Die kapitalistische Gesellschaft

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2.6 Technologie und Industrie

Die wissenschaftliche Ausbeutung der Wirtschaft ist ein weiteres Kennzeichen des Kapitalismus, das sich parallel zu dem Kolonialismus, der Enteignung und der Entwicklung des Nationalstaats herausbildete. Die Grundlagen der neuzeitlichen Wissenschaft wurden zunächst von Handwerkern wie Galileo GalileiGalilei, Galileo und Johannes KeplerKepler, Johannes gelegt.1 Sie deuteten das Universum als einen Mechanismus, der mathematisch berechnet und technologisch verwertet werden kann. Die Anwendung dieser neuen Naturwissenschaft wurde sodann in England und Frankreich vom niederen Adel vorangetrieben, der mit dem Apparat des Nationalstaats verknüpft war.2 Erst die Möglichkeit, die wissenschaftlichen Erkenntnisse in einer Massenproduktion anzuwenden, führte zur industriellen Revolution. Diese Möglichkeit ergab sich aus der Verbindung frei verfügbarer Arbeitskraft mit großen Märkten.

Der Kapitalismus durchdrang die gesamte Gesellschaft nicht vor der Ausbeutung formal freier Lohnarbeit.3 Mit dem Kolonialismus wurde der Kapitalismus zum Prinzip nicht nur der Kaufmannskaste, sondern der herrschenden Klasse. Der größte Teil der Gesellschaft aber lebte weiterhin in feudalen, subsistentiellen und anderen Strukturen. Auch wenn sich der Kapitalismus durch die Kolonialisierung über den ganzen Erdball ausbreitete, blieben alte gesellschaftliche Strukturen sowohl in Europa als auch in den Kolonien größtenteils bestehen. Der Kapitalismus benötigte die Menschen nicht, und daher lebten die Menschen außerhalb kapitalistischer Strukturen. Geld wurde durch Ausbeutung von Rohstoffen und Sklaven, Handel sowie Finanzgeschäfte gemacht. Erst die Entwicklung der Industrie erzeugte einen Bedarf an Arbeit. Da freie Arbeiter letztlich billiger waren als Sklaven, sie selbst alle Risiken und die Last der Versorgung trugen, und ihnen bei Bedarf gekündigt werden konnte, löste Lohnarbeit die Sklaverei weitgehend ab.4

In Schulbüchern wird der westliche Kapitalismus gerne mit der Industrialisierung verbunden oder sogar auf sie zurückgeführt. Die industrielle Revolution begann jedoch erst im 18. Jahrhundert, insbesondere mit der (Wieder-)Erfindung der Dampfmaschine 1784 und ihrem Einsatz für die industrielle Produktion und das Transportwesen. Zentral war außerdem die Entwicklung der Spinnmaschine in den 1760er Jahren, die eine Explosion der Produktivität in der Textilproduktion nach sich zog. Die Auswirkungen der technologischen Entwicklung machten sich erst Mitte des 19. Jahrhunderts bemerkbar. 1820 hatte Asien noch einen Anteil von 59 Prozent an der Weltproduktion, also mehr als Europa und der Rest der Welt zusammen.5

Bis dahin spielte die Produktion für den Kapitalismus eine geringe Rolle. Es gab kaum Fabriken in Europa, die Produktion war Sache des Handwerks, das in Gilden und Zünften organisiert war, sowie der feudalen und subsistenzmäßigen Landwirtschaft. Das Wirtschaftswachstum innerhalb Europas beruhte vor allem auf dem vermehrten Einsatz von Lohnarbeit, nicht auf einer technologisch bedingten Steigerung der Produktivität.6 Die wissenschaftliche Steuerung der Massenproduktion, die erst im 19. Jahrhundert voll entwickelt wurde, ist der Schlüssel zur industriellen Revolution gewesen. In diesem Prozess wurden Fabriken errichtet, die große Zahlen von Arbeitern beschäftigten und im Hinblick auf Preise und Produktivität miteinander konkurrierten, also Arbeit einzusparen suchten. Die wissenschaftliche Steuerung und die Massenproduktion begannen zuerst in England. Sie wurden durch die Erträge des Kolonialismus, des Grundeigentums und der Finanzspekulation (insbesondere mit Staatsanleihen) finanziert.

Die industriellen Erzeugnisse Englands wurden in Europa und den Kolonien verkauft, allerdings bis ins 19. Jahrhundert in begrenztem Maße. Erst die Massenproduktion brachte Erzeugnisse hervor, die in Asien nachgefragt wurden.7 Allerdings half bei diesem Prozess die Unterdrückung der indigenen Industrie durch die Kolonialverwaltung. Unter dem Verbot der einheimischen Textilindustrie, die vor dem Kolonialismus entwickelter war als die europäische, hat Indien bis heute zu leiden, da eine industrielle Basis erst nach der Unabhängigkeit aufgebaut werden konnte, nachdem die einheimischen Traditionen vergessen waren und der Westen längst eine hochtechnisierte Industrie entwickelt hatte.

Heutzutage spielt die Industrie in den meisten westlichen Ländern eine immer geringere Rolle für die Wirtschaft. Die Produktion ist entweder so technisiert, dass kaum Arbeit notwendig ist, oder sie wird in Billiglohnländer verlagert. In den USA trägt die Industrie heute weniger als 15 Prozent zum Bruttosozialprodukt (BSP) bei – weniger als in den landwirtschaftlich geprägten ärmsten Ländern der Welt wie Nepal oder Niger.8 Die industrielle Produktion war nur so lange von entscheidender Bedeutung für den Kapitalismus, wie die Profitraten höher waren als in anderen Bereichen der Wirtschaft. Das wiederum war nur unter kolonialen Bedingungen der Fall. In der kolonialen Welt konnten die Kolonialmächte ihre Rohstoffe zu sehr geringen Kosten aus den Kolonien beziehen, sie im eigenen Land verarbeiten und die Endprodukte zu hohen Preisen verkaufen. Mit dem Ende der Kolonialzeit und der Abwanderung der Industrie in die ehemaligen Kolonien verringerte sich die Rentabilität der Industrie im Westen, und das Kapital kehrte zurück in den Handel und die Finanzwelt.

In der Phase der Industrialisierung schrieben Adam SmithSmith, Adam, David RicardoRicardo, David und Karl MarxMarx, Karl die Klassiker der Volkswirtschaftslehre. Sie alle hielten die Industrie für das Zentrum des Kapitalismus und die Produktivität der Arbeit für seinen Motor. Infolge der großen Bedeutung der Naturwissenschaften zu jener Zeit bemühten sie sich, den Kapitalismus als ein Phänomen zu erklären, das naturwissenschaftlichen Gesetzen unterlag. Im Nachhinein zeigt sich, dass die Industrie kaum zwei Jahrhunderte lang den Kern des Kapitalismus bildete. Auch der Glaube, dass der Profit allein durch die Ausnutzung von Lohnarbeit gebildet wird, erweist sich als kurzsichtig. Und schließlich stellt sich heraus, dass der Kapitalismus keineswegs naturwissenschaftlichen Gesetzen unterliegt, sondern gesellschaftlich produziert wird.

MarxMarx, Karl hat den Kapitalismus als eine Produktionsweise gedeutet, eine historische Stufe der Entwicklung materieller Reproduktion.9 Der Kapitalismus soll ihm zufolge die historische Aufgabe erfüllen, die Produktivkräfte zu verbessern. Damit lässt sich der Kapitalismus als eine Stufe in einer teleologischen Höherentwicklung der materiellen Reproduktion der Menschheit erklären.10 Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise ist laut Marx die kostenlose Mehrarbeit, die industrielle Lohnarbeiter (Proletarier) für den Kapitalisten leisten.11 Ihre Ausbeutung soll historisch durch „ursprüngliche Akkumulation“ ermöglicht werden, insbesondere durch den Kolonialismus und die Enteignung, die zu einer Konzentration von Kapital innerhalb einer sozialen Klasse führen.12

Diese Erklärung des Kapitalismus ist in vieler Hinsicht plausibel, enthält meines Erachtens aber mehrere Fehler. Erstens schafft die Ausbeutung von Sklaven oder der Natur für MarxMarx, Karl keinen ökonomischen Wert. Das ist falsch. Zweitens ist der Aberglaube an historische Gesetze gerechtfertigt, wenn man wie Hegel Gott zugrunde legt, nicht aber aus Marxscher Perspektive. Drittens beruht die gesellschaftliche Hierarchie laut Marx auf dem Grundverhältnis der kapitalistischen Produktionsweise, dem zwischen Kapital und Proletariat. Letztlich ist es genau umgekehrt. Das Verhältnis zwischen Kapital und Proletariat beruht auf der gesellschaftlichen Hierarchie. Schließlich war der Kapitalismus schon vor der Industrialisierung entfaltet, die Kolonialgesellschaften waren kapitalistische Unternehmen und nicht nur ursprüngliche Akkumulation.

Wir werden am Ende des Kapitels sehen, dass der Kapitalismus keinesfalls die historische Aufgabe hat, die Produktivkräfte zu verbessern, auch wenn er das tatsächlich getan hat. MarxMarx, Karl hat wie SmithSmith, Adam die Bedeutung der Produktion für den Kapitalismus stark überschätzt. Der Kapitalismus setzt vielmehr eine materielle Reproduktion der Gesellschaft außerhalb seiner selbst voraus. Ohne die kostenlose Arbeit in der Familie, ehrenamtliche Tätigkeit, staatliche Sozialmaßnahmen und eine nicht-kapitalistische Wirtschaft würde der Kapitalismus sofort zusammenbrechen, weil die meisten lebensnotwendigen Tätigkeiten nicht kapitalistisch organisiert werden können. Sie bringen keinen Profit. Selbst der größte Teil der Wirtschaft ist nicht kapitalistisch organisiert. Die Kapitalisten monopolisieren nicht die Produktionsmittel. Viele der Produktionsmittel absolut notwendiger Güter, von Bauernhöfen über Bäckereien bis zu Handwerksbetrieben und Präzisionsmaschinen befinden sich im Besitz kleiner und mittlerer Unternehmer, die auch Marx nicht zur Klasse der Kapitalisten gezählt hätte.

Mit höchster Wahrscheinlichkeit gibt es keine historische Aufgabe des Kapitalismus. Wenn es sie gäbe, bestünde sie nicht in der Entwicklung der Produktivkräfte. Die Klasse der Kapitalisten beutet alles aus, was einen Profit bringen kann. Dazu gehört auch die industrielle Lohnarbeit – aber ebenso die Finanzspekulation, Sklavenarbeit und der Abtransport von Ressourcen. Sie dienen allesamt nicht der Produktion eines ökonomischen Werts und nicht einmal vorrangig der Bereicherung einer Klasse, sondern einer Herrschaftsstruktur. Wir müssen den Kapitalismus als Komponente einer bestimmten Gesellschaftsform deuten, die hierarchisch organisiert ist, nicht als Wirtschaftssystem oder Produktionsweise.

2.7 Ausbeutung der Natur

Die Menschen – und alle anderen Lebewesen – leben seit jeher von der Natur. Nur der Kapitalismus aber beutet die Natur systematisch aus, um Profit zu machen. Zwar wurde bereits vor vielen Jahrtausenden mit Naturprodukten gehandelt, von Salz über Wurzeln bis hin zu Muschelschalen. Auch wenn diese Handelstätigkeit gelegentlich auf persönlichen Gewinn abzielte, war sie doch zumeist Tausch, der ein überschüssiges gegen ein fehlendes Produkt eintauschte. Aber selbst der auf den Gewinn ausgerichtete, also kapitalistische Handel erfasste nicht die Gesellschaft, sondern war auf kleine Gruppen beschränkt.

 

Wir haben gesehen, dass der Abtransport von Rohstoffen – von Edelmetallen aus Amerika bis zu Gewürzen aus Asien – im Zentrum des frühen Kolonialismus stand. Er wurde später ergänzt um landwirtschaftliche Produktion durch Sklaven, Zwangsarbeiter oder abhängige Bauern in den Kolonien und durch Enteignung in Europa. In diesem Kontext müssen wir auch die Naturzerstörung innerhalb Europas betrachten. Im frühen Kolonialismus wurden die Wälder für den Bau von Flotten abgeholzt. Sodann wurde Natur in landwirtschaftliche Produktionsstätten verwandelt, sowohl für die Viehzucht als auch für den Ackerbau. Das taten zwar auch andere Gesellschaften, aber nicht in einem derartigen Ausmaß. Schließlich explodierten die Ausbeutung der Ressourcen und die Verschmutzung von Luft, Wasser und Erde mit der industriellen Revolution. Schon Adam SmithSmith, Adam beschrieb 1776 die systematische Ausbeutung der Natur zum Zwecke des Gewinns.1

Die Ausbeutung von Rohstoffen und Landnahme sind bis heute zentrale Elemente des Kapitalismus. Die gesamte industrielle Produktion beruht auf Rohstoffen, aber auch viele unserer Lebensgrundlagen – Wasser, Wohnraum, Nahrungsmittel – sind nur über den Eintritt in das kapitalistische System zugänglich. Selbst indigene Dörfer, die im Urwald leben, dürfen immer weniger Pflanzen aus ihrer Umgebung nutzen. Großunternehmen schicken Forscher in alle Teile der Welt, um die Nutzung von Pflanzen zu dokumentieren, die dann im Namen des Großunternehmens patentiert werden; eine Nutzung ist nur noch gegen Zahlung einer Gebühr möglich.2

Ohne die nahezu kostenlose Aneignung der Natur fiele das Wirtschaftswachstum des Kapitalismus sehr gering aus. Die Ausbeutung der Natur hat vermutlich mehr zum Wachstum beigetragen als die Technologie, wie die Tabellen 1 und 2 nahelegen. Tabelle 1 zeigt auch, dass und in welchem Maße die Ausbreitung des Kapitalismus mit der Zerstörung der Natur einhergeht. Die Korrelation zwischen Ressourcenverbrauch, Naturzerstörung und Wirtschaftswachstum weltweit ist eindeutig. Sie beruht auf dem Kapitalismus.


1850 1900 1950 2010
CO2-Ausstoß Mio. t 100 2000 8000 32000
Wasserverbrauch in Mrd. m3 600 1200 4000
Aussterbende Amphibienarten <0,1% 0,2% >1,0% 2,3%
BSP in Billionen USD 2011 Ca. 1,5 Ca. 3,4 Ca. 13 Ca. 94

Tab. 1: Globaler Ressourcenverbrauch und Wachstum (Quellen: ourworldindata.org; Der Spiegel, 6.5.2019).

Die Ausbeutung der Natur hat im Kapitalismus systematischen Charakter. Sie schließt die gesamte Gesellschaft und die gesamte Natur ein. Während die meisten früheren Gesellschaften auf Nachhaltigkeit gegründet waren, verwandelt der Kapitalismus zunehmend alle natürlichen Gegenstände in Waren, um durch deren Verkauf Gewinn zu erzielen. Dieser Prozess tendiert, wie wir alle wissen, dahin, die Lebensgrundlagen der Menschheit zu zerstören.

Ulrich BrandBrand, Ulrich und Markus WissenWissen, Markus haben gezeigt, inwiefern der Kapitalismus auf der Externalisierung der Ausbeutung von Mensch und Natur basiert.3 Während einerseits Natur als „Gratisproduktivkraft“ genutzt werde, müssten andererseits Wälder im globalen Süden das im Norden ausgeschiedene Kohlendioxid absorbieren, Müll aus dem Norden in den Süden transportiert werden und Menschen im Süden möglichst billig arbeiten.4 Die Autoren erläutern nicht nur, dass wir alle diese Ausbeutung mit unserer alltäglichen Lebensweise reproduzieren, sondern auch, dass wir möglicherweise bald an die Grenzen der Ausbeutbarkeit stoßen. Tatsächlich scheint innerhalb des kapitalistischen Systems, wie es heute funktioniert, keine Rettung der Natur möglich. Sie wird ausgebeutet, bis das letzte Sandkorn abtransportiert und verkauft wurde.

In welchem Maße der Kapitalismus auf der kostenlosen Ausnutzung von Mensch und Natur beruht, hat besonders deutlich der Ökofeminismus gezeigt.5 Nicht nur die natürlichen Ressourcen, sondern auch die Reproduktion in der Familie und die sozialen Tätigkeiten wie Pflege werden vom Kapitalismus angeeignet, aber nicht bezahlt, anerkannt oder ersetzt. Ohne sie gäbe es keine kapitalistische Wirtschaft.

Die Ausbeutung der Natur dient nicht der Gesellschaft oder den Menschen insgesamt, sie wird auch nicht vom Menschen „an sich“ betrieben. Sie dient der Herrschaft über Menschen. Meinen Sie, dass der Vorstand von Shell die Menschheit mit Öl versorgen will oder Kleenex Kahlschlag betreibt, weil Kosmetiktücher eine Errungenschaft sind, über die jeder Mensch verfügen sollte? Selbstverständlich nicht, es geht um Profit, um die Vermehrung von Geld. Wozu aber dient das Geld? Die Vorstände und Großaktionäre dieser Unternehmen brauchen das Geld nicht in erster Linie, um zu überleben oder um teure Konsumgüter zu kaufen. Derartige Mengen an Geld kann man gar nicht ausgeben. Vielmehr dient das Geld als Herrschaftsmittel, es sichert die soziale Position und die Herrschaft über andere Menschen, wie ich unten eingehend zeigen werde.

2.8 Politische Legitimation

Im frühen 17. Jahrhundert entbrannte in Europa der Dreißigjährige Krieg und in England ein Bürgerkrieg, an dem alle sozialen Schichten beteiligt waren. In der Folge wurde in England ein Parlament als Volksvertretung eingerichtet, zu dem allerdings nur ein kleiner, privilegierter Teil der Bevölkerung Zugang hatte. Die englische Revolution begrenzte zwar die Macht der Monarchie, war aber eigentlich keine bürgerliche Revolution. Das Parlament bestand aus erblichen Mitgliedern von Adel und Großbürgertum. Bis weit ins 20. Jahrhundert rekrutierten sich Regierung und hohe Beamte aus der Oberklasse. Letztlich handelte es sich um eine Demokratie der Kapitalbesitzer ohne Mitspracherecht für die Masse der Bevölkerung.1 Daran änderte sich erst durch die Sozialreformen unter der Labour Party nach dem Zweiten Weltkrieg etwas. Schon Margaret ThatcherThatcher suchte die Reformen wieder rückgängig zu machen, teilweise mit Erfolg.

In den Lehrbüchern wird verkündet, dass die Demokratie mit der französischen und der amerikanischen Revolution zumindest in der westlichen Welt verwirklicht worden sei. Allerdings fanden in den anderen Staaten Europas derartige Revolutionen erst im 19. oder 20. Jahrhundert oder überhaupt nicht statt. Ferner blieben in allen Staaten, auch in Frankreich und den USA, bis ins 20. Jahrhundert die meisten Menschen von politischer Beteiligung ausgeschlossen. Sklaven und Arbeiter erhielten in den meisten Staaten erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Bürgerrechte, Frauen und Kolonialvölker während des 20. Jahrhunderts. Einigen Gruppen, wie Ausländern und Strafgefangenen, bleiben sie vielerorts bis heute verwehrt. Die Demokratie im Sinne der formalen Gleichheit aller Menschen wurde selbst in Frankreich und den USA nicht mit der Revolution, sondern schrittweise eingeführt. Die später integrierten Gruppen sind bis heute unterprivilegiert und haben kaum Kapital und nur einen geringen Einfluss auf die Politik.

Heute bezeichnen sich Großbritannien mit einer verfassungsmäßig privilegierten Aristokratie und einem Monarchen, Schweden mit einem starken Sozialstaat und einem Monarchen, die Schweiz mit Tendenzen zur direkten Demokratie und China mit einer kommunistischen Ein-Parteien-Herrschaft allesamt als Demokratien. Keiner dieser Nationalstaaten hat die Gleichheit der Menschen verwirklicht. Die Staaten unterscheiden sich fundamental voneinander, haben aber gemeinsam, dass die Gruppe der Kapitalisten den Kern der Oberklasse bildet. Die Unterschiede beruhen auf der jeweiligen Vorgeschichte der Demokratie und dem Anteil, den die sozialen Gruppen ohne Kapitalbesitz an der Gestaltung des Staates erringen konnten.

Die Varianten der Demokratie resultieren aus politischen Kämpfen. In einigen Staaten wurden infolge der Kämpfe viele Privilegien des Adels abgeschafft. Einige Länder haben auch die Vorrechte des Kapitals begrenzt. Und die sozialistischen Revolutionen haben sogar versucht, die Gruppe der Kapitalisten abzuschaffen. Nirgendwo wurden jedoch die Strukturen der Herrschaft beseitigt, überall herrschte eine kleine Gruppe von Menschen über den Rest, sei es offensichtlich und formal legitimiert, sei es indirekt und unsichtbar. Das Buch beschäftigt sich vor allem mit der unsichtbaren Herrschaft.

Nach der Einführung einer Demokratie bestand prinzipiell eine Spannung zwischen dem Anspruch auf Gleichheit und den Strukturen der Ungleichheit. Es besteht auch ein latenter Gegensatz zwischen der Konzentration des Kapitals und der Volksvertretung, der sich oft als Konflikt zwischen Staat und Wirtschaft darstellt. Der demokratische Staat bietet immer die prinzipielle Möglichkeit, dass unterprivilegierte Gruppen die Politik beeinflussen oder gar die Herrschaft ergreifen. Da die unterprivilegierten Gruppen jedoch keinen Zugang zum Kapital haben, ist es für sie ungleich schwieriger, Einfluss auf die Politik zu nehmen.

Die Ungleichheit in kapitalistischen Gesellschaften ist offenkundig. Während manche Familien Schlösser, Wälder, Unternehmen und Finanzinvestitionen im Wert von Milliarden besitzen, haben die meisten Menschen Mühe, mit harter Arbeit über die Runden zu kommen. Es ist auch offenkundig, dass die Nachkommen von früher unterprivilegierten Gruppen – wie Kolonialvölker, Sklaven, Arbeiter oder ethnische Minderheiten – auch heute unterprivilegiert sind. Gerade in demokratischen Staaten müsste diese Ungleichheit eigentlich ein Skandal sein, der zum sofortigen Handeln auffordert. Warum ist das nicht der Fall? Die Antwort lautet, dass Ungleichheit im Kapitalismus offiziell zum Resultat von Konkurrenz erklärt wird. Dass die Ausgangssituation der Konkurrenz von Ungleichheit geprägt ist, wird unsichtbar gemacht. Dadurch wirkt die Ungleichheit legitim. Das ist das vorrangige Geheimnis, warum sich der Kapitalismus trotz der strukturellen und historisch einzigartigen Ungleichheit aufrechtzuerhalten vermag.

Die Sozialwissenschaften der letzten Jahrhunderte haben sich zu einem beträchtlichen Teil mit der Ungleichheit beschäftigt. Die Tradition des Liberalismus versucht seit dem 17. Jahrhundert bis heute, die Menschen zu faktisch gleichen Bürgern des Staates zu erklären. Alle sollen die gleichen politischen und wirtschaftlichen Chancen haben. Obwohl das in direktem Widerspruch zur Wirklichkeit steht, die wir jeden Tag erfahren, glauben fast alle von uns an diese Grundlage des Liberalismus: Wir sind alle gleich, uns stehen alle Möglichkeiten offen, und wer im Elend lebt, hat zumindest teilweise selbst daran schuld.

Der Liberalismus lässt sich zum englischen Philosophen Thomas HobbesHobbes, Thomas zurückverfolgen. Inmitten des englischen Bürgerkriegs hat er sein Hauptwerk, Leviathan, geschrieben und 1651 veröffentlicht.2 Hobbes wandte Galileis Wissenschaft auf die Gesellschaft an und erklärte alle Menschen für gleiche Atome, die miteinander konkurrieren. Der Souverän, vertreten durch den Monarchen, sollte die Konkurrenz regulieren. Diese Idee hat Jean-Jacques RousseauRousseau, Jean-Jacques Mitte des 18. Jahrhunderts weiterentwickelt und den Monarchen durch eine Volksvertretung ersetzt.3 Das Konzept der modernen Demokratie war geboren und wurde 1776 in den USA und 1789 in Frankreich zur Anwendung gebracht. Die Gesellschaft wird zur Demokratie, der Souverän ist das Volk. Allerdings hatte Rousseau eine direkte Demokratie vor Augen, in der alle Bürger in der Volksvertretung mitwirken. In der heutigen Demokratie hingegen wird das Volk vertreten durch Berufspolitiker, die sich aus den Eliten rekrutieren und von der herrschenden Klasse abhängig sind. Weiter unten werde ich zeigen, dass das einer der zentralen Schwachpunkte der heutigen Politik ist.

 

HobbesHobbes, Thomas’ Theorie einer Konkurrenz gleicher Atome wurde von Adam SmithSmith, Adam auf die Wirtschaft übertragen. In seinem bekanntesten Werk, Der Wohlstand der Nationen, das im Jahr der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776 veröffentlicht wurde, führt Smith aus, dass der Markt als Konkurrenz zwischen freien und rechtlich gleichen Individuen ein Maximum an Produktivität, Qualität und Preissenkungen gewährleiste.4 Das gelte auch für die internationale Produktion und den Welthandel. Die Nationen sollten frei und gleich konkurrieren und sich dabei auf ihre relativen Vorteile spezialisieren. Genauso sollten sich auch Individuen und Unternehmen verhalten. Auf Grundlage des Marktes, der Arbeitsteilung und der Konkurrenz steige der Wohlstand jeder Nation. Monopole, Zünfte, Kartelle, Raub und staatliche Eingriffe seien hingegen nachteilig.

Der Staat soll SmithSmith, Adam zufolge allerdings formal die Märkte für Arbeit und Kapital so regulieren, dass eine möglichst freie und gleiche Konkurrenz stattfindet. Dabei berücksichtigt Smith erstens nicht, dass Kapital und Fähigkeiten zu jedem Zeitpunkt sehr ungleich verteilt sind, die Menschen also mit sehr ungleichen Voraussetzungen in die Konkurrenz eintreten. Zweitens dient die Regulierung zwar dem allgemeinen Wirtschaftswachstum, dem Wohlstand der Nationen, aber dass die Profite allein den Besitzern ökonomischen Kapitals zufließen, problematisiert Smith nicht. Er schreibt, als sei es selbstverständlich, dass die Arbeiter, besser gesagt: alle Menschen ohne ausreichendes ökonomisches Kapital, nur je auszuhandelnde Festbeträge als Löhne erhalten, die Kapitalisten aber die Profite.5

Die Gedanken von HobbesHobbes, Thomas, RousseauRousseau, Jean-Jacques und SmithSmith, Adam sind bis heute Grundlagen der Politik- und Wirtschaftswissenschaften. Sie sind aber auch in die Verfassungen der meisten Staaten und – über Schulbücher, Fachliteratur, Medien und Expertenmeinungen – in das Allgemeinwissen oder den „gesunden Menschenverstand“ eingegangen. Indem wir uns die kapitalistische Welt als eine Konkurrenz gleicher und freier Individuen vorstellen, sehen wir die grundlegende Ungleichheit nicht, die sich auf vorkapitalistische Hierarchien zurückführen lässt. Vor aller Konkurrenz werden wir als Ungleiche geboren. Nur sehr wenige Menschen werden als Kapitalisten geboren. Wir werden im Folgenden sehen, dass kaum eine Mobilität aus der oder in die Kapitalistenklasse existiert, obwohl genau das die Legitimationsgrundlage des Kapitalismus sein soll.

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