Die kapitalistische Gesellschaft

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2.9 Entstehung von Klassen

Die Absetzung von Adel und Monarchie durch ein demokratisches Bürgertum hat in Europa nie so stattgefunden, wie es in den Schulbüchern behauptet wird. Die alten Oberschichten behielten ihre Position bis heute bei, sie wurden nur ergänzt durch die aufsteigenden Kapitalisten, Kaufleute aus dem so genannten Bürgertum. Adlige und Kaufleute verschmolzen zu einer sozialen Klasse, die ich als herrschende Klasse bezeichnen möchte. In Extremfällen, wie im Zuge der Französischen Revolution, wurden tatsächlich viele Mitglieder der alten herrschenden Klasse ermordet und die Monarchie und Adelsprivilegien abgeschafft. Die Nachkommen der deutschen Monarchie und Aristokratie gehören jedoch weiterhin zur deutschen Oberklasse. Noch deutlicher ist der Fortbestand vorkapitalistischer Hierarchien in Großbritannien, wo dem Hochadel sogar eine eigene und besonders mächtige politische Vertretung, das Oberhaus, vorbehalten bleibt. Die Demokratie ist auf das Unterhaus begrenzt, das mit Berufspolitikern bestückt ist.

Die Einführung der Demokratie hat nirgendwo die früheren Ungleichheiten abgeschafft. Die westliche Demokratie gleicher Bürger schloss zu Beginn nur eine kleine Gruppe Privilegierter ein. Die Ausgeschlossenen, wie Arme, Sklaven, Frauen, Ausländer und andere Gruppen, konnten durch fortwährenden Kampf, der teilweise bis heute anhält, zunehmend formal gleiche Bürgerrechte erringen. Nach deren Erringung bildeten sie eine neue unterprivilegierte Schicht, da sie nicht die gleichen Berufe, Vermögen, Ausbildungen und Netzwerke erhielten wie die alten Bürger. Einmal in die kapitalistische Demokratie integriert, vermochten einzelne Angehörige der unterprivilegierten Schichten aufzusteigen. Die vereinzelte soziale Mobilität trug dazu bei, die Herrschaftsordnung, die eine Transformation der vorkapitalistischen Ordnung ist, gleichzeitig unsichtbar zu machen und zu legitimieren. Es entstand eine nicht sichtbare Klassenhierarchie – eine unsichtbare Herrschaft.

Derselbe Prozess vollzog sich fast gleichzeitig wie in Europa auch in den meisten Gesellschaften Nord- und Südamerikas, die um 1800 die Unabhängigkeit von ihren Kolonialherren erlangten. In vielen ehemaligen Kolonien Asiens und Afrikas hingegen wurde gleich mit der Unabhängigkeit eine Form von Demokratie eingeführt und die Bevölkerung formal gleichgestellt. Die Einrichtung einer Demokratie bedeutete jedoch nicht die Aufhebung der Ungleichheit, da die zuvor existierenden Hierarchien nie abgeschafft wurden. Die alten Eliten wurden größtenteils auch die neuen Eliten. Die Großgrundbesitzer, der Adel, die Großkaufleute und die Nachkommen der Monarchen standen um 1950 genauso an der Spitze aller Gesellschaften wie um 1700.

Es macht allerdings einen Unterschied, ob eine bürgerliche Demokratie durch soziale Bewegungen Schritt für Schritt eingeführt wurde, wie in vielen europäischen Staaten, ob sie in einer seit langem unabhängigen Kolonie errichtet wurde, wie in Amerika, oder ob sie gleichzeitig mit der Unabhängigkeit entstand, wie in vielen Staaten Asiens und Afrikas. In den USA, Brasilien und Südafrika erhielten Menschen afrikanischer Abstammung erst im 20. Jahrhundert volle Bürgerrechte, lange nach der Unabhängigkeit. Das gilt auch für die indigenen Bevölkerungen in vielen ehemaligen Kolonien, von Neuseeland bis Kanada. Gleichzeitig bildeten die Nachkommen der früheren kolonialen Großgrundbesitzer und Gouverneure in diesen Staaten die herrschenden Klassen. Die Angehörigen der oberen Klassen in fast allen amerikanischen und vielen afrikanischen Staaten haben eine weiße Hautfarbe, während sich die unteren Klassen aus Nachkommen der Afrikaner und/oder Indigenen rekrutieren.

In Deutschland sind die historischen Strukturen kaum noch sichtbar. Es hat sich eine fest zementierte Ordnung sozialer Klassen herausgebildet, deren geschichtliche Wurzeln in grauer Vorzeit liegen. Diese Ordnung werde ich im nächsten Kapitel genauer beleuchten. In den Staaten Amerikas ist die koloniale Ordnung hingegen deutlich sichtbar. In den USA oder Brasilien beispielsweise lassen sich die Wurzeln der Sklavenhaltergesellschaft aufzeigen. Nur zehn Prozent der drei oberen sozialen Klassen Brasiliens haben keine weiße Hautfarbe, während rund zehn Prozent der unteren Klassen keine schwarze Hautfarbe haben. Die Sklaven sind nach der Befreiung in eine Unterschicht transformiert worden.1 In Thailand, das nie unter Kolonialherrschaft geraten ist, kann man die vorkapitalistischen Strukturen in der heutigen Gesellschaft auch klar erkennen. Die alte königliche Gesellschaft und die kapitalistische Klassenordnung durchdringen einander und bestehen gleichzeitig nebeneinander fort.2

In allen Nationalstaaten begannen Kapitalismus und Demokratie entgegen der Theorie und der Verfassung als Konkurrenz von Ungleichen. Das ökonomische Kapital befand sich im Besitz einer kleinen Gruppe. Diese Gruppe verfügte auch über einen privilegierten Zugang zu politischen Entscheidungen. Schließlich standen nur dieser Gruppe alle gesellschaftlichen Möglichkeiten offen. Der Rest der Bevölkerung hatte kein ökonomisches Kapital, nicht die gleichen politischen Möglichkeiten, kein Ansehen und einen erschwerten Zugang zu Bildung, Kultur, gesellschaftlichen Ereignissen und der öffentlichen Meinung. Diese sozialen Mängel vererbt der Großteil der Menschheit bis heute seinen Nachkommen, wie wir weiter unten sehen werden.

2.10 Gleichheit und Freiheit

In der Schule lernen wir, dass Demokratie und Kapitalismus in derselben historischen Periode entstanden. Die Demokratie soll auf einen Schlag die Gleichheit der Bürger hergestellt haben – auch wenn nicht alle Menschen sofort die Bürgerrechte erhielten. Der freie Markt soll den Kapitalismus hervorgebracht haben, der sich dank höherer Produktivität innerhalb jedes Staates durchsetzte, zuerst in Europa, ganz unabhängig von der Weltpolitik und vom Kolonialismus. Die cleversten Bürger sollen zu Kapitalisten aufgestiegen sein – ohne Kapital geerbt zu haben und ohne es an die nächste Generation weiterzuvererben und auf diese Weise die Chancengleichheit zu zerstören.

Diese Erzählung ist falsch. Erst wurde das kapitalistische System geschaffen: das Prinzip der Kapitalvermehrung auf der Grundlage von Privateigentum in Verbindung mit dem Nationalstaat, dessen Finanzen sich teilweise im Besitz von Großeigentümern und Privatbanken befinden. Diese Entwicklung begann in den oberitalienischen Stadtstaaten um 1200, vollendete sich aber erst in England um 1700. Das Großeigentum und die Banken befanden sich in dieser Phase fast vollständig in den Händen der Aristokratie. Der Fernhandel, der als Kern des damaligen Kapitalismus betrachtet werden kann, wurde vom Staat geschützt und von Großeigentümern und Banken finanziert. Der Staat wiederum finanzierte sich zunehmend über Anleihen, die über Banken organisiert und von Großeigentümern besessen wurden. Mit der Entstehung des Nationalstaats wurde der Staatsapparat Teil des Fernhandels, der sich mit dem Kolonialismus verband. Während der italienische Fernhandel Privatangelegenheit blieb und der spanische Kolonialismus Sache des Monarchen war, entwickelte sich der englische Kolonialismus als Zusammenarbeit zwischen Privatkapital und Staat.

Dann erst wurden Marktwirtschaft und Demokratie eingeführt, und zwar Schritt für Schritt. Die ersten Demokratien in England, Frankreich und den Vereinigten Staaten schlossen zu Beginn die große Mehrheit der Bevölkerung aus – Arme, Arbeiter, Frauen, Sklaven und Ausländer. In vielen westlichen Staaten haben Frauen erst Mitte des 20. Jahrhunderts die vollen Bürgerrechte erhalten, Afro-Amerikaner in den USA erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie hatten dementsprechend nicht die gleichen Möglichkeiten, am Wirtschaftsleben zu partizipieren, wie die Bürger, zumal die ausgeschlossenen Bevölkerungsgruppen im Allgemeinen auch kein Recht hatten, Verträge zu schließen. Der Markt mit vollem und gleichem Wettbewerb wurde nur sehr unvollkommen und teilweise nur in einzelnen Branchen verwirklicht. Für Anwälte, Ärzte, Schornsteinfeger und viele andere Berufe gilt in Deutschland bis heute das Prinzip der mittelalterlichen Gilde, nach dem für die Teilnahme am Wirtschaftsleben eine Mitgliedschaft im Berufsverband erforderlich ist, der jedem Mitglied wiederum einen quasi-monopolistischen Tätigkeitsort zuweist. Das ist das Gegenteil eines Marktes.

Es ist wichtig festzuhalten, dass die Einführung von politischer und ökonomischer Gleichheit erst geschah, nachdem das kapitalistische System schon etabliert und das Kapital in einer kleinen Gruppe von Menschen konzentriert war. Wegen der extrem ungleichen Ausgangsbedingungen blieb das Kapital bis heute konzentriert. Ein echter Wettbewerb und soziale Mobilität sind historisch nur zu beobachten, wenn massive politische oder ökonomische Umwälzungen stattfanden, beispielsweise eine Revolution, Krieg, politische Interventionen, die industrielle Revolution, wissenschaftliche Organisation der Produktion oder die Digitalisierung. Da das Kapital aber zu jedem Zeitpunkt innerhalb einer kleinen Gruppe konzentriert war, hatte jede Umwälzung im Wesentlichen das Resultat, dass einige der Erneuerer in die Gruppe der Kapitaleigner aufstiegen, diese und die Gesamtstruktur der Gesellschaft aber unverändert blieben. In den Ländern, die den Kapitalismus erst später einführten, fallen die Einführung von Kapitalismus, von freiem Markt und von Demokratie nahezu zusammen oder sind teilweise in ihrer Abfolge verändert. Daher ist es während der Umwälzungen in ihnen oft zu höherer sozialer Mobilität gekommen, aber das Prinzip ist mittlerweile in allen Staaten der Erde identisch.

2.11 Kapitalismus und Markt

Vom staatlich organisierten und regulierten Markt und vom Kapitalismus ist der Markt im eigentlichen Sinne zu unterscheiden, der lokal organisierte Wochenmarkt.1 Dieser Markt kann als Wettbewerb funktionieren, aber in vielen Weltregionen teilen noch heute die Anbieter am Ende des Tages den Gesamtgewinn unter sich auf. Normalerweise sorgt die Gemeinschaft dafür, dass alle überleben, obwohl das Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage sowie der Wettbewerb die Preise bestimmen. Die Gemeinschaft betreibt eine soziale Wirtschaft, die auch in kapitalistischen Gesellschaften Grundlage der Reproduktion ist. Sie umfasst Kindererziehung, Arbeit in der Familie, Hilfe von Freunden, Betreuung von Pflegebedürftigen, Produktion (beispielsweise von Obst) für den Eigenbedarf, direkten Tausch und ähnliche Tätigkeiten. Ohne sie könnte eine kapitalistische Gesellschaft gar nicht existieren.

 

Wir meinen, die Wirtschaft umfasse alle produktiven und damit lebensnotwendigen Aktivitäten und sei im Dienst der Konsumenten als Markt organisiert. Aber der größte Teil der Wirtschaft findet außerhalb von Marktwirtschaft und Kapitalismus statt. Wer hilft nicht dem Nachbarn beim Dachausbau, dem Freund beim Umzug, der Tochter bei den Hausaufgaben und der Tante bei der Ausrichtung eines Festes? Wer schenkt nicht der Lehrerin einen Korb voller Äpfel vom eigenen Baum und dem Arbeitskollegen einen Plan zum Fliesenlegen? All diese Tätigkeiten sind produktiv und geldwert. Sie können prinzipiell als Komponenten der Wirtschaft auch gegen Bezahlung geleistet werden. Wenn man die reproduktiven Tätigkeiten wie Kindererziehung und Haushalt einbezieht, so zeigt sich, dass der größte Teil der Wirtschaft selbst in westlichen Gegenwartsgesellschaften immer noch außerhalb der staatlich organisierten Marktwirtschaft und außerhalb der Geldwirtschaft stattfindet. Das gilt erst recht für Gesellschaften des globalen Südens, in denen Subsistenzwirtschaft noch eine große Rolle spielt.

Neben der sozialen Wirtschaft müssen wir den Markt im alltäglichen Sinne von der Marktwirtschaft und vom Kapitalismus unterscheiden. Der Bäcker an der Ecke ist kein Kapitalist, sondern in erster Linie Marktteilnehmer. Er mag qualitativ schlechtes Mehl verwenden und überhöhte Preise verlangen. Aber er bestreitet von seinen Einkünften lediglich seinen eigenen Lebensunterhalt. Mit Ihrem Einkauf für den Eigenbedarf bezahlen Sie gleichsam seinen Einkauf für den Eigenbedarf. Ein großer Teil der Wirtschaft ist so aufgebaut – als Markt. Mehrere Anbieter konkurrieren über den Preis – und die Qualität – um Kundschaft. Ist das in einem nationalstaatlichen Rahmen organisiert, können wir von Marktwirtschaft sprechen. Davon zu unterscheiden ist der Kapitalismus, in dem es nicht um Produktion und Lebensunterhalt, sondern um Profit und Kapitalakkumulation geht. Dafür steht ein eigener Bereich der Wirtschaft zur Verfügung, der sich zunächst nur auf den Handel, Finanzen und die Ausbeutung der Kolonialgebiete beschränkte und sich dann zunehmend auf die europäischen und schließlich auf alle Gesellschaften ausdehnte. Der Staatsapparat dient in erster Linie dazu, diesen Bereich zu organisieren und zu schützen. Der Markt im oben genannten Sinne bedarf kaum einer Regulierung, da die Kundschaft dem im Beispiel erwähnten Bäcker den Rücken kehrt, wenn die Relation zwischen Preis und Qualität zu schlecht wird.

Der Markt und die soziale Wirtschaft haben wenig mit Marktwirtschaft und Kapitalismus gemeinsam. Sie werden „von unten“ organisiert, dienen dem Überleben, sind nicht auf Profit ausgerichtet und implizieren keine Klassenherrschaft. Sie zeigen auch deutlich, dass der Kapitalismus keine Produktionsweise ist, die der Reproduktion der gesamten Gesellschaft dienen soll. Vielmehr lebt der Kapitalismus gleichsam als Parasit vom Markt und von der sozialen Wirtschaft. Er beherrscht und verändert diese, ersetzt sie aber nicht.

Die Koexistenz von Markt, sozialer Wirtschaft und Kapitalismus organisiert der Staat unter der Kategorie der Nationalökonomie, Volkswirtschaft oder Marktwirtschaft. Durch die Kategorie wird suggeriert, dass der Kapitalismus eine Wirtschaftsform sei, eine Produktionsweise, die eine hohe Effizienz aufweist und im Dienst der Bevölkerung steht. Tatsächlich muss der Staat die Wirtschaft organisieren, weil ein reiner Kapitalismus zum sofortigen Verhungern der meisten Menschen führen würde. Denn die Arbeiter würden minimale Löhne erhalten, lebensnotwendige Sektoren würden mangels Profitchancen eingestellt, Arbeitslose bekämen kein Geld und die Vermögenskonzentration wäre noch extremer, als sie es heute schon ist.

Wenn heutzutage vom Markt oder von Marktwirtschaft die Rede ist, meint man eigentlich Kapitalismus, rechtfertigt ihn aber durch Elemente von Markt und Marktwirtschaft. Würde man offen von Kapitalismus sprechen und zugeben, dass er dem gemeinschaftlich organisierten Wochenmarkt und der staatlich organisierten Konkurrenz der Marktwirtschaft widerspricht, wäre die Zustimmung zum System sehr gering. Da aber Wochenmarkt und Marktwirtschaft prinzipiell gut funktionierende und allgemein akzeptable Institutionen sind, suggerieren Politik, Großunternehmen und Medien, der Kapitalismus sei mit ihnen identisch, obwohl er ihre Aufhebung zum Ziel hat.

Im Kapitalismus soll der Staat überall einspringen, wo kein Profit zu erzielen ist. Er finanziert die Ausbildung, die Infrastruktur und das Sozialsystem und kümmert sich um öffentliche Güter, die kein Privatunternehmen zu Verfügung stellen will. Gleichzeitig soll er die Bereiche dem „Markt“ überlassen, in denen ein Profit zu machen ist. Allerdings sind diese Bereiche eben kein Markt, sondern Orte kapitalistischer Monopolisierung. Fernand BraudelBraudel, Fernand erklärt: „Kapitalismus stützt sich nach wie vor auf legale oder faktische Monopole“.2 Die Vertreter der Politik machen das Spiel mit und reden genau dort vom „Markt“, wo eigentlich Kapitalismus vorliegt. Sie unterstützen die wenigen Großunternehmen im Inland und nach außen durch Zölle, Handelsverträge, Schaffung von Absatzmärkten usw. Das wird im Fortgang des Buches genauer untersucht.

Der Kapitalismus widerspricht prinzipiell den beiden Formen des Marktes, weil sein Ziel von Anfang an die Konzentration des Gewinns in einer privilegierten Gruppe ist. Das Ziel ist im heutigen Finanzkapitalismus in höchstem Maße erreicht, weil eine kleine Gruppe von Großkapitalisten als unsichtbares Kollektiv gemeinsam alle Großunternehmen besitzt, wie ich weiter unten zeigen werde. Durch die Kollektivierung des Kapitals ist die Sicherung der Herrschaft und der Gesellschaftsordnung in höchstem Maße erreicht. Dennoch bestehen Unsicherheit und Konkurrenz fort. Die kapitalistische Gesellschaft entwickelte sich aus der internen und externen Expansion des Kapitals. Dadurch enthält sie einerseits ständige Innovation und andererseits die Möglichkeit sozialen Aufstiegs über Kapitalakkumulation. Man könnte sagen, sie werde die Geister, die sie rief, nicht mehr los. Der Widerspruch zwischen Stabilität und Konkurrenz ist ein Grundmerkmal der kapitalistischen Gesellschaft.

Neu am westlichen Kapitalismus gegenüber den früheren Formen des Kapitalismus war die staatliche Institutionalisierung. Der König erhebt nicht mehr Anspruch auf den gesamten Grundbesitz, es gibt keinen erblichen Herrschaftsanspruch mehr, der Herrscher finanziert seine Privatausgaben nicht mehr durch einen willkürlich festgelegten Tribut. Der Staat ist keine Privatangelegenheit des Herrschers mehr, sondern wird ein formalisierter Apparat. Der Apparat wurde gleichzeitig mit der Entstehung des westlichen Kapitalismus Gegenstand des Kampfes zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, aus dem meist die Gruppe der Kapitalisten siegreich hervorging. Der König wird ersetzt durch den Staat, der in letzter Instanz Eigentümer des Bodens und des Geldes ist. Der Staat wiederum wird von der Gruppe der Kapitalisten maßgeblich beeinflusst. Seine Schulden sind im Besitz von Privatpersonen. Die meisten seiner zentralen Aktivitäten dienen der Kapitalvermehrung. Im Kapitalismus bilden die Kapitaleigentümer eine herrschende Klasse, die den Staat und seine Institutionen instrumentalisiert, um Gewinn zu machen und dadurch ihre herrschende Position zu bewahren.

3 Kapital und Arbeit

Im vorangehenden Kapitel wurde die Entwicklung wichtiger Elemente des Kapitalismus nachgezeichnet. Die Eigenschaften des Kapitalismus in europäischen Gesellschaften des 18. und 19. Jahrhunderts werden oft mit historisch getrennten Phänomenen vermischt, beispielsweise der Aufklärung, allgemeinen Bürgerrechten und der Institution des freien Markts. All diese Phänomene sind aber nicht direkt voneinander abhängig und begannen im Westen zu unterschiedlichen Zeiten. Keine einzelne Eigenschaft definiert den gesamten Kapitalismus. Wir können jedoch erst von einem entfalteten Kapitalismus sprechen, wenn zumindest die im vorangehenden Kapitel diskutierten Eigenschaften entwickelt sind. Nun müssen wir ihren Zusammenhang untersuchen.

Eine der wichtigsten Eigenschaften des heutigen Kapitalismus ist die Beschäftigung von Lohnarbeitern durch das Kapital. Das geschah, wie das vorangehende Kapitel aufgezeigt hat, in großem Stil nicht vor dem 19. Jahrhundert. Die Menschen werden in diese Gesellschaftsform integriert, indem sie zu Lohnarbeitern werden und alle gleichermaßen ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, um zu überleben. Das ist allerdings ein Nebenprodukt des Kapitalismus. Nur in der Phase der Industrialisierung besteht eine hinreichende Nachfrage nach formal freier Arbeitskraft. In den Phasen davor und danach bestehen für Menschen ohne Arbeit die Optionen Verelendung und staatliche Unterstützung. Allerdings sind die Menschen in der postindustriellen Phase potentiell freie Arbeitnehmer und potentiell gleiche Mitglieder einer Demokratie, nicht mehr Menschen ohne Bürgerrechte.

Die vom Land vertriebenen Menschen hatten bis zur Industrialisierung in den Städten und in der Industrie keine Arbeit. Das Kapital wurde nicht in die Produktion investiert, sondern in Grundeigentum, Finanzinstrumente und den Handel, insbesondere in den Fernhandel. Erst als der Kolonialhandel nicht mehr so profitabel zu werden begann sowie Absatzmärke in Europa und den Kolonien anwuchsen, investierten Kapitalisten in Arbeit und Maschinen. Das begann nicht vor dem 18. Jahrhundert. Der größte Teil des Kapitals blieb allerdings bis heute in Land und Finanzen investiert. Auch der Handel verlor seine Bedeutung mit dem Industriekapitalismus nicht.

Die marxistische Annahme einer polaren Gesellschaftsstruktur von Kapitalisten und Arbeitern ist daher nicht zutreffend – wenn man wie MarxMarx, Karl unter Kapitalisten Industrielle und unter Arbeitern Lohnarbeiter in der Produktion versteht.1 Diese Gruppen waren immer nur Minderheiten, auch heute. In einem anderen Sinne aber trifft die Annahme zu. Es gibt eine kleine Gruppe von Menschen mit Kapital (weniger als 0,1 Prozent der Bevölkerung) und diejenigen ohne Kapital, die für ihren Lebensunterhalt auf die Unterstützung der Kapitaleigentümer, auf Lohnarbeit, angewiesen sind.2 Diese Struktur hat Karl Marx in seinen Frühschriften erläutert. Er schrieb, dass für den Arbeiter nur ein Leben existiere, wenn er ein Kapital finde, das ihn beschäftigt.3 Seine Bemerkung verdient eine genauere Untersuchung.

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