Buch lesen: «Wenn Sie Sähe»
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Blake Pierce
Blake Pierce ist der Autor der zwölfteiligen RILEY PAGE Mystery-Bestsellerserie (Fortsetzung in Arbeit). Blake Pierce hat außerdem die MACKENZIE WHITE Mystery-Serie, bestehend aus neun Büchern (Fortsetzung in Arbeit), die AVERY BLACK Mystery-Serie, bestehend aus sechs Büchern (Fortsetzung in Arbeit) und die KERI LOCKE Mystery-Serie, bestehend aus fünf Büchern, die KATE WISE Mystery-Serie, bestehend aus zwei Büchern (Fortsetzung in Arbeit), die CHLOE FINE Psychothriller, bestehend aus zwei Büchern (Fortsetzung in Arbeit) und die JESSE HUNT Psychothriller, die aus drei Büchern besteht (Fortsetzung in Arbeit), geschrieben.
Als leidenschaftlicher Leser und langjähriger Fan von Mystery- und Thriller-Romanen freut sich Blake Pierce, von Ihnen zu hören. Besuchen Sie www.blakepierceauthor.com für weitere Infos.
DEUTSCHE BÜCHER VON BLAKE PIERCE
JESSIE HUNT PSYCHO-THRILLER SERIE
DIE PERFEKTE FRAU (Buch 1)
DER PERFEKTE BLOCK (Buch 2)
CHLOE FINE PSYCHO-THRILLER-SERIE
NEBENAN (Buch 1)
DIE LÜGE EINES NACHBARN (Buch 2)
SACKGASSE (Buch 3)
KATE WISE MYSTERY-SERIE
WENN SIE WÜSSTE (Buch 1)
WENN SIE SÄHE (Buch 2)
DAS MAKING OF RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE
BEOBACHTET (Buch 1)
WARTET (Buch 2)
LOCKT (Buch 3)
RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE
VERSCHWUNDEN (Buch 1)
GEFESSELT (Buch 2)
ERSEHNT (Buch 3)
GEKÖDERT (Buch 4)
GEJAGT (Buch 5)
VERZEHRT (Buch 6)
VERLASSEN (Buch 7)
ERKALTET (Buch 8)
VERFOLGT (Buch 9)
VERLOREN (Buch 10)
BEGRABEN (Buch 11)
ÜBERFAHREN (Buch 12)
GEFANGEN (Buch 13)
RUHEND (Buch 14)
MACKENZIE WHITE MYSTERY-SERIE
BEVOR ER TÖTET (Buch 1)
BEVOR ER SIEHT (Buch 2)
BEVOR ER BEGEHRT (Buch 3)
BEVOR ER NIMMT (Buch 4)
BEVOR ER BRAUCHT (Buch 5)
EHE ER FÜHLT (Buch 6)
EHE ER SÜNDIGT (Buch 7)
BEVOR ER JAGT (Buch 8)
VORHER PLÜNDERT ER (Buch 9)
VORHER SEHNT ER SICH (Buch 10)
AVERY BLACK MYSTERY-SERIE
DAS MOTIV (Buch 1)
LAUF (Buch 2)
VERBORGEN (Buch 3)
GRÜNDE DER ANGST (Buch 4)
RETTE MICH (Buch 5)
ANGST (Buch 6)
KERI LOCKE MYSTERY-SERIE
EINE SPUR VON TOD (Buch 1)
EINE SPUR VON MORD (Buch 2)
EINE SPUR VON SCHWÄCHE (Buch 3)
EINE SPUR VON VERBRECHEN (Buch 4)
EINE SPUR VON HOFFNUNG (Buch 5)
Prolog
Als sie aufwuchs, hatte Olivia es nicht für möglich gehalten, tatsächlich einmal gerne zuhause zu sein. Wie die meisten Teenager hatte sie während ihrer Jahre an der High School davon geträumt, von zuhause wegzukommen, aufs College zu gehen und sich ein eigenes Leben aufzubauen. Sie hatte ihren Plan umgesetzt und hatte Whip Springs, Virginia, verlassen, um die University of Virginia zu besuchen. Jetzt war sie in ihrem ersten Jahr, der Sommer, der reif an Jobs war und an dessen Ende die Suche nach einem eigenen Apartments stand, begann gerade. Olivia lebte gerne auf dem Campus, aber sie meinte, dass es als Senior an der Zeit war, anderswo in der Stadt zu wohnen.
Im Moment allerdings war sie für einen vollen Monat wieder bei ihren Eltern in Whip Springs. Und die Erleichterung und der Anflug von Liebe, die sie verspürte, als sie auf die Auffahrt ihrer Eltern fuhr, wären ihr zu Highschooljahren unverzeihlich erschienen. Sie lebten in einer Nebenstraße von Whip Springs – ein kleines, verschlafenes Städtchen mit weniger als fünftausend Einwohnern im Herzen Virginias. Zu allen Seiten war es von Wald umgeben, der sich auch auf Whip Springs erstreckte.
Es wurde dunkel, als sie auf die Auffahrt fuhr. Sie hatte erwartet, dass ihre Mutter für sie das Außenlicht angeschaltet hatte, aber kein Lichtschein beleuchtete die Haustür. Ihre Mutter wusste, dass sie kam. Sie hatten vor zwei Tagen telefoniert und drei Stunden zuvor hatte Olivia ihr sogar per SMS mitgeteilt, dass sie unterwegs war.
Allerdings hatte ihre Mutter nicht zurückgeschrieben, was untypisch für sie war. Aber Olivia meinte, dass sie wahrscheinlich schuftete, um ihr Kinderzimmer auf Vordermann zu bringen und darüber vergessen hatte, zu antworten.
Als Olivia sich dem Haus näherte, fiel ihr nicht nur auf, dass das Außenlicht nicht brannte, sondern auch, dass im ganzen Haus kein Licht brannte. Sie wusste, dass sie zuhause waren; beide Autos waren da. Das ihrer Mutter parkte direkt hinter dem ihres Vaters, genauso, wie immer, solange Olivia zurückdenken konnte.
Wenn sie eine Willkommen-Zuhause-Überraschungsparty für mich schmeißen, muss ich bestimmt losheulen, dachte Olivia, als sie neben dem Wagen ihrer Mutter parkte.
Sie ließ den Kofferraum aufschnappen und holte ihr Gepäck, das nur aus zwei Koffern bestand, von denen einer eine Tonne wog. Sie schleppte sie den Weg entlang auf die Veranda. Ihr letzter Besuch lag fast ein Jahr zurück und sie hatte fast vergessen, wie abgeschieden das Haus lag. Die dichtesten Nachbarn waren nur einige hundert Meter entfernt, aber die umliegenden Bäumen ließen das Haus vollkommen isoliert erscheinen… vor allem im Vergleich zu den vollen Schlafsälen der Uni.
Sie zerrte die Koffer die Stufen hoch und streckte die Hand nach der Klingel aus. Dabei fiel ihr auf, dass die Tür ein wenig offen stand.
Plötzlich erschien ihr die Tatsache, dass drinnen keinerlei Licht brannte, unheimlich – wie eine Warnung. „Mama? Papa?“, rief sie und stieß die Tür mit dem Fuß auf.
Sie schwang auf und gab damit den Blick auf den Eingangsbereich und den kleinen Flur, den sie so gut kannte, frei. Drinnen war es tatsächlich dunkel. Doch als sie trotz ihrer steigenden Angst eintrat, war sie sogleich beruhigt. Von irgendwo im Haus hörte sie den Fernseher – das bekannte Ding und den Applaus beim Glücksrad – ein Klang, der zu diesem Haus gehörte, so weit Olivia zurückdenken konnte.
Als sie das Ende des Flurs und das Wohnzimmer erreichte, sah sie das Glücksrad auf dem Bildschirm des wahrlich großen Fernsehers, der über dem Kamin angebracht war und der einem das Gefühl gab, als stünde Pat Sajak direkt hier im Zimmer.
„Hallo, Leute“, sagte Olivia und schaute sich in dem dunklen Raum um. „Vielen Dank, dass ihr mir mit meinem Gepäck geholfen habt. Die Tür offen zu lassen war wirklich…“
Es sollte witzig sein, aber hier war plötzlich nichts mehr witzig.
Ihre Mutter befand sich auf der Couch. Wäre da nicht all das Blut gewesen, hätte sie ausgesehen, als schliefe sie. Ihre Brust war voller Blut, und viel davon war in den Teppich gesickert. Da war so viel Blut, dass Olivia es zuerst nicht begriff. Dass dabei das Glücksrad im Hintergrund lief, ließ alles noch viel unwirklicher erscheinen.
„Mama…“
Olivia meinte, dass ihr Herz stehenbliebe. Während die Realität sie langsam einholte, ging sie langsam rückwärts aus dem Wohnzimmer. Es war, als ob ihre Gedanken sich von ihr losgelöst hatten und im Raum umher schwebten.
Während sie sich zurückzog, formte ihr Zunge ein weiteres Wort – Papa.
In dem Moment sah sie ihn. Er lag direkt dort auf dem Boden vor dem Wohnzimmertisch und war so voller Blut wie ihre Mutter. Er lag mit dem Gesicht nach unten, bewegungslos. Es sah aus, als hatte er wegkrabbeln wollen.
Während Olivia versuchte, all dies zu verarbeiten, erblickte sie mindestens sechs Stichwunden an seinem Rücken.
Endlich verstand sie, warum ihre Mutter ihre SMS nicht beantwortet hatte. Ihre Mutter war tot. Und ihr Vater auch.
Sie spürte einen Schrei in sich aufsteigen, als sie versuchte, sich aus ihrer Starre zu lösen. Ihr war klar, dass der Täter noch immer hier sein konnte. Bei dem Gedanken löste sich der Schrei in ihrer Kehle, die Tränen kamen, und ihre Beine erwachten aus ihrer Starre.
Olivia raste aus dem Haus und rannte – und rannte – und rannte, bis sie nicht mehr schreien konnte.
Kapitel eins
Es war erstaunlich, wie schnell sich Kate Wises Einstellung änderte. Während ihres ersten Jahres in Rente hatte sie gärtnern gehasst. Gärtnern, stricken, Bridge Clubs – selbst Buchclubs – waren ihr zuwider. Das waren die typischen Klischees dessen, was pensionierte Frauen taten.
Aber die Monate, seit sie „wieder im Sattel saß“, hatten etwas verändert. Sie war nicht so naiv zu glauben, dass sie nunmehr eine andere Person war. Nein, es hatte sie einfach belebt. Sie hatte wieder eine Aufgabe, einen Grund, sich auf den nächsten Tag zu freuen.
Vielleicht war es deshalb für sie in Ordnung, sich die Zeit mit gärtnern zu vertreiben. Es war nicht entspannend, wie sie es sich vorgestellt hatte. Wenn überhaupt, dann erfüllte es sie mit Ungeduld. Warum die Zeit und Energie investieren, etwas zu pflanzen, wenn man gegen das Wetter arbeitete, um die Pflanze amLeben zu halten. Trotzdem erfüllte es sie irgendwie mit Freude – etwas zu pflanzen und es gedeihen zu sehen.
Sie hatte mit Blumen begonnen – mit Stiefmütterchen und Bougainvilleas. Dann hatte sie rechts hinten in der Ecke ein Gemüsegärtchen angelegt. Hier schaufelte sie gerade Erde über eine Tomatenpflanze und dachte darüber nach, dass sie keinerlei Interesse am gärtnern gehabt hatte, bevor sie Großmutter geworden war.
Sie fragte sich, ob es mit dem hegenden und pflegenden Charakterzug zu tun hatte. Von Freunden und aus Büchern wusste sie, dass das Großmuttersein neues in einem hervorbringen konnte – dass man dies als Mutter nicht nachempfinden konnte.
Ihre Tochter Melissa bescheinigte ihr, eine gute Mutter zu sein. Diese Bestätigung tat ihr hin und wieder gut, vor allem in Lichte dessen, wie sie ihre Karriere zugebracht hatte. Zugegebermaßen war ihr ihre Karriere viel zu lange wichtiger gewesen als ihre Familie und sie war froh, dass Melissa sie deshalb niemals verachtet hatte, abgesehen von einer Zeit nach dem Verlust ihres Vaters.
Das ist das Negative am gärtnern, dachte Kate, als sie aufstand und sich Hände und Knie abklopfte. Die Gedanken wandern. Und dann kommt einem die Vergangenheit wieder hoch.
Sie durchquerte den Garten ihres Hauses, das in Richmond, Virginia, stand und betrat ihre hintere Veranda. An der Hintertür stieg sie sorgfältig aus ihrem mit Erde beschmierten Gartenarbeitsschuhen heraus, legte ihre Handschuhe daneben, damit sie keinen Schmutz ins Haus trug. Die letzten zwei Tage hatte sie mit Hausputz zugebracht. Heute Abend babysittete sie ihre Enkelin Michelle, und obwohl Melissa keinen Sauberkeitsfimmel hatte wollte Kate das Haus blitzsauber haben. Es war fast dreißig Jahre her, seit sie sich in Gesellschaft eines Babys befunden hatte und wollte kein Risiko eingehen.
Sie blickte auf die Uhr und verzog das Gesicht. In fünfzehn Minuten erwartete sie Besuch. Das war noch etwas, was ihr am gärtnern nicht gefiel; dass einem die Zeit zwischen den Fingern zerrinnt.
Im Bad machte sie sich frisch und setzte dann in der Küche frischen Kaffee. Er war halb durchgelaufen, als es an der Haustür klingelte. Sie öffnete sofort und freute sich, die beiden Frauen zu sehen, mit denen während der letzten anderthalb Jahre mindestens zweimal die Woche einige Stunden verbrachte.
Jane Patterson trat zuerst ein, in der Hand ein Tablett mit Kuchen. Ihre Kuchen waren selbstgebacken, und Jane hatte nun schon zweimal hintereinander den Carytown Cooks Wettbewerb gewonnen. Hinter ihr trat Clarissa James mit einer großen Schüssel voll frischem Obst ein. Beide trugen sie Outfits, die gut zu einem Brunch bei einer Freundin oder zum Shoppen passten, etwas, womit sie einiges an Zeit verbrachten.
„Du hast wieder gegärtnert, oder?“, meinte Clarissa, als sie ihr Essen auf der Kücheninsel abstellte.
„Woher weißt du das?“, fragte Kate.
Clarissa wies auf Kates Haare, die zu den Spitzen hin mit Erde verklebt waren. Kate griff nach hinten und hatte die verklebten Strähnen in der Hand. Ihre Hände ertasteten die Erde, die darin klebte und sowohl Clarissa als auch Jane lachten, als sie die Frischhaltefolie vom Kuchen nahm.
„Lacht, soviel ihr wollt“, meinte Kate. „Das wird euch noch vergehen, wenn die Tomatensträucher erstmal Früchte tragen.
Es war Freitag morgens, und allein diese Tatsache machte es zu einem guten Morgen. Die drei Frauen saßen auf Barhockern um Kates Kücheninsel herum, verzehrten ihr Brunch und tranken Kaffee. Und während die Gesellschaft, das Essen und der Kaffee gut waren, war es schwer zu ignorieren, dass jemand fehlte.
Debbie Meade gehörte nicht mehr zu ihrer kleinen Gruppe. Sie und ihr Ehemann Jim waren weggezogen, nachdem ihre Tochter umgebracht worden war. Sie war eins der drei Opfer eines Killers gewesen, den Kate zur Strecke gebracht hatte. Debbie und ihr Mann lebten nun in Strandnähe in North Carolina. Hin und wieder schickte Debbie Bilder vom Meer – um die anderen aus Spaß zu piesacken. Seit zwei Monaten lebten sie nun dort und schienen glücklich, und imstande, die Tragödie hinter sich zu lassen.
Die Gespräche waren meist fröhlicher, leichter Natur. Jane erzählte, dass ihr Mann mit seiner Pensionierung im nächsten Jahr liebäugelte und plante, ein Buch zu schreiben. Clarissa erzählte von ihren beiden Kindern, die Mitte zwanzig waren, dass beide in ihren Jobs befördert worden waren.
„Apropos Kinder“, sagte Clarissa, „wie geht es denn Melissa? Geht sie voll auf in ihrer Mutterrolle?“
„Oh ja“, meinte Kate. „Sie ist natürlich wahnsinnig vernarrt in ihr kleines Töchterchen. Ein Töchterchen, das ich übrigens heute Abend zum ersten Mal babysitten werd.“
„Zum ersten Mal?“, fragte Jane.
„Ja. Melissa und Terry gehen zum ersten Mal ohne die Kleine aus, so richtig mit Übernachtung.“
„Und wie sieht es bei dir selbst aus, gehst du jetzt in deiner neuen Rolle als Großmutter auf?“
„Das weiß ich noch nicht sor recht“, sagte Kate. „Das wird sich dann wohl heute Abend herausstellen.“
„Weißt du“, meinte Jane, „du könntest babysitten wie ich damals während meiner Zeit in der High-School. Sobald die Kinder im Bett waren, kam mein Freund heimlich vorbei, und…“
„An sowas möchte ich nicht einmal denken“, rief Kate aus.
„Meinst du, Allen wäre für so etwas zu haben?“, fragte Clarissa.
„Keine Ahnung“, meinte Kate und versuchte sich Allen mit einem Baby vorzustellen. Sie waren ein Paar, seit Kate und ihr neuer Partner DeMarco den Fall der Serienmorde hier in Richmond gelöst hatten – der Fall, der auch Debbies Tochter das Leben gekostet hatte. Allen und sie sprachen nicht über die Zukunft, sie waren noch nicht einmal zusammen im Bett gewesen und nur wurden selten überhaupt intim. Sie war gern mit ihm zusammen, konnte sich aber nicht vorstellen, ihn an ihrem Leben und ihrem Großmutterdasein teilhaben zu lassen.
„Läuft es noch gut mit euch beiden?“, fragte Clarissa.
„Ich glaube, schon. Diese ganze Beziehungskiste kommt mir irgendwie komisch vor. Ich fühle mich dafür irgendwie etwas zu alt.“
„Ach was!“, entgegnete Jane. „Versteh mich nicht falsch… ich liebe meinen Mann, ich liebe meine Kinder und ich liebe mein Leben ganz allgemein. Aber ich würde so gern mal wieder mit einem anderen Mann ausgehen. Ich vermisse es, neue Leute kennenzulernen, erste Küsse…“
„Ja, das hat schon was“, meinte Kate. „Allen kommt es allerdings auch ein wenig merkwürdig vor, wieder eine Beziehung zu haben. Wir haben viel Spaß, wenn wir zusammen sind, aber… es ist schon merkwürdig, wenn Sex dann da mit reinspielt.“
„Ja, ja…“, sagte Clarissa. „Aber sieht du ihn als deinen Freund an?“
„Müssen wir da jetzt wirklich drüber reden?“, fragte Kate und bemerkte, dass sie errötete.
„Oh ja, allerdings müssen wir das“, sagte Clarissa. „Wir alten Frauen fiebern doch mit dir mit.“
„Und das gilt auch für deinen Job“, fügte Jane hinzu. „Wie geht es eigentlich damit?“
„Ich habe seit zwei Wochen keinen Anruf bekommen, und beim letzten Mal ging es auch nur um Recherche. Sorry, Mädels, es ist beim besten Willen nicht so aufregend, wie ihr scheinbar gehofft habt.“
„Das heißt, du bist jetzt wieder Rentnerin?“, fragte Clarissa.
„Im Grunde ja. Es ist irgendwie alles kompliziert.“
Damit war der Fragerei ein Ende gesetzt, und sie unterhielten sich wieder über lokale Themen – über Filme, die bald ins Kino kommen sollten, über das Musikfestival, den Bau der neuen Autobahn, und so weiter. Es war schön zu wissen, dass das FBI immer wieder auf sie zurückgriff, aber sie hatte eigentlich auf eine aktivere Rolle gehofft, nachdem sie den letzten Fall so erfolgreich aufgeklärt hatte. Aber seitdem hatte sie nur ein einziges Mal von Deputy Director Duran gehört, und das auch nur, weil er sich über DeMarcos Leistung zu erkundigen wollte.
Ihr war bewusst, dass es ihren Freundinnen merkwürdig vorkam, dass sie theoretisch ein aktiver Agent war, und gleichzeitig so in ihrer Großmutterrolle aufging. Herrgott, es kam ihr ja sogar selbst merkwürdig vor. Wenn man dann noch die langsam erblühende Beziehung zu Allen betrachtete, war ihr Leben alles in allem wahrscheinlich wirklich interessant für ihre Freundinnen.
Und ja, sie schätzte sich wahrlich glücklich. Am Monatsende wurde sie sechsundfünfzig, und ihr war klar, dass viele Frauen ihres Alters sie um ihren Lebensstil beneiden würden. Das sagte sie sich, wenn sie mal wieder das Bedürfnis verspürte, eine aktivere Rolle beim FBI einzunehmen. Und hin und wieder klappte das auch.
Und heute war so ein Tag, denn heute sollte sie zum ersten Mal Besuch seit ihrer Geburt Besuch von ihrer Enkelin bekommen.
* * *
Eine der Schwierigkeiten, eine Balance zu finden zwischen ihrer neuen Großmutterrolle und ihrem Bedürfnis, sich wieder aktiv mit einem Fall zu befassen, lag darin, sich das Denken einer Großmutter zu eigen zu machen. An diesem Nachmittag verließ sie das Haus und machte sich auf den Weg zu den kleinen Geschäften in Carytown, einem Stadtteil von Richmond. Sie wollte ein Geschenk für Michelle besorgen, zur Feier ihres ersten Abends bei ihrer Großmutter.
Es fiel ihr nicht leicht, die Gedanken an Waffen und Verdächtige beiseite zu schieben und sich stattdessen auf Plüschtiere und Kinderpyjamas zu konzentrieren. Aber während sie so durch mehrere Läden bummelte, fiel es ihr zunehmend leichter. Tatsächlich machte es ihr Spaß, etwas Schönes für ihre Enkelin zu kaufen, obwohl die Kleine mit ihren zwei Monaten natürlich nichts mit den Geschenken würde anfangen können. Trotzdem musste sich Kate zurückhalten, um nicht gleich all die niedlichen Sachen zu kaufen, die sie fand. Allerdings, war es nicht die Aufgabe einer Großmutter, ihre Enkel zu verwöhnen?
Als sie gerade im dritten Laden ihre Einkäufe bezahlte, erhielt sie einen Anruf. Sie nahm sofort ab. Während der letzten Wochen hatte sie immer mehr die Hoffnung gehabt, von Duran oder jemand anderem vom FBI zu hören. Sie schalt sich, da sie enttäuscht wurde – denn es war nicht Duran oder jemand vom FBI, sondern es war Allen, der sie anrief. Aber nach dem ersten Stich, den es ihr versetzt hatte, dass das FBI sich noch immer nicht bei ihr gemeldet hatte, freute sie sich, dass Allen sich meldete. Sie freute sich ja im Grunde immer, von ihm zu hören.
„Allen, Hilfe!“, sagte sie spaßend. „Ich bin gerade in den Läden für Michelle unterwegs und ich kann mich kaum stoppen, all die süßen Dinge zu kaufen, dir mir in die Hände fallen. Ist das normal?“
„Keine Ahnung, da kann ich nichts zu sagen“, antwortete Allen. „Keiner meiner Söhne hatte oder hat momentan eine feste Beziehung und mich bis jetzt zum Großvater gemacht.“
„Dann lass dir gesagt sein: fange lieber jetzt schon an zu sparen.“
Allen kicherte, worüber Kate sich freute. „Also, heute ist der große Abend?“, fragte er.
„Ja. Ich habe zwar schon ein Kind großgezogen und sollte deshalb wissen, was da auf mich zukommt, aber ich habe trotzdem ein mulmiges Gefühl.“
„Ach was, das wird super. Wo wir gerade von mulmigem Gefühl sprechen… ich gehe heute mit ein paar Jungs aus… und ich habe seit ungefähr fünf Jahren nicht mehr als zwei Drinks am Abend gehabt.“
„Viel Spaß.“
„Ich wollte fragen, ob wir uns nicht morgen Abend zum Essen treffen wollen. Dann können wir uns gegenseitig berichten, wie es gelaufen ist.“
„Das wäre schön. Willst du so gegen sieben hier sein?“
„Hört sich gut an. Viel Spaß heute Abend. Schläft Michelle schon durch?“
„Ich glaube nicht.“
„Autsch“, kicherte Allen und beendete damit das Gespräch.
Mit den verschiedenen Einkaufstaschen in den Händen steckte sie ihr Handy wieder ein. Sie musste lächeln. Sie befand sich in ihrem Lieblingsstadtteil, stand in der Sonne, hatte gerade schöne Dinge für ihre zwei Monate alte Enkelin besorgt. So, wie ihr Tag gerade lief, wollte sie da überhaupt, dass das FBI anrief?
Zu Fuß ging sie wieder nach Hause – etwa drei Blocks von der Stelle, an der sie Allens Anruf erhalten hatte – als sie ein Mädchen mit einem My Little Pony-T-shirt erblickte. Hand in Hand mit ihrer Mutter kam sie Kate entgegen. Sie war fünf oder sechs Jahre alt und ihre blonden Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden, wie ihn nur eine Mutter hinkriegte. Sie hatte blaue Augen und ein spitzes Näschen, das sie feenartig erscheinen ließ. Und genau dieses Aussehen versetzte Kate einen Stich.
Ein Bild machte sich in ihren Gedanken breit, nämlich das von einem Mädchen, das diesem zum verwechseln ähnlich gesehen hatte. Doch vor ihrem inneren Auge hatte das Mädchen ein schmutzverschmiertes Gesicht, und es weinte. Hinter ihr sah man das Licht der Polizeiwagen.
Das Bild war so stark, dass Kate einen Moment innehalten musste. Sie riss ihren Blick von dem Mädchen los, da sie nicht merkwürdig erscheinen wollte. Sie hielt das Bild in ihren Gedanken fest und versuchte, die Erinnerung heraufzubeschwören. Die Erinnerung breitete sich langsam vor ihrem inneren Auge aus, so, als lese sie gerade den Bericht des Falls.
Fünfjährige gefunden, drei Tage nachdem sie vermisst gemeldet wurde, in einer Fischerhütte in Arkansas neben den Leichen ihrer Eltern. Die Eltern waren das fünfte und sechste Opfer eines Serienkillers, der Arkansas seit fast vier Monaten terrorisiert hatte. Ein Killer, dem Kate das Handwerk legte, aber erst, nachdem er schon neun Menschen umgebracht hatte.
Plötzlich wurde sich Kate bewusst, dass sie stocksteif auf der Straße stand, aber sie konnte sich nicht rühren. So viele Sackgassen, so viele Hinweise, die zu nichts geführt hatten. Sie hatte sich im Kreis gedreht, konnte den Killer nicht aufspüren, während er weiter Leichen produzierte. Niemand konnte ahnen, was er mit dem kleinen Mädchen vorgehabt hatte.
Aber du hast sie gerettet, sagte sie sich selbst. Am Ende hast du sie gerettet.
Langsam ging Kate weiter. Nicht zum ersten Mal war ihr etwas in den Sinn gekommen, aus ihrem vergangenen Arbeitsleben, was sie bewog, innezuhalten. Manchmal kam die Erinnerung langsam, dann wieder schnell und mit aller Macht, wie bei einem posttraumatischen Stresssyndrom.
Das Bild des Mädchens aus Arkansas befand sich irgendwo in der Mitte. Dafür war Kate dankbar. Es war dieser Fall gewesen, der sie damals, 2009, fast dazu bewogen hatte, ihre Karriere hinzuschmeißen. Er hatte ihre Seele gebrochen. Kate hatte sich erst einmal zwei Wochen frei nehmen müssen. Und für einen Augenblick, als sie jetzt die Straße herunter ging, mit den Geschenken für ihre Enkelin in der Hand, kam es Kate so vor, als sei sie in diese Zeit zurück versetzt worden.
Fast zehn Jahre waren seit diesem Fall vergangen. Kate fragte sich, was wohl aus dem Mädchen geworden war. Ob sie das Trauma hinter sich gelassen hatte.
„Alles in Ordnung bei Ihnen?“
Kate zwinkerte, erschrocken durch die Stimme. Ein Teenager stand vor ihr, sein Gesichtsausdruck besorgt, als sei er unsicher, ob er stehenbleiben oder weglaufen sollte.
„Sind Sie okay?“, fragte er noch einmla. „Sie sehen… ich weiß nicht… Sie sehen nicht gut aus. So als ob Sie gleich umfallen oder so.“
„Nein, alles okay“, sagte Kate. „Mir geht es gut. Danke.“
Der Teenager nickte und ging weiter. Auch Kate ging weiter, riss sich aus dem Loch ihrer Vergangenheit, das sich augenscheinlich noch nicht geschlossen hatte. Als sie sich ihrem Haus näherte, fragte sie sich, wie viele solcher Löcher es wohl in ihrem Leben noch geben mochte.
Und sie fragte sich nicht zum ersten Mal, ob die Geister ihrer Vergangenheit sie so lange heimsuchen würden, bis sie selbst zu einem Geist geworden war.