Buch lesen: «Zeit»
Bodil Jönsson
Als erstes zu lesen
Vieles, worüber ich in diesem Buch schreibe, beschäftigt mich schon seit über zwanzig Jahren. Manche Gedanken sind schon in viele Briefe, Gespräche, Vorträge, Publikationen und Radiosendungen eingeflossen. Einiges ist auch im Hörbuch »Das andere Portemonnaie« enthalten, das Karin Örnfjäll und ich im Dezember 1997 aufgenommen haben.
Und nun entsteht auf vielfachen Wunsch auch noch ein Buch. »Auf vielfachen Wunsch« mag ziemlich eingebildet klingen, aber es war wirklich so. Eigentlich wundert es mich auch nicht – in diesen zwei Jahrzehnten habe ich gemerkt, dass sich viele Menschen über ihr Verhältnis zur Zeit den Kopf zerbrechen. Sie wollen darüber sprechen, sie suchen den Gedankenaustausch und neue Ideen. Nicht nur, weil sie ihre Probleme verdrängen wollen – sie wollen darüber auch wirklich nachdenken und vielleicht sogar ihren Frieden machen mit der Vergänglichkeit der Zeit.
Die Zeit ist nichts, womit man ein für alle Mal zu Rande kommt. Vielleicht könnten Sie es so halten wie ich: das ganze Leben lang eine vierstufige Treppe auf- und abwandern. Wer die erste Stufe erklimmen will, muss sich bereits davon gelöst haben, immer die gleichen deprimierenden Gedanken zu wiederholen: »Mein Gott, ich habe so wenig Zeit!«, »Nein, ich habe keine Zeit!« oder »Ich weiß nicht, wie ich das alles schaffen soll«.
Auf der ersten Stufe kommen Sie dann langsam zu der Erkenntnis, dass man das Problem mit der Zeit nicht verdrängen muss, sondern auch ganz anders damit umgehen kann. Wenn es Ihnen gelingt, die zweite Stufe zu erreichen, dann haben Sie schon begonnen, gründlicher über Ihre Zeit und Ihren Umgang damit nachzudenken. Manche Gedanken sind Ihnen möglicherweise schon vertraut, sie können sie strukturieren, Assoziationen bilden und Querverbindungen herstellen. Womöglich lachen Sie sogar (nachsichtig) ein wenig über sich selbst und fragen sich: »Mache ich es schon wieder?«
Auf der nächsten, der dritten Stufe haben Sie dann gelernt, Ihre Gedanken über die Zeit und die Art, wie Sie im Lauf der Zeit leben, zu beschreiben. Das erleichtert es nicht nur, mit anderen über diese Fragen zu sprechen – es bedeutet auch viel für Ihr eigenes Denken. Erst, wenn Sie sich Ihrer eigenen Gedanken bewusst sind, besitzen Sie ein festes Fundament für Ihre weiteren Schritte. Sie müssen nicht jedes Mal wieder von vorne anfangen, sondern stehen jetzt gewissermaßen auf Ihren eigenen Schultern und können von dort aus vielleicht Stufe vier erklimmen – nun gelingt es Ihnen, Ihre eigenen Denkmuster und Methoden gegen andere Konzepte, die es geben mag, abzuwägen.
Auf der vierten Stufe können Sie eine Zeit lang verweilen. Sie glauben nun, alles, was für Ihr eigenes Verhältnis zur Zeit wichtig ist, begriffen zu haben. Aber dann tritt plötzlich irgendein Ereignis ein, eine neue Lebenssituation, oder Sie fallen (nur zu oft!) wieder in ihr altes Verhalten zurück, und schon ist es aus mit solchen stoischen Überlegungen. Dann müssen Sie vielleicht noch einmal auf einer der unteren Stufen anfangen. Aber das fällt jedes Mal etwas leichter.
Damit soll es genug sein mit meinem Gedankenbild von der Treppe, vielleicht kann ja nur ich selbst etwas damit anfangen. Ich will jedoch davon erzählen, was ich bei meinen Kletterpartien auf der Treppe erlebt und gedacht habe. Und ich würde mich freuen, wenn es Ihnen auch weiterhilft.
Das Schreiben dieses Buches hat wirklich Spaß gemacht. Alles, was damit zusammenhing: das Alte zusammenzusuchen und das Neue zu schreiben und am Ende aus allem einen neuen Strauß zu binden. Und dann zur Krönung des Ganzen und als Tüpfelchen auf dem I das Vorwort wie unten datieren zu können. Drei Einser und drei Neunen sind wahrlich nicht zu verachten. Und ebenso seltsam wie eine Zwei und drei Nullen.
Am Stenshuvud, 1.1.1999 | Bodil Jönsson |
1. Kapitel
Zeit –
das einzige, was uns gehört
Es gab in meinem Leben nicht besonders viele Idole. Vielleicht nur ein einziges: meine Großmutter. Sie starb, als ich noch keine sieben war. Aber sie dominiert meine wenigen konkreten Erinnerungen an meine Kindheit.
Dass meine Großmutter sich so sehr in mein Gedächtnis eingeprägt hat, hat sicher viele Gründe, aber im Moment denke ich vor allem an einen: Meine Großmutter hatte nie zu wenig Zeit. Nach unseren Maßstäben hatte sie zweifellos zu wenig Platz, manchmal sicher auch zu wenig zu essen, es fehlte ihr bisweilen an Heizung und Licht. Aber sie hatte nie zu wenig Zeit. Sie empfand es nicht so; sie betrachtete das Leben nicht unter diesem Aspekt.
Zwei Generationen später gehöre ich einer Kultur an, die sich vormacht, sie hätte zu wenig Zeit – zu wenig von dem einzigen, was uns wirklich gehört.
Ein Menschenleben dauert im Durchschnitt 30 000 Tage. Sie machen unser Kapital, unser individuelles Vermögen aus. Deshalb ist es nicht richtig und schon gar nicht menschenwürdig, wenn wir akzeptieren, dass Zeit als Mangelware empfunden wird.
Wie konnte die relative Seelenruhe der fünfziger Jahre – nach einem halben Jahrhundert ständig wachsenden Wohlstands – in eine derart deutlich greifbare Un-Ruhe und einen Un-Rhythmus umschlagen, den viele Menschen spüren? Vielleicht hängt dieser Wandel vor allem damit zusammen, dass der innere Rhythmus des Menschen in einem für uns selbst nachteiligen Maße anpassungsfähig und dehnbar ist. Der tätige Mensch umgab sich mit immer mehr Technik und ließ sich dadurch eine Lebensweise aufdrängen, in der er nicht mehr selbst über seine eigene Zeit bestimmt. Menschliche Kreativität, Phantasie, Empfindsamkeit und Flexibilität sind an eine Technik geraten, die vorhersagbar, ohne Phantasie und unfähig zur Veränderung ist. Oder – anders ausgedrückt – der Mensch als vergessliches, unlogisches, chaotisches und gefühlsbetontes Wesen versucht sich mit einer Technik zu arrangieren, die über ein gutes Gedächtnis verfügt, exakt und logisch, durchorganisiert und ganz und gar nicht zu beeinflussen ist.
Die Unfähigkeit des Menschen, einen Zeittakt zu bewahren, der seinem Wesen entspricht, hat sich in früheren Stadien der Evolution nicht so stark bemerkbar gemacht. Als Leonardo da Vinci sein berühmtes Bild des Menschen als Maß aller Dinge entwarf, handelte es sich um ein geometrisches Bild. Er brauchte eigentlich nur Längen, Flächen, Volumina und deren Verhältnis zueinander zu berücksichtigen. Unsere Zeit verlangt nach einem neuen Bild vom Menschen als Maß aller Dinge. Noch ist es nicht erfunden worden.
Das andere Portemonnaie
Besitzen Sie etwas, das Sie eintauschen könnten gegen Geld oder menschliches Beisammensein? Das Sie verwenden könnten für die Beschäftigung mit Ihrer Umgebung (Umwelt, Natur, Technik, Produkte) oder um zu lernen und sich um Ihr emotionales Leben zu kümmern? Schauen Sie sich die Zeichnung am Anfang dieses Kapitels an. Dort sehen Sie ein gewöhnliches Portemonnaie mit verschiedenen Fächern. Eines ist für das Geld bestimmt. Ein anderes für die Menschen, die Ihnen nahe stehen und mit denen Sie beruflich oder aus anderen Gründen zu tun haben. Das dritte Fach ist für Ihr weiteres Umfeld bestimmt, also für Umwelt, Natur und verschiedenste Tätigkeiten. Und dann gibt es noch ein Fach für die innere Welt: Ihre Gedanken und Gefühle.
Diese Einteilung erscheint auf den ersten Blick wenig sinnvoll, denn zwischen den einzelnen Fächern können wir ja nichts austauschen. Man kann mit Geld kein Wissen erkaufen, Beisammensein nicht gegen Waren eintauschen. Aber neben dem Portemonnaie liegt das Symbol für die eigentliche Leitwährung: die Zeit. Sie kann gegen den Inhalt jeden Faches eingetauscht werden. Unser eigentliches Kapital ist also die Zeit.
Zumeist sind wir nicht nur mit einem dieser Fächer beschäftigt, doch es lohnt sich, sie einmal isoliert voneinander zu betrachten. Man stellt dann fest, dass individuelle wie gemeinschaftliche Aktivitäten zu einem verblüffend großen Teil in das Geldfach investiert werden. Was würde geschehen, wenn es uns gelänge, unsere Interessen neu auf die vier Fächer zu verteilen? Und vor allem: Was würde geschehen, wenn wir uns mehr für den Wechselkurs interessierten, die Zeit nämlich, die wir für die Einzahlungen und Entnahmen aufbringen? Vielleicht würden wir dann ernsthaft erwägen, ein Amt für Zeitschutz, so wie es Ämter für Naturschutz gibt, einzurichten.
Der vergessene Grundstein
Wenn die Wirtschafts- und Finanzsysteme verrückt spielen, wenn das Ökosystem aus dem Gleichgewicht gerät, wenn Boden, Luft und Wasser aufs Grausamste misshandelt werden, und wenn im Grunde niemand mehr als nur einen begrenzten Teil der Symptome überblickt, dann wird es höchste Zeit, noch einmal neu nachzudenken. Was wäre, wenn wir den wahren Grundstein aus dem Blick verloren hätten? So wie damals, als die eigentliche Ursache, warum das Atomkraftwerk Three Miles Island plötzlich beunruhigende Alarmsignale aussandte, nicht erkannt wurde? Jede Maßnahme, die man ergriff, war den Vorschriften nach richtig und trotzdem falsch, weil man die tatsächliche Ursache nicht gefunden hatte: Ein Ventil war hängen geblieben. Weil das nicht erkannt wurde, tat man das Falsche. Wieder und wieder.
Vielleicht schädigen wir in ähnlicher Weise unsere Umwelt, unser soziales Leben und den eigenen Seelenfrieden, wenn wir den eigentlichen Grundstein unseres Systems nicht beachten, unser Verhältnis zur Zeit nämlich. Wenn da nun etwas »hängen geblieben« wäre? Und was, wenn ein anderes Zeitempfinden uns ganz nebenbei auch zu einem anderen Umgang mit der Natur führen würde, viel effektiver, als es durch einzelne Maßnahmen zum Schutz der Umwelt je möglich ist?
Jedenfalls ist jeder Ansatz, der die in dem Satz »Zeit ist Geld« ausgedrückte Vorstellung erschüttert, zu begrüßen. Das gilt auch für alle Bestrebungen, Geld nicht mehr als Leitwährung im Leben anzusehen. Die damit verbundenen Gefahren waren den Menschen früher viel klarer bewusst. Die Frauen der schwedischen Landarbeiter zum Beispiel wehrten sich gegen die gewerkschaftliche Forderung, ihre Männer für ihre Arbeit, das heißt für ihre Zeit, mit Geld zu bezahlen. Bislang waren die Männer ausschließlich in Naturalien entlohnt worden, und von diesem Deputat hing das Überleben der Familien ab. Das einzige Geld, das dem Haushalt zur Verfügung stand, war das Geld der Frauen gewesen. Wenn sie, zusätzlich zum Melken der Kühe, was mehrmals täglich anfiel, noch einige Handarbeiten oder Ähnliches anfertigen konnten, dann brachte das ein paar Groschen ein. Nadelgeld, wie es damals hieß. Dieses Geld bedeutete ihnen viel. Die Vorstellung, dass jegliche Arbeit, also auch die der Männer, mit Geld entlohnt werden könnte, erschien ihnen als reale Bedrohung.
Seitdem ist sehr viel geschehen, und ein Großteil des abendländischen Fortschritts ist mit dem Vorhaben verknüpft, Zeit zu »sparen«. Ich muss einfach noch eines meiner Lieblingsbeispiele zum Besten geben, wie unsinnig es ist, wenn wir in der westlichen Welt davon sprechen, »Zeit zu sparen«. Nehmen wir an, Ihr Arbeitsplatz liegt fünfzig Kilometer entfernt, so dass Sie jeden Tag mit dem Auto einhundert Kilometer fahren müssen. Das schaffen Sie vielleicht in einer Stunde. Aber brauchen Sie wirklich eine Stunde, um hundert Kilometer zu fahren? Das wollen wir durchrechnen (die Zahlen sind schon etwas veraltet, die Proportionen stimmen aber). Es kostet ungefähr zweihundert Kronen, hundert Kilometer mit dem Auto zu fahren. Der durchschnittliche Nettoverdienst pro Stunde liegt bei fünfzig Kronen. Sie benötigen also vier Stunden, um Ihre Autofahrt zu finanzieren. Also brauchen Sie nicht eine Stunde für die hundert Kilometer, sondern 1 + 4 Stunden, das heißt fünf Stunden. Damit beträgt Ihre durchschnittliche Geschwindigkeit 20 km/h (fünf Stunden auf hundert Kilometer). Also könnten Sie ebenso gut mit dem Fahrrad fahren!
Zeit zum Umdenken
Das Beispiel ist doch überzeugend! Aber wie können wir es uns zu Nutze machen? Man kann ja nicht einfach zu seinem Chef gehen und ihm mitteilen: »Ich werde meine Zeit umdisponieren. Statt acht Stunden zu arbeiten und eine Stunde im Auto zu sitzen, arbeite ich von nun an fünf Stunden und fahre vier Stunden Rad.« Wir können unser persönliches Leben nicht so einfach umkrempeln, alles ist verflochten mit Wirtschaft, Arbeitsplätzen, Einkaufsmöglichkeiten, dem Gesundheitswesen und dem übrigen öffentlichen Sektor. Fast alles beruht auf privatem Autoverkehr. Das soll nicht heißen, dass der Gedanke »Ich könnte vielleicht ebenso gut mit dem Rad fahren« zu nichts führt. Einerseits ist es immer möglich, eine kleine Gewohnheit zu ändern, wenn es das Leben leichter macht. Andererseits können auch große Veränderungen auf diese Weise eingeleitet werden. Solche Rechenexempel oder Bilder, Metaphern und Gleichnisse sind manchmal ganz hilfreich – plötzlich kann man der eigenen, angeblich so rationalen Lebensplanung auch komische Aspekte abgewinnen.
Auf diese Weise könnte man jeden Lebensbereich durchforsten. Nehmen wir zum Beispiel den Preis eines ganz normalen Linienfluges und fragen wir uns, ob wir nicht ebenso gut mit dem Rad fahren könnten. Oder könnte es sein, dass wir uns dermaßen damit beeilen, in Eile zu sein, dass wir für nichts mehr Zeit haben? Doch ja, das wäre möglich. Jedenfalls steht fest, dass vieles durchaus nicht so schnell geht, wie wir uns vormachen. Für einen vermeintlichen Zeitgewinn bezahlen wir stets mit zusätzlichem Arbeitseinsatz.
Wenn mir jemand von einem neu erworbenen Gegenstand erzählt, mit dem sich angeblich Zeit einsparen lässt, dann frage ich – wenn ich mich traue – sofort: »Und was machst du mit dieser Zeit?« Das ist eine gute, aber auch gefährliche Frage. Sie führt uns zurück zu unserem Grundstein. Hier stehen Sie, die Zeit scheint Ihnen davonzulaufen und immer schneller und schneller zu vergehen. Was tun? Sie kaufen etwas, um Zeit zu sparen. Aber die Zeit vergeht immer schneller, und Sie kaufen etwas, um noch mehr Zeit zu sparen ...
Ich selber fing an, mich mit diesen Fragen zu beschäftigen, als ich gerade dreißig geworden war. Ich hatte drei kleine Kinder und einen spannenden Job – und die Zeit verging jeden Tag schneller. Ich sprach darüber mit einer, wie mir damals schien, uralten Frau – ich glaube, sie war eben fünfzig geworden. Als ich etwas stockend zu erklären versuchte, wie sehr es mir Angst machte, dass die Zeit jeden Tag schneller verging, war die Antwort: »Und das sagst du, du bist noch so jung. Warte nur ab, du wirst schon sehen!«
Ihre Worte haben mich sehr betroffen gemacht. Und wie! Denn wenn eine Naturwissenschaftlerin überhaupt etwas beherrscht, dann ist es logisches Denken! Wenn sich die dauernd zunehmende Geschwindigkeit, die ich registriert hatte, noch verstärkte – dann wäre das Leben doch bald zu Ende. Und das wollte ich nicht, denn ich lebte doch so gerne.
Time-out
Ein Samenkorn war gesät worden. Ich machte mich in aller Stille an mein privates Projekt, »die Zeit anzuhalten«. Ich versuchte es mit einer sehr effektiven Methode, nämlich, eine Zeit lang gar nichts zu tun, statt wie ein aufgescheuchtes Huhn herumzurennen. Na ja, was heißt schon »nichts«. Ich bin eben so, wie ich bin – ich habe natürlich trotzdem einiges gemacht.
Äußerlich sah die neue Lage so aus: Nach Weihnachten ließ ich mich für fast zwei Monate beurlauben (im heutigen Sprachgebrauch nennen wir einen solchen Urlaub »Timeout«, und in diesem Zusammenhang ist das wirklich ein passender Ausdruck). Ich war nicht krank, nicht ausgebrannt, nicht deprimiert. Ich wollte einfach nur die Zeit anhalten. In der ersten Woche räumte ich den Dachboden auf und bereitete alles für das Abschleifen des Fußbodens vor, allmählich wurde ich dann aber ruhiger. Ich blieb die ganze Zeit zu Hause. Das war wichtig. Nicht verreisen, keine sonstigen Unternehmungen, nur abwarten. Und langsam kam die Zeitewigkeit zurück. Die panische Überlegung: »Was wollte ich eben tun, was habe ich vergessen?« und die Angst vor der Leere: »Was mache ich bloß als Nächstes?« verflüchtigten sich nach und nach. Tatsache ist, wenn ich zurückblicke, dass die Zeit für mich nie so schnell vergangen ist wie vor dieser »Auszeit«. Und ich bilde mir ein, dass der Trick wieder funktionieren würde. Wenn ich mir wieder einmal wie ein Hamster im Laufrad vorkomme, dann lege ich eine lange Auszeit ein und finde zurück in ein Leben in leidlicher Harmonie mit dem Zeitstrom.
Im Alltag greife ich auch immer wieder zu diesem alten Kniff, wenn auch in viel kleinerem Maßstab. Natürlich gerät auch mein Leben oft in Unordnung, viel zu oft. Aber ich erkenne die Situation wieder und schaffe es meist, einen kleinen Schritt beiseite zu treten, durchzuatmen und von neuem anzufangen. In anderem Zustand. Auch wenn ich wieder im Laufrad stecke, ist es doch ein großer Unterschied zu wissen, dass ich darin nicht in alle Ewigkeit strampeln muss: »Bald, wenn das geschafft ist, bin ich wieder draußen.«
Im tiefsten Herzen weiß ich jetzt, dass es mir nicht an Zeit mangelt. Ich habe Zeit genug. Ich weiß, dass viele sich von einer solchen Behauptung provoziert fühlen. Das haben mir Freunde und unbekannte Menschen immer wieder durch ihre beklommenen Fragen bewiesen. Sie fragen zwar mich, wieso gerade ich so viel Zeit habe, aber in Wirklichkeit geht es ihnen um ihr eigenes Verhältnis zur Zeit. Kann man tatsächlich viel Zeit haben? Wie macht man das?
Keine Patentlösung
Es gibt durchaus Supertricks, dazu komme ich gleich. Aber wir müssen uns vor Augen halten, dass wir mit Patentlösungen, wie sie in vielen Zeit-Management-Ratgebern propagiert werden, nicht weiterkommen. Das Thema ist so persönlich, dass wir nur dann etwas erreichen, wenn wir im tiefsten Inneren daran arbeiten und uns immer wieder damit befassen. Ich schreibe dieses Buch gewissermaßen im Geiste von Krilon. (Die Krilon-Trilogie des Schriftstellers Eyvind Johnson behandelt auf eindrucksvolle Weise die Bedeutung des Gesprächs – auch des Gesprächs, das wir mit uns selbst führen.)
Wie Krilon schleiche ich um die Auseinandersetzung herum. Immer wieder kehre ich zu ihr zurück, aus verschiedenen Richtungen, zu immer anderen Treffpunkten. Einerseits, weil man so oft am besten lernt – nicht durch ein einmaliges Erlebnis oder durch sture Wiederholung, sondern durch Variation. Und andererseits, weil man sein Verhältnis zur Zeit nicht ein für alle Mal klären kann.
Dagegen kann man lernen, die Symptome wieder zu erkennen. Und sich einige Standardtricks zulegen, mit denen man aus dem destruktiven Zeitwirbel auszubrechen vermag.
Freie Zeit
Ob man sich nun zu der Lebenslüge bekennt, man habe wenig Zeit, oder dazu, Zeit genug zu haben – ein verändertes Zeitempfinden führt auf jeden Fall zu neuen Prioritäten in Bezug auf das, was man tut und wie man seine Zeit verwendet. Wer einen voll gepackten Terminkalender hat, stellt regelmäßig fest, dass die vielen Termine und Verabredungen sich gegenseitig Konkurrenz machen. Er muss ständig neue Prioritäten festlegen. (Aber auch wer freie Zeit erleben will, muss Prioritäten setzen.) Er muss Dinge aufgeben, um andere zu tun. Muss etwas fallen lassen, um sich etwas anderes gönnen zu können. Muss sein Leben so einrichten, dass das Projekt »freie Zeit« auf die Bühne treten kann. Um neue Dinge denken und unternehmen zu können. Das erfordert Zeit und Raum, die Umgebung muss mehr Rücksicht nehmen und auf Störungen verzichten. Und – vor allem – man muss aufhören, sich selbst dauernd abzulenken und sich von all dem Kleinkram auffressen zu lassen.
Viele Bälle gleichzeitig in der Luft zu halten, heißt nicht, auch mit allen zugleich zu jonglieren. Vielleicht muss man ganz ungestört sein, wenn man sie auffängt, einen nach dem anderen. Danach können sie auch mal in rascher Folge wechseln, es dürfen nur nicht zu viele werden. Wo die Grenze verläuft, ist bei jedem anders. Selbst kann ich sehr viele Bälle im Griff halten, aber wenn dann noch einer und noch einer dazukommt, taucht die Grenze in geradezu lächerlicher Deutlichkeit auf. Wenn ich diese Grenze überschreite, verliere ich die Kontrolle und lasse auch den einen Ball fallen, den ich krampfhaft festzuhalten versuche. Jeder Gedanke und jede Handlung braucht mehr und mehr Zeit, je mehr Bälle ich dazunehme.