Vier Bilder von Jesus

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Während einige Elemente solcher Biographien sich für den Vergleich mit den Evangelien durchaus anbieten, ist die Identifikation eher schwierig. Zum einen wird Jesus nicht als Philosoph beschrieben, zum anderen verstanden sich die Gemeinden der Evangelien wohl nicht als philosophische Schulen. Während die Evangelien eine Lehre Jesu beschreiben und sie auch für autoritativ erklären, liegt ihr Hauptaugenmerk auf der Person Jesu als Sohn Gottes, Erlöser, als Herr und als Gott. Erst die Person macht auch seine Lehre verbindlich. Das Bekenntnis des Thomas in Joh 20,28 macht dies mehr als deutlich.

Der Fokus auf die Person Jesu wird im Umgang mit seinem Tod greifbar. Die Evangelien mühen sich offensichtlich um eine Sprache, die dem Tod Jesu als einer Art Zeitenwende gerecht wird. Markus tut dies mit der Sprache vom Lösegeld (Mk 10,45); Matthäus sieht im Tod Jesu das endgültige Opfer, das die Sünde vergibt (Mt 26,28); Lukas löst das Problem erzählerisch, indem er den Tod Jesu zum Mittelpunkt seines Geschichtswerkes macht, dessen erster Teil das Evangelium mit der Geschichte Jesu ist, der zweite Teil die Apostelgeschichte mit der Geschichte der frühen Kirche. Johannes spricht von einem Lamm, das die Sünde der Welt hinwegnimmt (Joh 1,29) und so Gottes Herrlichkeit offenbart (Joh 17,1–4).

Mit diesem Akzent auf der Person Jesu wird der Vergleich mit antiken Biographien jedoch schal. Während die Evangelien durchaus mit antiken Biographien vergleichbar sind, was die Art der Sammlung und Präsentation von Anekdoten angeht, setzen sie sich doch inhaltlich weit von ihnen ab. Man kann also mit Fug und Recht behaupten, dass mit den Evangelien eine neue Literaturgattung in Erscheinung tritt.

D. Evangelien als Verkündigung in erzählender Form

Evangelium bedeutet zunächst einfach „frohe Botschaft“. Damit wurde in frühester Zeit zunächst die Predigt Jesu von der Herrschaft Gottes bezeichnet. Der Aufruf „Glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,15) drückt genau dies aus. Paulus predigte das Evangelium Gottes, das er dann auch das Evangelium von Christus nennt (Röm 1,1–3). Hier wird deutlich, dass in früher christlicher Predigt nicht nur die von Jesus verkündete Botschaft Evangelium ist, sondern dass Jesus selbst nun zum Inhalt des Evangeliums wird (vgl. 1 Kor 15,1–8). Bei Paulus schließt dies noch keine Berichte über die Taten Jesu mit ein. Für ihn werden lediglich Tod und Auferstehung Jesu Teil des Evangeliums Gottes, das nun auch von Jesus handelt. Möglicherweise findet sich in Apg 10,34–43 eine frühe Predigt, die diese Botschaft von der Zusammengehörigkeit von Gottes Handeln und Jesu Passion und Auferstehung belegt.

Wiederum im Markusevangelium findet sich eine weitere Entwicklung, wenn davon erzählt wird, dass die Frau, die Jesus für sein Begräbnis salbte, Teil des Evangeliums wird, das in der ganzen Welt verkündet wird (Mk 14,9). Das Markusevangelium ist Beleg dafür, wie der Evangeliumsbegriff erweitert wird. Zu der Botschaft Gottes und dem Tod und der Auferstehung Jesu treten nun auch Berichte über Ereignisse im Leben Jesu hinzu.

Damit war der Weg geebnet für die Bezeichnung auch der Schriften, die von diesen Ereignissen um Jesus berichteten. Womöglich ist Mk 1,1 das erste Beispiel für den Gebrauch von „Evangelium“ für das schriftliche Dokument. In der Mitte des 2. Jahrhunderts benutzte Justin der Märtyrer in seiner um 155 geschriebenen Apologie zum ersten Mal den Begriff mit eindeutigem Bezug auf die vier Evangelien. Der Kirchenvater Papias von Hierapolis wusste von dieser Bezeichnung zu Beginn des 2. Jahrhunderts noch nicht.

Dieser kurze Überblick über die Begriffsentwicklung zeigt, dass in der Bezeichnung „Evangelium“ für die vier ersten Schriften des Neuen Testaments der Verkündigungsgedanke grundlegend ist. Erst als Jesus selbst zum Objekt der Verkündigung wurde, konnte der Begriff auch für die entsprechenden Schriften benutzt werden. Damit sind aber die Evangelien in ihrer jetzigen Gestalt Verkündigung in erzählerischer Form. Selbst wenn sie gelegentlich wie antike Biographien aussehen oder modernen Leserinnen und Lesern wie historische Romane erscheinen mögen, liegt ihnen doch eine religiöse Aussageabsicht zugrunde, die von Gottes Herrschaft und Jesus als Gottes Sohn künden will.

E. Evangelien: Antike Texte mit religiösem Anspruch

Heute gibt es in der Interpretation der Evangelien zwei Extreme. Es besteht einerseits die Gefahr, dass die Evangelien in einer angeblich akademischen Objektivität den Methoden der historischen, literarischen und kulturhistorischen Forschung unterzogen werden und die Texte damit zu Beispielen antiker Literatur werden, die zwar interessant sein mögen, aber auch nicht interessanter als die Biographien eines Diogenes Laërtius. Dabei geht verloren, warum diese Texte überhaupt entstanden sind.

Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass die Texte in ihrem religiösen Anspruch so ernst genommen werden, dass sich eine objektive Untersuchung anhand von wissenschaftlichen Methoden verbietet, weil sie „Gottes Wort“ sind und somit jenseits jeder kritischen Anfrage von wissenschaftlicher Seite stehen.

In beiden Fällen handelt es sich um Extreme, die entweder in wissenschaftlichem oder religiösem Fundamentalismus münden. Eine ausgewogene und verantwortbare Interpretation nimmt wahr, dass es sich um Texte mit einem religiösen Anspruch handelt. Aber es handelt sich eben auch um Texte, die in einer bestimmten Zeit unter bestimmten historischen, kulturellen und sozialen Umständen entstanden sind. Sie verfolgen ihre religiösen Zwecke mit der Form der Erzählung, und so muss auch die Form Teil der Interpretation bleiben.

Wenn das Johannesevangelium zu Beginn konstatiert, dass das Wort Fleisch geworden ist (Joh 1,14), so will es ausdrücken, dass der eingeborene Sohn Gottes, der mit Gott eins ist, Mensch geworden ist. Man kann dies auch auf den Anspruch der Evangelien anwenden. Wenn die Evangelien, wie Christen bekennen, Teil des Wortes Gottes sind, so sind sie doch Fleisch geworden in Texten des ersten nachchristlichen Jahrhunderts, in einer historisch und kulturell geprägten Zeit, die von unserer verschieden ist. Es lässt sich also von den historischen Umständen nicht abstrahieren, will man dieses Wort als Gottes Wort auch verstehen. Andererseits wird ein lediglich historischer Ansatz die Faszination der Evangelien nicht begreifen können.

Man mag sich dem religiösen Anspruch der Texte verschließen oder ihn ablehnen oder annehmen. Doch wie immer die Reaktion ausfallen mag, wirkliches Verständnis für diese Texte stellt sich erst ein, wenn man ihren Anspruch ernst nimmt: Die Texte wollen verkündigen und bekehren.

F. Literatur zur Vertiefung

Zur Geschichte der Bibelwissenschaften finden sich Hinweise in vielen Einleitungen. Empfehlenswert sind: Udo Schnelle: Einleitung in das Neue Testament (6. Auflage, Tübingen 2007); Martin Ebner – Stefan Schreiber (Hg.): Einleitung in das Neue Testament (2. Auflage, Stuttgart 2008).

Zur Umwelt des frühen Christentums bietet Kurt Erlemann, Neues Testament und Antike Kultur. Gesamtausgabe in fünf Bänden (Neukirchen 2011) eine gute Einführung in die verschiedensten Aspekte. Eine kurze Darstellung findet sich bei Udo Schnelle: Die ersten 100 Jahre des Christentums (Tübingen 2015). Kapitel 3 (S. 29–94) bietet eine gute Einführung in die Umwelt des frühen Christentums. Dazu passt eine Auswahl von antiken Texten in deutscher Übersetzung:Jens Schröter – Jürgen Zangenberg (Hg.): Texte zur Umwelt des Neuen Testaments (Tübingen 2013).

Kapitel 1: Von Jesus zum Text – und zurück

Jesus verbrachte die meiste Zeit seines Lebens im nördlichen Palästina, in einer Region namens Galiläa. Auch sein öffentliches Wirken dürfte auf Galiläa konzentriert gewesen sein. Er sammelte Freunde und Gefährten um sich, die ebenfalls aus dieser Region stammten. Die Gegend war hauptsächlich jüdisch geprägt, doch gab es auch eine heidnisch geprägte Präsenz. Sepphoris im Unterland von Galiläa wurde von Herodes Antipas, dem Herrscher von Galiläa und Peräa, zu seiner Hauptstadt ausgebaut und erhielt unter anderem ein großes Theater. Antipas gründete um 20 n. Chr. Tiberias am Westufer des Sees Gennesaret, um Sepphoris als Hauptstadt zu ersetzen. Tiberias galt den Juden als unrein, weil es über einem alten Friedhof errichtet war. Es wurde daher vornehmlich mit Heiden besiedelt.

Die Evangelien schildern Jesus als jüdischen Wanderprediger in dieser Gegend. Eine Tätigkeit in Tiberias wird allerdings nicht erwähnt, ebenso wenig ein Aufenthalt in Sepphoris. Das Markusevangelium berichtet von Reisen in die benachbarte Dekapolis und an das angrenzende Syrien, das Matthäusevangelium nimmt Teile davon auf. Das Lukasevangelium erwähnt einen längeren Aufenthalt in Samarien. Lediglich das Johannesevangelium berichtet von mehrfachen Reisen nach Jerusalem.

In all diesen Gegenden hat Jesus höchstwahrscheinlich seine Muttersprache Aramäisch gesprochen. Trotzdem gibt es eine Generation später auf Griechisch verfasste Evangelien. Die historisch interessante Frage dabei ist: Wie kommt es dazu, und warum dauert es an die 40 Jahre, bevor überhaupt Texte erscheinen, die uns heute überliefert sind? Was ist in der Zwischenzeit passiert?

A. Drei Phasen der Entstehung der Evangelien

Die moderne Forschung teilt die Geschichte der Entstehung der Evangelien in drei Phasen ein. Während die Einteilung selbst eher wenig umstritten ist, wird heute häufig darüber diskutiert, was in den einzelnen Phasen eigentlich passiert ist und wie man sich die Entstehung der Evangelien denken sollte.

Die drei Phasen der Entstehung der Evangelien sind eine moderne Hypothese, die zu erklären versucht, wie es zu den Evangelien gekommen ist, warum sie geschrieben wurden und warum sie teilweise unterschiedliche und teilweise gemeinsame Materialien enthalten. Im 19. Jh. und im ersten Teil des 20. Jh.s wurde diese Theorie von protestantischen Neutestamentlern entwickelt, die sich mit der Frage nach dem „Sitz im Leben“ der verschiedenen Texte auseinandersetzten. Eminentes Beispiel ist Rudolf Bultmanns 1921 erschienene „Geschichte der synoptischen Tradition“, noch immer ein Standardwerk zur neutestamentlichen Formgeschichte. In einer Instruktion der Päpstlichen Bibelkommission von 1964 über die historische Wahrheit der Evangelien wird dieses Modell herangezogen, um zu erklären, dass die Evangelien zwar historische Fakten enthalten, aber nicht als Ganzes historische Wahrheit sein können. Das Zweite Vatikanische Konzil nimmt dieses Modell in der dogmatischen Konstitution „Dei Verbum“ wieder auf.

 

a. Das öffentliche Leben, Wirken, Leiden und Sterben Jesu (bis ca. 30)

Während seines Lebens wirkte Jesus Wunder, tat Außergewöhnliches, predigte die Herrschaft Gottes. Unter den vielen Menschen, denen er begegnete, wählte er ihm besonders nahestehende Jünger. Ihre Erinnerungen wie auch die Berichte von anderen Augenzeugen formen später das Rohmaterial für die Jesus-Traditionen. Diese Erinnerungen waren selektiv und wurden im Laufe der Zeit sicher auch noch weiter sortiert. Zu diesen Erinnerungen gehörte, was zu Jesu Botschaft von Gott und seiner Herrschaft gehörte, vielleicht auch die trivialen Ereignisse des alltäglichen Lebens. Es sind Erinnerungen an einen Menschen, der in Galiläa und Jerusalem gegen Ende der 20er Jahre des 1. Jahrhunderts aktiv war und der schließlich in Jerusalem grausam durch Kreuzigung hingerichtet wurde.

Jesus muss einen großen Eindruck bei seinen Mitmenschen hinterlassen haben, der dazu führte, dass sie sich später an Ereignisse und Taten aus seinem Leben erinnerten. In späterer Überlieferung ist das Ostererlebnis zwar der entscheidende Auslöser für die systematische Weitergabe der Erinnerungen an Jesus, aber auch sein Leben hatte Wirkung auf die Jüngerinnen und Jünger.

b. Die apostolische Zeit (30–65)

Die Erfahrungen mit dem irdischen Jesus und der Glaube an seine Auferstehung bestärkten die jungen Gemeinden in der Überzeugung, dass in Jesus Gott sein heilsmächtiges Wirken an Israel endgültig gezeigt und bestätigt hat. Dieser Glaube wurde formuliert in Hoheitstiteln für Jesus, in Bekenntnis- und Glaubensformeln wie auch in Gebeten. Der Osterglaube erhellte und färbte ihre Erinnerungen an das irdische Wirken Jesu. Diese Phase wird „apostolisch“ genannt. Die Boten der neuen Verkündigung waren sich gewiss, vom auferstandenen Christus gesandt (griechisch: Apostel) zu sein.

Von Anfang an hat es sich bei diesen Boten um Frauen und Männer gehandelt. Paulus schreibt ganz selbstverständlich von Junia als einer Frau, die herausragend unter den Aposteln ist (Röm 16,7), während in Apg 16,40 die Purpurhändlerin Lydia offensichtlich die Gemeinde in Philippi leitet. Die Evangelien berichten, dass es unter denen, die Jesus von Anfang an nachfolgten, eine ganze Reihe Frauen gab. Anders als die männlichen Jünger waren diese Frauen auch bei der Kreuzigung anwesend (Mk 15,40–41). Die Evangelien berichten außerdem einmütig, dass es zunächst Frauen waren, die Zeugen der Osterbotschaft waren.

In die apostolische Zeit fällt auch die Notwendigkeit des Adaptierens der Botschaft – und damit der Erinnerungen – an neue kulturelle, politische und religiöse Gegebenheiten. Die Ausbreitung des Christentums über die Grenzen Palästinas hinaus in die heidnisch-hellenistische Welt erfordert eine Anpassung der Botschaft. Manchmal sind solche Adaptionen lediglich von äußerlichen Umständen abhängig, wie die Änderung der in Palästina üblichen Lehmdachkonstruktion in Mk 2,4 zu einem für griechische Menschen vertrauteren Schindeldach in Lk 5,19. Andere Umformulierungen sind ungleich bedeutsamer.

Das Markusevangelium muss plötzlich erklären, was jüdische Reinheitsvorschriften sind und wie sie funktionieren (Mk 7,3–5). Offensichtlich richtet sich das Evangelium an Menschen, die mit solchen Bräuchen nicht mehr vertraut sind. Damit stellt sich auch die Frage nach der Gültigkeit des jüdischen Gesetzes und der damit verbundenen Beschneidung für die neuen heidnischen Christen. Auf den Punkt gebracht, lautet die neue Herausforderung: Muss man Jude werden, um Christ sein zu können? Und wie soll das Verhältnis zu Juden aussehen, die sich nicht den Jesus-Jüngern anschließen?

Die Antworten auf solche Fragen werden in der Lehre Jesu gesucht. Man ist überzeugt, dass die Botschaft und die Person Jesu eine Lösung für solche Fragen bieten. Die mündliche Überlieferung wird daraufhin geschärft und konzentriert. Gleichzeitig werden als unwichtig geltende Dinge nicht weitergegeben. Deshalb wissen wir auch nicht, wie Jesus ausgesehen hat oder was er vor seinem öffentlichen Auftreten in Galiläa gemacht hat. Die Überlieferung ist auch ein Konzentrationsprozess.

Obwohl diese Phase oft als Zeit der apostolischen Predigt bezeichnet wird, ist eine Beschränkung auf Predigt oder Verkündigung zu kurz gegriffen. Liturgie und Gottesdienst wurden Teil christlichen Lebens. Damit wurde auch gottesdienstliche Sprache Teil der christlichen Überlieferung. Spuren dieser Sprache finden sich auch in den Jesustraditionen wieder, z. B. Mt 7,21.

In diese Periode könnten auch die ersten schriftlichen Sammlungen von Jesusmaterial erstellt worden sein. Der Kirchenvater Papias von Hierapolis erzählt zu Beginn des 2. Jahrhunderts, dass ein gewisser Matthäus Herrenworte auf Hebräisch oder Aramäisch niedergeschrieben habe, die von anderen Predigern benutzt und interpretiert wurden. Papias dürfte nicht das Matthäusevangelium gemeint haben, wohl aber eine lose Sammlung von Traditionen, die schriftlich aufgezeichnet wurden.

Forscher beginnen oft mit einer grundsätzlichen Unterscheidung des Johannesevangeliums von den anderen Evangelien, die synoptische Evangelien genannt werden. Das griechische Wort „synoptisch“ trägt der Auffassung Rechnung, dass man die Evangelien des Markus, Matthäus und Lukas „zusammen sehen“ muss. Sie haben so viel Material gemeinsam, dass die Vermutung naheliegt, dass sie nicht unabhängig voneinander entstanden sind. Etwa 90% des Markusevangeliums sind auch im Matthäusevangelium präsent, während das Lukasevangelium etwa 65% des markinischen Materials enthält. Neben dieser dreifachen Tradition gibt es noch eine zweifache, in der das Lukasevangelium und das Matthäusevangelium je nach Zählung etwa 220–235 Verse gemeinsamen Materials verarbeiten. Die Ähnlichkeiten gehen dabei von inhaltlichen Ähnlichkeiten bis hin zu wörtlichen Übereinstimmungen.


Abbildung 1: Die Zwei-Quellen-Theorie

Dieser Befund lässt vermuten, dass die drei synoptischen Evangelien in ihrer Entstehung voneinander abhängig sind. Wie genau diese Abhängigkeit aussieht, ist allerdings umstritten. Die Mehrheit der Forscher erklärt die Abhängigkeit mit der Zwei-Quellen-Theorie. Nach dieser Theorie benutzten Matthäus und Lukas das Markusevangelium unabhängig voneinander und bedienten sich außerdem einer Quelle, die aus wenigen Erzählungen und zumeist aus überlieferten Aussprüchen Jesu bestand. Daher wird sie oft Spruch- oder Logienquelle genannt, abgekürzt Q. Diese Quelle würde erklären, warum Matthäus und Lukas derart viel gemeinsames Material haben, das nicht durch Markus überliefert ist. Zudem geht man in der Regel davon aus, dass Q in schriftlicher Form vorgelegen haben muss. Neben den zwei Quellen benutzten Matthäus und Lukas auch Eigenmaterial, das mit M bzw. L abgekürzt wird.

Eine Rekonstruktion von Q aus den in Matthäus und Lukas erhaltenen Materialien zeigt eine Schrift, die zuvorderst ein Aufruf zur Umkehr gewesen ist. Gott als den Herrn zu erkennen heißt, Jesus nachzufolgen. Nachfolge besteht darin, dass man wie Jesus wird (Lk 6,40), der nirgendwo einen Ort hat, wo er sein Haupt hinlegen kann (Lk 9,58). Wer Jesus nachfolgen wollte, war aufgefordert, Heimat, Besitz und Familie zu verlassen, um das Evangelium zu verkünden. Aufgabe materieller und familiärer Bindungen wird als Notwendigkeit für die gesehen, die sich ganz der Herrschaft Gottes widmen wollen. Diese Haltung wird als Wanderradikalismus bezeichnet und steht im Horizont der bald erwarteten Wiederkunft Jesu, die in einigen eschatologischen Sprüchen aufgearbeitet wird. Eine Passionsgeschichte, eine Interpretation des Todes Jesu als Heilsereignis oder eine Erzählung der Auferstehung liegen in Q noch nicht vor, während das Ende der Zeit und die Wiederkunft Jesu erwartet werden. Q war wohl ein Dokument, das die Jesusgläubigen auf die einbrechende Zukunft eines endzeitlichen Gerichts mit der Wiederkehr des Menschensohnes vorbereiten sollte. Es tat dies in einer Form, die hauptsächlich Sprüche Jesu sammelte und redigierte. Erzählungen wie Heilungen oder gar der Versuch einer biographischen Verortung dieser Sprüche fehlen noch.

Unter den Q-Forschern besteht weitgehender Konsens, dass Lukas die Reihenfolge der in Q enthaltenen Sprüche enger befolgt als Matthäus. Während in Matthäus das Q-Material oft in Einzelsprüche zersplittert ist, findet es sich bei Lukas in größeren Blöcken. Daher wird Q auch in der Regel mit den Kapitel- und Verszahlen des Lukasevangeliums zitiert. Gleichzeitig geht man auch davon aus, dass Lukas das Q-Material in bessere griechische Sprache gießt, während Matthäus eher dem Wortlaut folgt.

Der genaue Umfang von Q ist schwer zu erschließen. Es ist durchaus möglich, dass Q umfangreicher war, als die Rekonstruktionen nahelegen. Wenn Lukas nur etwa 65% von Markus überliefert, dann ist es durchaus denkbar, dass er auch Q gekürzt hat. Dies würde aber bedeuten, dass Matthäus einiges Material enthält, das zu Q gehören könnte, ohne dass dies noch rekonstruierbar wäre. Dies Argument belegt zunächst einfach den hypothetischen Charakter jedweder Rekonstruktion von Q, selbst wenn die Existenz von Q als wahrscheinlich gelten darf. In diesem Buch wird jedenfalls von der grundsätzlichen Richtigkeit der Zwei-Quellen-Theorie ausgegangen. Damit erklärt sich auch, warum in der Reihung hier das Markusevangelium vor Matthäus und Lukas behandelt wird.


Abbildung 2: Möglicher inhalt von Q

Einigen Forschern scheint Q zu hypothetisch. Sie folgen entweder der Griesbach-Hypothese oder der Farrer-Hypothese. Nach Johann Jakob Griesbach (1789) wurde das Matthäusevangelium zuerst verfasst, Lukas benutzte Matthäus, und schließlich ist Markus eine Zusammenfassung beider. Während die Griesbach-Hypothese auf den ersten Blick einfacher scheint, kann sie nicht erklären, warum die sprachlich sehr viel eleganteren Evangelien von Markus in einem eher hölzernen Griechisch zusammengefasst sein sollten. Es scheint plausibler, von einer Erweiterung und Glättung des markinischen Materials auszugehen. Austin Farrer (1955) nahm an, dass Markus das erste Evangelium war, auf das Matthäus folgte. Lukas hingegen benutzte nicht nur Markus, sondern auch Matthäus.

In der neueren Forschung ist umstritten, welche Rolle mögliche schriftliche Zeugnisse schon in dieser Zeit spielten. In einer ersten Beobachtung stellt man fest, dass in den gemeinsamen Stellen der synoptischen Evangelien doch auch sehr viele kleine und große Unterschiede in Details und Formulierungen zu bemerken sind. Besonders deutlich sind solche Unterschiede in vielen Gleichnissen und Wunderheilungen.


Abbildung 3: Unterschiede in ähnlicher Erzählung

Solche Unterschiede nun könnten Hinweise darauf sein, dass die mündliche Tradition eine viel wesentlichere Rolle spielte als bisher angenommen. Diese Beobachtung erhält umso mehr Gewicht, hält man sich vor Augen, dass die Alphabetisierungsrate in der antiken Welt ausgesprochen niedrig gewesen ist. Gerade bei Rekonstruktionen von Q fallen auch sprachliche Unterschiede und Abweichungen stark auf; möglicherweise kann man sich also Q auch als mündliche Tradition vorstellen, die in verschiedenen Kontexten unterschiedlich weitergegeben wurde. Allerdings spricht hier die unterschiedliche Aufnahme des Markusevangeliums durch Matthäus und Lukas gegen den vorschnellen Schluss, Q habe lediglich in mündlicher Form existiert. Es ist aber durchaus möglich, dass es neben einer schriftlichen Form auch eine mündliche Tradition von Q gab.

 

c. Zeit der Abfassung der Evangelien (ab ca. 65)

In der Zeit zwischen 65 und 100 n. Chr. wurden wahrscheinlich alle vier Evangelien geschrieben. Sie entstanden als anonyme Schriften und enthalten keinerlei Angaben zu Verfassern. Kirchenväter am Ende des 2. Jahrhunderts schreiben zwei dieser Evangelien den Aposteln Matthäus und Johannes zu, die anderen beiden den apostolischen Zeugen Markus als einem Petrusschüler und Lukas als einem Paulusschüler.

Die meisten Forscher heute stimmen überein, dass mit dieser Namensgebung die apostolische Autorität der Evangelien bezeugt werden soll. Bekannte Figuren der Zeit der apostolischen Predigt werden so zu Garanten der Treue zur Tradition und der Kontinuität zum irdischen Jesus. Dabei ist durchaus denkbar, dass die Apostel tatsächlich als Traditionsträger hinter den Evangelien stehen, die dann von ihren Schülern weitergegeben werden; ausgedrückt wird eine solche Situation in Joh 21,24–25, wo auf einen Begleiter Jesu als Augenzeugen und Autor des Evangeliums hingewiesen wird, gleichzeitig aber ein weiterer Autor davon erzählt.

Den Evangelisten kam es zu, die verschiedenen Traditionen über Jesus zu bündeln und in eine Form zu gießen, die auch disparates Material miteinander verbinden kann. Die Leistung der Evangelisten wird in der Forschung unterschiedlich beurteilt. Vertreter der historisch-kritischen Methode sehen oft den Großteil der synthetischen Leistung schon in der vor-evangelischen Zeit geleistet, während andere davon ausgehen, dass eine theologische und literarische Synthese wie die der Evangelien an einen Evangelisten gebunden ist. Sicher ist, dass allein schon die Schaffung einer neuen literarischen Gattung, des Evangeliums, eine herausragende Leistung ist.

Erstaunlich ist, dass nach der langen Zeit ohne Evangelien plötzlich innerhalb von etwa 35 Jahren gleich vier Evangelien mit einigen Ähnlichkeiten, aber auch mit markanten Unterschieden auftauchen. Dabei ist anzunehmen, dass verschiedene Traditionsprozesse mit lokal bedingten Variationen zu verschiedenen Evangelien geführt haben. Dies allerdings legt die Vermutung nahe, dass schon in der apostolischen Phase verschiedene Traditionsstränge mit unterschiedlichen Akzenten gebildet wurden. Die Traditionen über Jesu Werke und Lehre dürften also schon sehr früh in unterschiedlichen Ausprägungen existiert haben.


Abbildung 4: Beispiele apokrypher Evangelien

In der Zeit nach der Schaffung der vier neutestamentlichen Evangelien machten sich weitere Autoren an die Abfassung von Schriften, die die erzählerischen oder vermeintlich theologischen Lücken in den kanonischen Evangelien ausfüllen wollten. So gibt es beispielsweise ausführliche Geschichten von der Kindheit Jesu. Diese Schriften tragen oft den Titel „Evangelium“, wurden allerdings wegen ihrer phantasievollen Ausschmückungen nicht in den verbindlichen Kanon der Kirche aufgenommen. Man betrachtet sie am besten als fromme Erbauungsliteratur. Sie werden als apokryphe Evangelien bezeichnet.

B. Schlussfolgerungen aus der Entstehungsgeschichte der Evangelien

Trotz der apostolischen Autorität hinter den Evangelien erklärt die Distanz der Autoren von den Ereignissen um Jesus die Unterschiede in den Schriften. So ist es plausibel, dass die Autoren auf der einen Seite ähnliche Traditionen in die Evangelien aufnehmen, auf der anderen Seite aber auch auf lokale Gegebenheiten Rücksicht nehmen. Während das Markusevangelium jüdische Reinheitsvorschriften einer heidnischen Gemeinde erklären muss (Mk 7,3–4), braucht Matthäus dies für seine jüdisch geprägte Gemeinde nicht zu tun (Mt 15,2–3). Lukas hingegen lässt die gesamte Debatte über die Speisegebote aus, weil sie wahrscheinlich für seine Gemeinden keine Relevanz mehr hatte.

Nimmt man die Entstehungsgeschichte der Evangelien in den ausgeführten Schritten an, ergeben sich mehrere Konsequenzen:

– Die Evangelien sind keine Geschichtsschreibung des Lebens Jesu. Zwischen beiden liegen Jahrzehnte theologischer und pastoraler Aufbereitung der Jesusmaterialien. Manchmal ist es mit aufmerksamer und genauer Exegese möglich, Geschichte und Entwicklung voneinander zu trennen. In den seltensten Fällen ergibt das jedoch historische Sicherheit.

– Die These, dass die Evangelien keine historischen Berichte sind, wird manchmal dahingehend interpretiert, dass sie keine wahren Berichte über Jesus sind. Diese Interpretation wird allerdings dem theologischen und pastoralen Zweck der Evangelien nicht gerecht. Es ist viel eher plausibel, dass die Entwicklungen in der Traditionsbildung mit den historischen Ereignissen in einer Kontinuität stehen, als dass die Tradition die historischen Ereignisse grundsätzlich verdeckt.

– Solch ein Ansatz zu einer Antwort auf die Frage nach der Wahrheit der Evangelien ist für manche nicht zufriedenstellend, weil sich wohl nicht mehr endgültig entscheiden lässt, wie treu die Autoren dem historischen Jesus wirklich waren. Mehr noch, wie treu sind die Evangelisten der ursprünglichen Botschaft Jesu? Dies ist natürlich eine theologische Frage, die auch eine theologische Antwort in der Annahme der Schriftinspiration hat.

– Evangelienharmonien wie Tatians Diatesseron aus der Mitte des 2. Jahrhunderts oder das mittelalterliche Leben Jesu des Ludolfvon Sachsen sind daher auch sowohl historisch wie theologisch als Fehlleistung einzustufen. Historisch, weil sie die unterschiedlichen Traditionsprozesse ausblenden; theologisch, weil sie die gemeinsame Inspiration unterschiedlicher Schriften ablehnen.

C. Und zurück: Die Frage nach dem historischen Jesus

Obwohl die Evangelien nicht als historische Biographien gelesen werden können, sind sie doch die Hauptquellen für die Rückfrage nach dem historischen Jesus. Dass Jesus existiert hat, wissen wir auch durch Flavius Josefus und durch die Annalen des römischen Geschichtsschreibers Tacitus, der von der Hinrichtung Jesu durch Pontius Pilatus berichtet. Aber darüber hinaus geben diese Quellen keine weiteren Informationen.

Will man nun historische Details aus dem Leben Jesu herausfinden, ist man auf die Evangelien angewiesen. In der Forschung hat sich seit dem 18. Jh. ein Instrumentarium entwickelt, mit dem man versucht, den von den Evangelien verkündeten Christus vom historischen Jesus zu trennen. Die Suche nach dem historischen Jesus begann ernsthaft im 19. Jh. Eine zweite Welle folgte in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Seit dem Ende des 20. Jh.s ist die dritte Welle noch nicht abgerissen.

Zu den in der historischen Jesusforschung verwendeten Methoden gehört vornehmlich die historisch-kritische Methode mit ihren verschiedenen Unterschritten. Sie erweist sich vor allem deshalb als immer noch geeignet, weil besonders seit dem Zweiten Weltkrieg die Erforschung und das Wissen um das Judentum zur Zeit Jesu enorme Fortschritte gemacht haben. Gleichzeitig sucht man mit Hilfe von Formkritik und Quellenkritik nach den ältesten in den Evangelien erhaltenen Traditionen. Ältere Materialien werden als glaubhafter angesehen als jüngere Entwicklungen in der Tradition.

Gelegentlich findet man in den Evangelien Anachronismen, die dem Interesse späterer Gemeinden geschuldet sind. So dürfte Mt 18,17 mit der Aufforderung, Konflikte unter den Jüngerinnen und Jüngern zur Kirche zu bringen, wohl eine späte Gemeindeentwicklung sein, die auch für die Erklärung von Petrus als dem Fels, auf den Jesus seine Kirche baut, verantwortlich gewesen ist. Der Begriff „Kirche“ wird Jesus fremd gewesen sein. Auf der anderen Seite sind Hinweise auf die Angehörigen, die Jesus für verrückt erklären und nach Hause bringen möchten (Mk 3,21), wohl historisch zuverlässig. Für eine spätere Gemeinde ist eine solche Geschichte dermaßen peinlich, dass Matthäus und Lukas sie nicht mehr berichten.