Gaben unserer Umwelt sowie auf unsere eigenen Ressourcen.

4. Im Hier-und-Jetzt leben

Alle Erfahrung findet in der Gegenwart statt. Auf dieser Einsicht baut die Gestalttherapie auf: eine Therapieform, deren wichtigste Technik das Selbsterfahrungsexperiment ist, muss sich an das Hier-und-Jetzt der Erfahrung halten: Was erlebst du jetzt hier in dieser Gegenwart deines Lebens und an diesem Ort in deinem Umwelt/Mitwelt-Feld? Das ist die wiederkehrende Frage, deren hilfreiche Natur darin gründet, dass sie den Patienten zur Konzentration auf den einzig möglichen Erfahrungspunkt seiner Existenz in dieser Welt zwingt.

Das gilt auch für Erinnerungen an eine erfahrene Vergangenheit und für Fantasien über eine noch nicht erfahrene Zukunft – denn es sind genau diese Akte des Erinnerns und des Fantasierens, die es als Prozesse des kognitiven und emotionalen Erfahrens mit Gewahrsein zu erleben gilt. So nämlich erst wird die Bedeutung klar, welche die Erinnerungen und die Zukunftsfantasien für die jeweilige Gegenwart des Patienten haben. Sie sind in der Regel mit Gefühlen verbunden, die für die Träger von Bedeutung sind: Unsere Erinnerungen und unsere Zukunftsvorstellungen können die Gegenwart überschatten oder aufhellen, indem sie uns ängstigen oder ermutigen.

Normativ verstanden kann das Hier-und-Jetzt-Prinzip ein nützliches Mittel gegen beschwerende Anhaftungen sein und wird damit zu einer Strategie der Lebenskunst. Wir neigen dazu, uns an vergangene Umstände zu klammern und ihnen die Schuld zu geben, wenn es uns im Jetzt nicht gut geht. Oft suchen wir die Vergangenheit sogar ab auf der Suche nach den Schuldigen an unserer gegenwärtigen Misere. Und wir klammern uns an Sehnsuchtsbilder, deren Realisierung wir in eine ungreifbare Zukunft verlagern – dann brauchen wir uns nicht wirklich zu kümmern. Oder wir lähmen unsere Initiative unter der Last düsterer Zukunftsvisionen – dann versinken wir in einem Sumpf aus Sorge, statt zu handeln.

Allerdings darf das Hier-und-Jetzt-Prinzip nicht missbraucht werden, um sich aus der Verantwortung zu stehlen. Das wäre sowohl sachlich wie moralisch ein Missverständnis. Insofern ich gegenwärtig Handelnder bin, gestalte ich auch – in wie minimalem Umfang auch immer – die Zukunft meiner selbst und meiner Umwelt mit und bin in diesem Sinne für mein Tun und mein Lassen verantwortlich. Und ich trage auch Verantwortung für das von mir oder von jenen, mit denen ich mich identifiziere, verschuldete Unheil. Das ist so, obwohl meine biografische Identität eine Fiktion ist, eine Summe von Erzählungen eben, deren historische Stimmigkeit von vornherein fragwürdig ist, weil unser biografisches Gedächtnis mehr als löchrig ist (zum Stand der Forschung zum biografischen Gedächtnis vgl. H. Markovitsch, 2005). Aber darum geht es hier nicht, sondern um die Frage, mit wem und mit was ich mich in meiner jeweiligen Gegenwart identifiziere. Solche Identifikationen sind Persönlichkeitsfunktionen des Selbst, mit denen wir uns in unserer Lebenswelt kulturell und religiös, sozial und politisch verankern. Sie können sich natürlich im Laufe des Lebens ändern, aber zunächst müssen sie wie Beziehungen auf eine gewisse Dauerhaftigkeit angelegt sein, sonst kann man sich weder selbst auf sie berufen, noch können andere sich auf sie verlassen. Sie sind im Strom der Zeit wie Schwimmkissen, an denen wir uns für längere oder kürzere Zeit festhalten, und dadurch für andere auch kenntlich werden. Wenn ich die Auffassung vertrete, dass Deutschland eine besondere Verantwortung für den Holocaust trägt, dann bekenne ich mich nicht schuldig, sondern identifiziere mich mit einer Nationalgesellschaft, die historisch diese Ungeheuerlichkeit begangen hat, unabhängig davon, ob ich an der Tat beteiligt war oder auch nur hätte beteiligt sein können. Für wie lange das gilt, ist keine Frage der Geschichte, sondern dieser persönlichen Identifikation.

■ Bei der Berufung auf das Hier-und-Jetzt ist es wichtig, den richtigen Begriff von Gegenwart zu haben. Gegenwart ist nicht ein Punkt auf einer Geraden. Die Zeit als eine physikalische ist psychologisch irrelevant. Zeit ist eine Konstruktion des erlebenden Subjekts. Wir können sie nur phänomenologisch untersuchen als das, was unserem erlebenden Bewusstsein gegeben ist. Beobachten wir aber diesen Ort, unser Bewusstsein, stellt sich heraus, dass wir »Gegenwart« in unterschiedlicher Dauerhaftigkeit erleben bzw. dass wir in verschiedenen Gegenwarten leben. Fünf solcher Gegenwarten möchte ich hier unterscheiden:

4.1 Der Gegenwartsmoment der Gehirnforschung

4.2 Der Gegenwartsmoment der phänomenologischen Psychologie

4.3 Die Gegenwart der übergreifenden Kontaktprozesse

4.4 Die Gegenwart unserer biografischen Lebensabschnitte

4.5 Die Gegenwart historischer Epochenerfahrungen

Jede dieser Gegenwarten erleben wir spontan als Subjekte einer Zeiterfahrung, die jeweils ihre eigene Dauer hat. Es ist die Erfahrung des Andauerns, die konstitutiv für die Erfahrung von Gegenwart ist. Das heißt, dass wir die Zeit primär nicht als stets ablaufende, als einen ständig Zukunft in Vergangenheit transformierenden Fluss erleben, sondern in Gegenwartsabschnitten von kürzerer oder längerer Dauer. Gegenwartsbewusstsein heißt, dass ein zeitlicher Fortgang subjektiven Lebens, der im Bewusstsein auftaucht, als eine Gestalt erfahren wird, die in sich geschlossen ist oder zur Schließung drängt. Gegenwart wird also erlebt als eine Einheit, die sich gegen andere Einheiten abschließt, die entweder vorher oder nachher existieren oder die eingebettet sind in andere Gegenwartsgestalten. Meine Arbeit an diesem Buch zum Beispiel umfasst zahlreiche aufeinander folgende Kontaktprozesse, die aus minimalen zerebralen Augenblicken sowie aus erlebten Gegenwartsmomenten bestehen, und ist ihrerseits eingebettet in die biografische Phase meines jetzigen Lebens, das wiederum eingebettet ist in meine historische Epochenerfahrung.

Jede dieser Gegenwarten kann Gegenstand der Reflexion sein, eines Innehaltens, in dem der Blick auf den gerade vergangenen Gegenwartsmoment oder auf die eben noch andauernde Gegenwart eines Erlebnisabschnitts geworfen wird, in dem wir also Rechenschaft ablegen von dem, was da gerade gelaufen ist oder noch läuft. Diese Reflexionen haben ebenfalls die Struktur von Gegenwartsmomenten, sodass wir es offenbar mit diesen kleinsten Zeiteinheiten des erlebenden Bewusstseins zu tun haben, die einander rasch ablösen können: den nicht-reflexiven und den reflexiven. Beide können in unterschiedlichem Maße von einem Gewahrsein des Hier-und-Jetzt-Geschehens durchdrungen sein. Zur Lebenskunst gehört, sie einigermaßen im Gleichgewicht zu halten: Man kann als Gewohnheitsmensch oder als Tatmensch mit sehr wenig Be-Denken auskommen, und dann ein dumpfes, gleichgültiges oder ein leichtfertiges Leben führen. Und man kann zu viel reflektieren, sich ständig durch Gedanken und Bedenken von der Lebendigkeit des Lebens abschneiden.

In der Praxis der Gestalttherapie wurde die Betonung des Hier-und-Jetzt-Prinzips zumeist zur Konzentration auf das Gewahrsein des reflexionsfreien Erlebens eingesetzt, was vor allem bei dem späten F. Perls mit seiner schroffen Ablehnung des »Redens über« (»aboutism«), das er nur als Abwehr des eigentlichen Erlebens sah, bis zum Anti-Intellektualismus gehen konnte. Das war vor allem der Klientel geschuldet, mit der Perls es in seinen Lehr-Workshops zu tun hatte, überwiegend nämlich ausgebildete Psychoanalytiker und Psychiater mit einer Neigung zum akademischen Intellektualisieren.

Konzentration auf dieses reflexionsfreie Bewusstsein offenbart, dass das Bewusstsein sich in Form von Selbsterzählungen orientiert. Denn das Mitteilen dessen, was erlebt wird (oder eben wurde) geht bei aller Betonung der averbalen Kommunikation letztlich doch nur im Medium der Sprache. Diese Erzählungen sind außerordentlich wichtig für die Kunst des Lebens: Während überreflektierte Menschen Gefahr laufen, ihre senso-motorische und emotionale Erlebnisfähigkeit zu verlieren, drohen unreflektierte Menschen, die einfach »in den Tag hinein leben« oder die ständig lebensgierig auf der Suche danach sind, wo »etwas los« ist, bei inneren oder äußeren Krisen schnell einen starken Orientierungsverlust zu erleben. Sie verlieren sich dann leicht in den Wüsten von Depression oder Sucht. Dann erscheint ihnen auf einmal das Leben als sinnlos, weil ihr Leben keine Richtung kennt.

■ Gewiss können umgekehrt Krisen jeder Art auch Anstoß zur Reflexion, zur Besinnung, zum Innehalten geben. Aber es ist schwer, diesen Anstoß schöpferisch aufzunehmen, wenn man mit sich allein und überdies die Selbstbesinnung ungewohnt ist. Dass die Reflexion über sich selbst eine Erzählung ist, merkt man natürlich am ehesten, wenn man zu einem Gegenüber spricht, wenn es einen Zuhörer gibt, der lauschend und kommentierend den Resonanzboden abgibt, an dem wir uns selbst erkennen.

Selbsterkenntnis, davon ist gerade Gestalttherapie überzeugt, ist ein dialogischer Prozess, aber ein solcher, in dem es nicht um Auseinandersetzung, Standpunkte vertreten, Meinungen austauschen, also nicht um eine Debatten-Kultur geht, sondern um wechselseitiges Erzählen und Zuhören. Das hat nichts mit intellektuellem Zerreden zu tun: Solange die Erzählung konkret und im Fluss bleibt und sich an einen Zuhörer wendet, entspricht sie der Gestalt, von der sie handelt.

4.1 Der Gegenwartsmoment der Gehirnforschung

Am wenigstens Beachtung haben bis vor Kurzem die winzigen Augenblicke gefunden, in die sich unser Lebensfluss aufteilt und gliedert. Der Gehirnforscher Ernst Pöppel hat wohl als erster Naturwissenschaftler darüber geforscht, wie sich die Zeit im menschlichen Erleben anders darstellt als die Vorstellung eines linearen Zeitablaufs in der alten Physik es vorgab, in der es so etwas wie Gegenwart gar nicht gab: Ohne jeden Aufenthalt floss hier der Zeitstrom direkt aus der Zukunft in die Vergangenheit. Die Messungen und Experimente von Pöppel und anderen Hirnforschern haben gezeigt, dass das menschliche Gehirn das Wahrgenommene und Erlebte regelmäßig in zeitliche Einheiten von etwa drei Sekunden strukturiert. Pöppel hat unter anderem feststellen können,

– dass das Kurzzeitgedächtnis Eindrücke etwa drei Sekunden lang speichern kann, bevor diese ausgelöscht oder weiterverarbeitet werden;

– dass Gedankengänge in der Spontansprache drei Sekunden in Anspruch nehmen;

– dass Bewegungsabläufe wie sich kratzen, Hände schütteln u. v. a. im Drei-Sekunden-Takt ablaufen;

– dass weltweit Musikstücke so komponiert sind, dass ihre Motive drei Sekunden dauern;

– dass die Antizipation von sportlichen Bewegungsabläufen drei Sekunden braucht.

Zusammenfassend sagt Pöppel:

»Die subjektive Gegenwart eines Menschen dauert etwa drei Sekunden. Danach findet eine Art kurzer Aufmerksamkeitszäsur statt. Je nach Lebensbereich besteht diese in einer Pause beim Sprechen, einem neuen Takt in der Musik oder einem Zeilenwechsel bei Gedichten. Auch das Handgeben, der Augenaufschlag oder das Vorausdenken bei Bewegungen dauert etwa drei Sekunden. Dies korrespondiert mit dem Kurzzeitgedächtnis, hat aber noch eine andere Dimension. Denn wenn wir uns rhythmisch nach dem Takt des Gegenwartsfensters verhalten, können wir uns gut auf andere Menschen einstellen, gut denken und uns gut konzentrieren. Deswegen ist das Trainieren des Gegenwartsfensters wichtig /… / Dann ist im Alter auch das Gegenwartsfenster markanter ausgeprägt als in der Kindheit und Jugend. Das strukturierte Denken sowie das effektive Arbeiten und Lernen können damit immer besser werden (vgl. E. Pöppel & B. Wagner, 2010).

Man muss diesen Trainingsoptimismus nicht teilen, um die Entdeckung des Drei-Sekunden-Rhythmus zu schätzten. Sehr hilfreich im Alltagsleben ist auf jeden Fall die bekannte Stopp-Meditation, die uns auf diese aufeinander folgenden Drei-Sekunden-Gestalten in unserem Bewusstsein aufmerksam machen kann: Sage einfach stopp! zu dir (oder lasse es jemand anderen tun) und friere auf der Stelle alle Bewegungen und Tätigkeiten für 30 Sekunden, also zehn Drei-Sekunden-Sequenzen bzw. eine halbe Minute ein und beobachte einfach aufmerksam, was in deinem Bewusstsein abläuft!