Buch lesen: «J’accuse»
Wo warst Du?
Einstellen aller Fehden,
Befehl, Gewehr in Ruh!
Nun, Deutschland, frage jeden
Das eine: Wo warst du?
Hast du den Ruf vernommen
Vom heil’gen Deutschen Reich?
Bist du zurückgekommen,
Und kamst du alsogleich?
Uns hat ein Heimatkünden
Wie Schreckensruf gejagt,
Der Weg war schwer zu finden,
Wir haben ihn gewagt —
Und dann in Kerkermauern
Den falschen Weg gebüßt,
Doch ohne Reu und Trauern,
Weil wir es so gemüßt. —
Wag’ einer, uns zu schmälen,
Weh dem, der unser spott’!
Den Weg galt’s uns zu wählen,
Wohin er führte, Gott. —
Wir haben schwer gelitten,
Daß noch das Inn’re brennt,
So wie wir keinem Dritten
Zu leiden je gegönnt.
Eh’ wer uns höhnend stelle,
Ballt uns’re Faust sich zu:
Auf Widerfrag’, Geselle,
Sag’ an: Wo, wie warst du?
Château d’If
Es war eine klägliche Rolle, die mir im Weltkriege 1914 zufiel, ich hatte mir alles so anders gedacht, als ich auf den ersten Kriegsruf hin von Malaga nach Barcelona fuhr, mich zu stellen. Zweimal machte ich die Fahrt, war inzwischen auch in Valencia, um dort einen Weg nach der schwerbedrohten Heimat zu suchen. Die Würfel fielen ungleich. Während einige von uns mit gutem Glück nach Genua gelangten, wurden wir trotz der Zusicherung, die wir von der deutschen, französischen und spanischen Regierung erhielten, in Marseille gefangengenommen und zur Untätigkeit rettungslos verdammt. Wenn mir je ein Wort Goethes Trost gewesen, so war es in dieser trostlosen Zeit Fausts Mahnung an den Menschen: Er stehe fest und sehe hier sich um, dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm. Dieses weltumfassende Wort verkleinerte ich mir für meine augenblickliche Lage so: Nicht jedem ist es vergönnt, in so gewaltiger Zeit da zu stehen, wo der Tod oder das E. K. winkt. Auch andere Posten verteilt das eherne Kriegsgesetz, und wen es auf minderwertigen gestellt, von dem fordert es gleiche Hingabe wie vom Vorposten. Fest soll er stehen und sich umsehen, dem Tüchtigen weist auch geringe Stellung seine Aufgabe, und ein Zusammenarbeiten aller erfordert so ernste Zeit. So lernte ich mich bescheiden und gewöhnte mich daran, dem Kasernenton französischer Korporale zu gehorchen und die hämische Behandlung unserer Vorgesetzten zu ertragen, unter der wir mehr litten, als unter schlechter Behausung und Ernährung. Ich suchte meinen Anteil am Kriege zu gewinnen, so klein er sei, und es ist mir oft gelungen, nicht immer.
Was ich bringe, ist wahr, mag es auch romanhaft klingen. Alle Briefe sind authentische Kopien, mit Ausnahme der Briefe an meine Frau, welche nur meinem Bedürfnis Rechnung trugen, mich ihr mitzuteilen, die ebenso litt wie ich. Sie hätten natürlich in dieser Form die Zensur nie passiert. So mag das Buch von seelischen und körperlichen Leiden erzählen. Es bringt davon vielleicht mehr, als sonst Gefangene erduldet haben; es mag auch berichten von einer Auferstehung unserer selbst, die viele, nicht alle, feiern durften.
Da unsere Beglaubigungen, die der Sisterleute, in Bausch und Bogen gemacht sind, bringe ich diejenigen zur Veröffentlichung, mit welchen versehen zwei Herren, auf demselben Wege wie wir, drei Wochen später unser Schicksal zu teilen gezwungen wurden. Die beiden Herren, Herr Müller und Herr Weißschedel, trugen folgendes Schriftstück in spanischer und französischer Sprache und amtlich beglaubigt bei sich:
Staatsministerium: Als Resultat der vom Staatsministerium bei Empfang der Verbalnote der deutschen Gesandtschaft vom 24. August d. J. unternommenen Schritte, gibt die Regierung der französischen Republik die Zusicherung, daß die deutschen Untertanen – Nichtkombattanten – , welche, von Barcelona kommend, auf der Heimreise einen französischen Hafen berühren und mit einem Ausweis des deutschen Generalkonsulats, der vom Zivilgouverneur von Barcelona visiert ist, versehen sind, weder angehalten noch belästigt werden sollen. San Sebastian, 28. August 1914.
In den ersten Morgenstunden des 24. August fuhren wir auf dem spanischen Schiff „Sister“ an den Inseln „Château d’If“ und „Frioul“ vorüber in den Hafen von Marseille, von wo wir, nach kurzem Aufenthalt, nach Genua sollten. Die Gestalt der durch Dumas Grafen von Monte Christo, genugsam bekannten Insel in der fahlen Dämmerbeleuchtung reizte uns zur üblichen Unterhaltung. Wir ahnten nicht, wie tief wir in die Geheimnisse der sagenumsponnenen Ruine eindringen sollten. Aber der Anblick allein warf seine Schatten voraus. Es ging wie ein banges Ahnen durch unsere Reihen, und die frohe Stimmung des gestrigen Abends wollte nicht mehr aufkommen. Wir verloren an dem bedrückenden Morgen mehr und mehr die Zuversicht, und wie ein Alpdruck legte sich langsam die Erkenntnis unserer Lage auf uns. Nachmittags war es bestimmt: 72 Männer, also fast alle, gleichviel ob sie über 45 Jahre, ob sie Invaliden, Aerzte oder Priester waren, wurden zu Kriegsgefangenen der französischen Republik gemacht. Wehrlos mußten wir den Bajonetten der französischen Soldaten gehorchen, und nach einem kurzen und würdigen Abschied von den Unseren – ich reiste mit meiner Frau und meiner 16jährigen Tochter – wurden wir aufs Ponton kommandiert, von Bajonetten umschlossen, und fuhren, zuerst von dem erschütternden Jammern der Unseren, dann von dem Johlen und Kreischen der Marseiller Weiber: à bas! à bas! à la mer! à la mer! begleitet nach Château d’If. —
Wir langten etwa um 4½ Uhr nachmittags an der Landungsbrücke an, mußten unsere Koffer usw. bis nach oben zum Platze, der das eigentliche Château umgibt, tragen, dann kam die Revision des Gepäcks auf Waffen, Ferngläser und photographische Apparate, eine Untersuchung, die sich in der Zeit unserer Gefangenschaft noch bis zum Ueberdruß wiederholen sollte. Dann waren wir für einige Zeit uns selber überlassen. Wenn man mir mit einer Keule über den Kopf geschlagen hätte, mir wäre, glaube ich, nicht übler zumute gewesen, als diesen Nachmittag. Der Major, welcher uns auf dem Schiffe gefangennahm, hatte so freundlich meiner Frau versichert: „Seien Sie ganz unbesorgt, Ihr Herr Gemahl wird es gut haben, gutes Bett, gutes Essen, gerade wie zu Hause.“ Er hatte das so treuherzig versichert, und wir kannten damals die hämische Art unserer Quäler noch nicht. Nun standen mein Freund Moritz und ich vor den öden Mauern der Burgruine, durch deren vergitterte Fensterhöhlen die untergehende Sonne kümmerlichen Weg suchte. Wir sahen erstaunt einander an und unsere blöden Gesichter fragten: „Soll das die standesgemäße Unterkunft für uns bedeuten?“ Gegenüber vom Kastell lag ein Café für Sonntagsbesucher; der Preis für Erfrischungen war noch aufgeschrieben, aber die Wirtschaft war außer Betrieb gesetzt. Senkrecht dazu die Kantine, welche uns ihre Räume heimlich öffnete und uns, die wir den ganzen Tag nichts genossen, etwas Speise und Trank verabreichte. Vergebens spähte unser Auge nach einem kasernenartigen Gebäude, das uns wenigstens gefensterte Räume, die durch Türen zu schließen waren, geboten hätte. Man ließ uns keine Zeit zu solchen nichtswürdigen Betrachtungen. Château d’If öffnete sein Kerkertor, nachdem wir je 2 und 2 Mann mit einer Strohmatratze beladen waren, und schloß sich hinter uns. Wir suchten ermüdet Raum, wo wir ihn fanden, uns zu betten, und die kleinen Schlafgesellen, die wir von nun an nie mehr ganz entbehrten, hätten uns kaum erweckt, wenn nicht ein französischer Offizier diese Aufgabe übernommen hätte, wohl in der löblichen Absicht, uns daran zu gewöhnen, daß wir in Frankreich nicht auf Rosen gebettet seien. Wie einer nächtlichen Vision erinnere ich mich dieses Besuches. Das Geisterzimmer plötzlich blendend hell, durch Fackeln erleuchtet, blitzende Uniformen, grell leuchtende Bajonette, ein kurzer Befehl, vier Hände rissen eine Matratze mit rasender Geschwindigkeit an sich, deren schlaftrunkene Inhaber zu einem kunstvollen Saltomortale gezwungen wurden. Aufschlagen, wie von gebrochenen Leibern, Abmarsch der Sieger, leises Wimmern der Besiegten, tiefe Dunkelheit und Ruhe. – Wir hatten es eben ganz wie zu Hause. – Am nächsten Morgen erwachten wir beim ersten Grauen des Tages. Es lag eine bleierne Schwere auf uns, die in tiefem Schweigen Ausdruck fand. Was einer dem anderen mitzuteilen, was er ihn zu fragen hatte, das tat er in geheimnisvoll erwartendem Tone. Ich denke mir, so müssen die Gefangenen in der Bastille miteinander gesprochen haben, und es erinnert mich an die Darstellung von Hanneles Himmelfahrt im Schauspielhause, als beim toten Hannele die Leidtragenden vorüberdefilieren und sich ihre Beobachtungen mit Grabesstimme zuraunen. Die Sonne stieg höher und noch öffneten sich die Kerkertore nicht. So machten wir uns schnellere Bewegung, wie die Engländer auf dem Schiffsdeck, und die Szene wurde lebhafter. Wir konnten durchaus Anspruch darauf machen, mit den Gefangenen damaliger Zeit verglichen zu werden, denn unsere Gesellschaft war recht bunt zusammengesetzt und bestand zum großen Teil aus Geistlichen und Gelehrten. Wir zählten 10 geistliche Herren und 12 des Gelehrtenstandes unter 72. Außerdem Kaufleute, Farmer, gewesene Offiziere usw. Gleiches Leid führt leicht zusammen, und so begannen wir, uns einander zu nähern und die ersten Meinungen über das Schicksal auszutauschen, das uns bevorstand. Da stießen wunderbare Optimisten gegen ebenso gewaltige Pessimisten. Von der Freilassung heute, morgen, ging es sprungweise zum Kriegsgericht, zur Füsillade. Im Grunde konnte jeder recht haben, und das sollten wir später mehr und mehr einsehen, vielleicht gerade der, welcher am wenigsten logisch deduzierte, denn wir waren von heute an Gefangene im großen Frankreich, dem Lande der unbegrenzten Möglichkeiten. Ueber Denken und Erwägen richtet die Metze Fortuna. – Von 5 Uhr morgens bis 10 Uhr ist eine lange Zeit für den, welcher es nicht gewohnt ist, mit der Sonne sich zu erheben, und so schienen die Stunden unendlich langsam zu vergehen.
Um 10 Uhr begann unser Sträflingsleben. Wir wurden etwa eingekleidet, der Arzt erschien, ein freundlicher, grauer Herr, der nach geruhigem Familienleben und behaglichen Mahlzeiten aussah. Der Uniformrock stand ihm schlecht. Er trat uns mit Worten wohlwollend entgegen, sonst ging er weder im positiven noch im negativen Sinne über den Nullpunkt hinaus. Die ausgestreckte Zunge wurde meist recht gut befunden und blieb maßgebend für Lungen-, Leber-, Nieren- oder sonstige Leiden. Darüber hinaus erstreckte sich die Untersuchungskunst nicht, und nachdem er unsere Zuchthausfähigkeit im allgemeinen festgestellt hatte, enteilte der Brave froh getröstet zum heimischen Frühstück. Eine Ahnung sagte uns, daß wir doch wohl länger als die Optimisten hofften, beieinander bleiben dürften, und wir beschlossen, uns zu organisieren, um allen an uns herantretenden Fragen einig entgegentreten zu können. Und das war gut, es hat uns in Château d’If eine relativ selbständige Stellung gegeben, die wir später nie mehr gekannt haben. Auf den Vorschlag der Patres wurde ich zum Präsidenten gewählt und auf meinen Vorschlag die Herren Dr. theol. Franz Beyer, der Grazer Kanzelredner, und Leutnant a. D. Kurt Schmidt aus Las Palmas als Beisitzer. Als unser Dolmetscher wurde Herr Peter Klein aus Saarburg-Lothringen gewählt, ein Herr, der aus französischer Abstammung im Herzen französisch war, dem aber meine Gefährten und ich das Zeugnis ausstellen können, daß er, solange er an unserer Seite wirkte, uns ein treuer und ehrlicher Kamerad gewesen ist. Ich betone das schon hier, weil er leider zu den ganz wenigen Ausnahmen in unseren schweren Erfahrungen gehört, die wir auf diesem Gebiet gesammelt haben. Und da ich von lobenswerten Ausnahmen spreche und unsere Leidenszeit daran so jämmerlich arm war, so will ich gleich hier unseres aufsichtführenden Sergeanten gedenken. Er war ein Mann aus einfachem Stande, von ehrlicher und vornehmer Denkungsart, von ernstem Wohlwollen gegen uns, die wir ihm unterstellt waren. Wir haben ihn als einzigen Vorgesetzten kennengelernt, den wir voll und ganz achten konnten. Ganz besonders hoch sei es ihm angerechnet, daß er deutsche Patrioten höher schätzte als deutsche Verräter und demgemäß handelte. Er ist der einzige dieser Kategorie geblieben. – Wir hatten Muße genug, unser Gefängnis von außen und innen zu betrachten, da wir zwei Stunden auf dem Platze spazierengehen durften, wo wir zugleich unsere erste Atzung: Kohlsuppe, Brot und ein Stück Wurst, erhielten. Der Hunger suggerierte uns ein köstliches Mahl, und wir äußerten uns gegenseitig sehr befriedigt über die schmackhafte Kohlsuppe. Dann ging’s in geordnetem Zuge zurück über die Brücke, zu zwei und zwei geordnet, um besser gezählt zu werden, was selten beim ersten Male ganz gelang. Die Pforte schloß sich knarrend hinter uns, und als ich sie sinnend von innen betrachtete, fiel mir zum ersten Male die große Inschrift auf dem Torbogen auf: Hotel du peuple souverain. Nun wußte ich, wo ich geborgen war. Nichts ist mir im Leben so zuwider gewesen, wie der souveräne Pöbel, von dessen Herrschaft Château d’If so prächtig Zeugnis ablegt. Dessen Zwangsgast also war ich geworden. – Wenden wir uns vom Eingang nach rechts, so stoßen wir auf ein großes Tor, welches in einen weiten und wüsten Raum führt, der uns einen geradezu unheimlichen Eindruck machte. Die Wände waren feucht und modrig, Gestank erfüllte die Luft, der Fußboden bestand aus trockenem und feuchtem Lehm, Staub, Abfällen von Lumpen und Kot. Dieser Raum erschien uns, so sehr wir unsere Ansprüche auf das Mindestmaß herabgesetzt hatten, kaum für Hunde bewohnbar.
Dieses Gefängnis sollte in kurzem Grund zu einer tragikomischen Szene geben, und Grauen sollte ihm folgen. Der innere Längsraum verlängerte sich noch zu einem Querraum, dieser stieß – verbunden durch eine Tür – an den durch Dumas berühmt gewordenen Danteschen Kerker.
Ob Dumas aus reiner Phantasie geschöpft hat, weiß ich nicht, einiges scheint wahr zu sein, oder wird heute noch geglaubt. Die Verbindung zwischen dem Kerker Edmond Dantes, des künftigen Grafen von Monte Christo, und dem des Abbé Faria durch ein ziemlich bedeutendes Mauerloch besteht noch. Wir haben sie des öfteren und genau beleuchtet. Fürwahr, genug Elend ist geschichtlich wie sagenhaft in den wenigen Räumen aufgespeichert, und man darf sich nicht wundern, wenn unseren erregten Sinnen sich manche der bleichen Gestalten belebten. Wußten wir, was Frankreich mit uns vorhatte?
Aber der obere Raum bietet der Phantasie noch größeren Spielraum, und der war uns vorläufig als Wohnraum bestimmt. Eine Treppe führt vom unteren Brunnenhof auf die obere Galerie, welche die dort befindlichen Kerkerräume verbindet. Wenden wir uns von der Treppe gleich nach links, so kommen wir zum Kerker des Abbé Peretti, welches nun unseren Priestern Wohnung bieten sollte.
Dann folgte das Zimmer der eisernen Maske, die wieder Dumas zu einem Roman gereizt hat. Die Inschrift des Nebenraumes lautet: Kerker Louis Philipps von Orleans, genannt Philipp Egalité! Dann kam die Zelle, die mir für die nächste Zeit Herberge gewähren sollte, und die wenigstens insofern bevorzugt war, als in sie, wie die Inschrift besagte, ein Glücklicher seinen Einzug gehalten hatte: In diesem Raum wurde der einbalsamierte Leichnam des Generals Kleber nach seiner Ueberführung aus Aegypten im Jahre 1806 aufgebahrt. Die Beisetzungsfeierlichkeiten haben in seiner Vaterstadt Straßburg stattgefunden. Es war das einer der angenehmsten Räume. Ein weiteres Zimmer war der Kerker des Verräters Prinzen Casimir, Bruder des Königs von Polen, Ladislaus XVII., der sich gegen Frankreich mit den Spaniern verbündete. Mir ist das Zimmer des Verräters später das behaglichste geworden, das ich in Château d’If fand, soweit von Behaglichkeit auch nur annähernd die Rede sein kann. Dem folgten die finsteren und geheimnisvolleren Räume. Es blieb noch ein letzter trostloser Raum, oder vielmehr waren es ihrer zwei, klein, abgeschlossen von allem, was Leben in dieser Ruine heißen durfte. Einer stockfinster, der andere, daran grenzend, halbfinster. Es knüpft sich auch an diesen Raum eine humoristische Erinnerung. Als wir aus unseren Zellen einige Wochen nach unserer ersten Besitznahme vertrieben waren, suchten Schmidt, Moritz, Bonitz und ich einen Raum, wo wir uns vor der Unmenge von Ungeziefer und Unrat wehren konnten, und fanden endlich diesen. Wir waren schon glücklich, ihn gemeinsam und eng geschlossen bewohnen zu dürfen, nachdem wir die nötigsten Ausbesserungen selber besorgt hatten, und baten unseren braven Sergeanten Bonel um die Erlaubnis, ihn uns anzuweisen, die er aber streng verweigerte, wohl weil höherer Befehl ihm verboten hatte, so kostbare Wohnräume an uns abzugeben. Um unsere Bescheidenheit zu beweisen, bringe ich hier die Inschrift, die über diesen beiden Dunkelräumen prangte, die uns so begehrenswert erschienen: Gefängnis der zum Tode Verurteilten. Der brave Sergeant hatte auch Humor bewahrt, denn gleich darauf überließ er uns das immerhin bessere Casimirgefängnis. Die Wendeltreppe führte weiter hinauf zum Mauggouvertturm mit flachem Dache, der einen wunderbaren Ausblick auf Marseille, Frioul und das offene Meer bot, leider aber die unangenehme Eigenschaft hatte, daß die köstlich reine Meerluft durch Abortdünste stark gefälscht wurde. Oben befand sich noch ein großer runder geschlossener Kuppelraum, in dem später neue Gefangene einquartiert wurden. Unten im Erdgeschoß war der große Ziehbrunnen, welcher uns hygienisch noch viel zu schaffen machen sollte. Weiter bot das Château noch drei große Räume, welche nicht von der Hauptpforte zugängig waren und eigene Türen nach draußen hatten: Es waren das zwei beiderseits gleichliegende und gleich große Kuppelräume im Erdgeschoß, deren einer uns bald als Hospital diente und ein dritter, der Donjon, in welchem die Hinrichtungen vollzogen wurden. Wenn nun auch durch die Freundlichkeit unseres Sergeanten schon am nächsten Tage Wandel geschaffen wurde in unserer Freiheitsbeschränkung, und unsere Lage sich in dieser Beziehung von Tag zu Tag besserte, so war doch unsere Ernährung ganz minderwertig und entsprach nicht im entferntesten dem, was wir gewohnt waren. Wir litten bald durch eine Unterernährung beträchtlich, die wir im Anfang für gering achteten, als unser Körper noch genug Widerstand bot. Wir Sisterleute waren zum größten Teil aus gesellschaftlichen Klassen, die an ein gewisses Wohlleben, und sei es in einfachsten Grenzen, gewöhnt waren. Was uns jetzt geboten war, stand in Quantität und Qualität weit unter dem, was der Körper forderte. Der täglichen Kohlsuppe wurden wir zum Speien überdrüssig, und als Zugabe immer ein Stück fetter und harter Knoblauchwurst verbesserte die Verdauung nicht. Ich fing bald an, meine Kameraden auf das eindringlichste zu warnen, ja nicht einer gewissen heroischen Energie das Wort zu sprechen, sondern sich klarzumachen, wie wichtig die Pflege des Leibes sei, und wie schwere Folgen eine Vernachlässigung haben könnte. Daß ich recht hatte, erwies sich später. So mußten wir uns Extrasachen kaufen. Zuerst den Morgenkaffee, den wir nicht geliefert bekamen, dann anderes. Aber auch mit dem Kaufen war es eine eigene Sache: wir waren von der Seite unserer Familie gerissen und hatten denen von dem knappen Gelde, das wir meist auf der Heimreise bei uns führten, geben müssen. So war unsere Barschaft gering, außer bei einigen wenigen, und wir wußten nicht, woher Geld nehmen. Es war vor allem das „Wie“ des Geldsendens, welches uns Sorge machte; dazu kam, daß kaum einer Franken bei sich führte, sondern Lire, Pesetas und Mark. Wie wechseln auf dieser Insel und bei wem? Freilich boten sich bald genug Gemütsmenschen an, die dieses Geschäft aus lauter Menschenfreundlichkeit auf sich nahmen; aber die Augen gingen uns über bei solchem Tausch, zu dem wir bald gezwungen waren.
Also unser offizielles Essen, bestand morgens um 10 Uhr aus Suppe und Brot, dazu ein Stück Wurst oder Käse, abends 4½ Uhr Suppe; das war alles. Jeden zweiten Tag ein Stückchen Fleisch dazu. Die Suppe war, wie gesagt, fast immer eine reichlich wässerige Kohlsuppe, ohne anderen Inhalt; Bohnen oder Linsen gab es nicht oft. Einer solchen Leibespflege waren wir nicht gewachsen. Nun hält der Mensch viel aus, aber nicht auf die Dauer, und wenn wir noch anfangs uns aufrechterhielten, das blieb nicht lange so. Wir mußten Wandel schaffen, und damit begann unsere Organisation. Dieses unselige System, die Verpflegung der Gefangenen an den Meistbietenden zu vermieten, wie das in Château d’If und in Frioul geschehen war, muß natürlich zum Nachteil der Gefangenen ausschlagen. Wir wurden vom Unternehmer schamlos ausgehungert und konnten ihm nachrechnen, daß er für die Beköstigung des einzelnen – der für 8 °Cts. Nahrung zu fordern hatte – höchstens die Hälfte bezahlte. Was half es uns, wenn auf dauernde Beschwerden, deren Berechtigung eine Nachprüfung ergab, der erste seines Amtes entsetzt und ein zweiter eingesetzt wurde? Zwei Tage ging es, und dann war es gerade wie vorher. Wir wandten uns also an unseren ersten Retter in der Not, eine Frau, welche die Kantine unter sich hatte, eine dicke, rundliche, freundliche und tüchtige Frau, welche mit gewisser Gutmütigkeit von nun an für uns sorgte, nie ohne reichlichen Gewinn (Wein mit 100 Proz. Aufschlag mindestens), aber doch zu unserer Zufriedenheit. Wir sind später weit mehr und in weniger freundlicher Art geschröpft worden. Die gute Frau hatte auch einige, die sie besonders bevorzugte, zu denen ich mich rechnete. Sie gab mir stets den Ehrentitel „monsieur le président“, und es gelang mir bald, in meinem kümmerlichsten Französisch mich mit ihr zu verständigen. So richteten wir denn ein tägliches Extragericht ein, das etwa 30–4 °Cts. pro Teller kostete und auf Vorbestellung hin ausgehändigt wurde. Es handelte sich um einfache und nahrhafte Gerichte, und da die Frau außerdem für gute Schinkenstullen, Käse und Eier sorgte, so war der augenblicklichen Not einigermaßen gesteuert. Leider waren unter uns einige, die die Not zwang, sich alle Extrakost zu versagen. Denen zu helfen, fanden wir allmählich Wege. Schlimmer bestellt war es um andere, welche ihrer Widerstandsfähigkeit zu viel zutrauten, denen war nicht zu helfen. Aber die meisten kehrten bald von selber geängstigt um, bei zweien war es zu spät gewesen.
Da die Geldfrage prekär war, so wurde es auch den meisten unmöglich gemacht, sich ein einigermaßen annehmbares Lager zu verschaffen. Geliefert wurden uns nur Strohmatratzen, und zwar in unserem Zimmer 4 für 11 Mann. Sie wurden zusammengelegt, und nun hatte jeder selber dafür zu sorgen, daß er sich zwischen eng zusammengekeilte menschliche Körper einzwängte. In unserem Zimmer – man verzeihe es einer kindlichen Gewohnheit aus früheren Zeiten, wenn ich Räume, die uns zwangsweise als Wohn- und Schlafräume zugewiesen wurden, euphemistisch mit dem Worte Zimmer bezeichne, derlei sprachliche Ungezogenheiten laufen dem Neuling so leicht durch, der sich noch nicht zum Verbrecherjargon durchgearbeitet hat – also in unserem Zimmer gab es einige Begüterte, welche sich den Luxus eigener Matratzen schon in den ersten Tagen gönnten. Dadurch wurde uns anderen der relative Luxus zuteil, daß wir das übriggebliebene Material in Anspruch nehmen und uns zu zweit auf einer Matratze breitmachen durften. Decken, Kissen usw. erhielten wir als durchaus entbehrlich nicht und suchten aus den Koffern vorerst das notwendige Ersatzmaterial. Mein Freund Bonitz aus Málaga und ich einigten uns nun zu ständigem gemeinsamen Besitze einer Matratze, die wir später, als unsere Finanzen stiegen, durch eine ganz neue eigene ersetzten. Auf dieser einen Matratze haben wir beide fünf Monate lang geschlafen und uns so aneinandergewöhnt, daß wir eine körperliche Beschränkung kaum mehr empfanden. Ich entsinne mich nicht eines Streites, den wir wegen Raummangels gehabt hätten. Wir waren bescheiden geworden, und andere Sorgen quälten uns weit einschneidender bald so schwer, daß Bequemlichkeit nicht mehr gegen seelische Leiden in Frage trat. Unsere Unterkunft entsprach auch sonst nicht dem „Ganz-wie-zu-Hause“, das merkten wir an den von nun an ständigen Begleitern, die in veränderter Gestalt grimmige Gewalt übten, und die wir schon nicht mehr entbehrten, wenn sie gleich kalt und frech uns selbst verhöhnten. Hier in Château d’If traten sie vorwiegend in Gestalt der Skorpione und Flöhe auf. Die letzteren behandelten wir von Anfang an mit souveräner Verachtung, den ersteren hatten wir mehr Aufmerksamkeit zuzuwenden, etwa täglich wurde Jagd auf sie gemacht und täglich einige Exemplare gefunden. Sie dienten auch zur Beschäftigung der schwindligen Gemüter. Wie oft haben wir sie zu dem sagenhaften Skorpionenselbstmord in Feuerumzingelung treiben wollen. Gelungen ist es uns nie. – Von uns hat auch keiner Selbstmord begangen! —
So verteilten wir mit dem Sergeanten Bonel die verschiedenen Räume. Er überließ uns derartige Bestimmungen bald allein, da er sah, daß unsere Selbstverwaltung sehr gut funktionierte. Der zweite Punkt, auf den wir unser Augenmerk richteten, war die Hygiene des Körpers. Zuerst die Wasserfrage. Ein tiefer Ziehbrunnen stand in der Mitte des Kastellhofes. Es wurde uns zwar von dem Arzt versichert, das Wasser sei gut, aber wir sind doch recht vorsichtig damit gewesen, besonders, da uns einmal der furchtbare Verdacht aufstieg, der sich glücklicherweise als grundlos herausstellte, die Bedürfnisanstalten des oberen Stockes hätten in ihrem Abfluß auch einen Weg zum Brunnen gefunden. Um aber einer Verunreinigung des Brunnens durch falschen Gebrauch vorzubeugen, wurden strenge Weisungen gegeben, und eine Wache hatte den Wasserausschank nach ärztlicher Verordnung zu überwachen. So entstanden die ersten Gesetze in unserer Republik Château d’If, auf die ich sämtliche Mitgefangene durch Handschlag feierlich verpflichtete.
Da alles im Leben Geld kostet, auch Reinlichkeit und Ordnung, und da kein Staat ohne Finanzen regiert werden kann, so wurde eine Sammlung veranstaltet, die über 100 Fr. ergab, und Schmidt stieg auf zum Finanzminister. Das Geld hat sich stetig durch neue Spenden vermehrt und ist später sehr segensreich geworden. Die Körperreinlichkeit wurde dadurch ermöglicht, daß das Waschen im Freien und in Gruppen zu sechs Mann eingerichtet wurde. Die Erlaubnis zum Baden im Meere bekamen wir leider damals nicht. Ein anderes Erfordernis trat an uns, die Gedanken aus dem täglich sich mehrenden Elend auf etwas Besseres abzulenken. So begannen wir, uns abends auf der Galerie zu vereinen, sangen zuerst einige Volkslieder und hielten bald auch Vorträge. Einer der eifrigsten Förderer solcher Bestrebungen war Dr. Beyer, der mit seiner klangvollen Stimme uns Loewesche Balladen und Arien oft weihevoll vortrug. Er hat auch später durch seine Predigten und Ansprachen sich große Verdienste um uns erworben, und manch einen, auch mich, verband bald eine herzliche Freundschaft mit ihm, die, so schwerer Leidenszeit entsprungen, hoffentlich desto fester hält. Ich werde den tief sentimentalen Eindruck nicht vergessen, den solche Abende auf uns machten. Es war die Zeit des Vollmondes, und wenn der in das kahle Gemäuer unheimlich strahlte, und wir Gefangenen unter französischen Bajonetten mit halb unterdrückter Stimme heimatliche Lieder sangen, so trieb die Wehmut manch einem von uns die Tränen in die Augen. Ich habe nie in so stimmungsvoller Umgebung Bürgers „Leonore“ und Goethes „Totentanz“ vorgetragen, und eigenartig paßte es auch in die Umgebung, als Schmidt und ich dort die ersten Akte „Faust“ rezitierten. Bei schlechtem Wetter hatten wir den Hintersaal „Eiserne Mark“ für Vorträge und für den Gottesdienst eingerichtet und denken gern der herzlichen Worte, die zu uns, gleichviel welchen Glaubens, von katholischen Geistlichen Sonntags gesprochen wurden.
Doch auch die Lust an Vorträgen und Unterhaltungen ließ bald nach, als ein Gespenst, zuerst in unseren Reihen kaum merkbar, dann aber mehr und mehr sichtbar, sich eingeschlichen hatte, das wir nie mehr ganz von uns abschütteln sollten, das Gespenst des Kleinmuts, der Verzweiflung. Wie manchen von uns hat es die ganze Zeit der Gefangenschaft so fest umkrallt gehalten, daß er die Folgen bis an sein Ende spüren wird! Gepackt hat es jeden von uns, und jeder von uns hat eine Zeit durchgemacht, da er wie ein Schwerkranker sich von der Gesellschaft ausschloß und den bittersten Gedanken nachgrübelte. Ich weiß von manch einem, und es war durchaus nicht immer ein Weichling, der sich nachts die Decke über den Kopf zog und bitterlich weinte. Das war nicht Schwäche, das war Scham vor sich selber. In Château d’If waren es noch wenige, in Frioul mehrte sich die Zahl, und in Casabianda griff die geistige Ansteckung erschreckend um sich, und in jener Zeit, da wir unsere Kameraden an Dysenterie und Typhus verloren, da die Fluchtversuche mißglückten und auf das härteste bestraft wurden, hatte das Gespenst gewonnenes Spiel. Nur langsam richtete den einen oder den anderen wieder der kategorische Imperativ auf: Du darfst nicht in Feindesland kläglich erliegen! – Daß keiner von uns durch Selbstmord fiel, betrachte ich noch heute als große Genugtuung. Wie nahe hat manch einer von uns vor solcher Lösung gestanden. Was diesen Kleinmut erhöhte, war die ewige Sehnsucht nach Freiheit, die täglich wiederkehrende Hoffnung, sie stünde uns nahe bevor, und die täglich wiederkehrende Enttäuschung. Wer von uns gedenkt nicht der Sistermontage, der festen Hoffnungen, die sich an das montägliche Wiedererscheinen dieses verdammten Fahrzeuges geknüpft hatten. Es war wie eine fixe Idee in uns, die Sister, die uns so heimtückisch ins Gefängnis geführt, müsse uns die Freiheit wiederbringen. Und unsere braven Kommissäre, denen wir trotz ihrer Verlogenheit immer wieder trauten, bestärkten uns hämisch in diesem Glauben. Wie oft mögen sich die Braven ins Fäustchen gelacht haben, wenn sie uns wieder einmal zum Narren gehalten hatten! – Ich darf mich wohl zu denen rechnen, die eigene Energie aufrechterhalten hat, wenngleich ich die Tage und Stunden der Verzweiflung durchmachte, wie jeder von uns, der etwas zu verlieren und etwas zu wünschen hatte. Als die Aussicht, freizukommen, immer weiter entschwand, entschloß ich mich, den Franzosen meine ärztlichen Dienste anzubieten, wenn sie mich in ein Lager schicken wollten, in welchem ich verwundete Deutsche behandeln könnte. Ich war naiv genug, zu glauben, daß mir die Bitte erfüllt werden könnte. Mein Gesuch wurde aber zweimal abgeschlagen und mir bedeutet, daß es ganz aussichtslos sei, wenn ich ein offizielles Gesuch an das Kriegsministerium richten würde. Es wären auch zu viele Bedingungen, die ich absolut stellen mußte, ein Hindernis gewesen. Doch hat meine an Ereignissen so reiche Gefangenschaft auch eine Periode gekannt, die mich offiziell zum Medizinmajor in Vertretung beförderte, die freilich, wie ich später berichten werde, mit traurigem Eklat endete.