Buch lesen: «Gefangen »

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G E F A N G E N

(EIN RILEY PAIGE KRIMI—BUCH 13)

B L A K E P I E R C E

Blake Pierce

Blake Pierce ist die Autorin der Bestseller-Reihe RILEY PAGE, die bislang dreizehn Bücher umfasst und fortgesetzt wird. Blake Pierce ist auch die Autorin der MACKENZIE WHITE Mystery-Serie, die acht Bücher umfasst; der AVERY BLACK Mystery-Serie, die sechs Bücher umfasst; der KERI LOCKE Mystery-Serie, die fünf Bücher umfasst; und der neuen MAKING OF RILEY PAIGE Mystery-Serie, die mit BEOBACHTET beginnt.

Als begeisterte Leserin und lebenslanger Fan der Mystery- und Thriller-Genres liebt Blake es, von ihren Lesern zu hören. Bitte besuchen Sie www.blakepierceauthor.com, um mehr zu erfahren und in Kontakt zu bleiben.

Copyright © 2018 Blake Pierce Alle Rechte vorbehalten. Außer durch eine Genehmigung nach dem U.S. Copyright Act von 1976, darf kein Teil dieses Buches ohne ausdrückliche Genehmigung der Autorin vervielfältigt, vertrieben oder in irgendeiner Form übermittelt, in Datenbanken oder Abfragesystemen gespeichert werden. Dieses E–Book ist nur für ihren persönlichen Gebrauch lizenziert. Es darf nicht weiterverkauft oder an Dritte weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch mit anderen teilen möchten, erwerben Sie bitte für jeden Empfänger eine zusätzliche Kopie. Wenn Sie dieses Buch lesen, aber nicht gekauft haben, oder es nicht für Sie gekauft wurde, geben Sie es bitte zurück und erwerben Sie eine eigene Kopie. Vielen Dank, dass Sie die harte Arbeit der Autorin respektieren. Dieses Buch ist eine fiktive Geschichte. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind von der Autorin frei erfunden oder werden fiktiv verwendet. Ähnlichkeiten mit echten Personen, lebendig oder verstorben, sind zufällig. Copyright Umschlagsbild Photographee.eu, genutzt unter der Lizenz von Shutterstock.com

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EINE SPUR VON SCHWÄCHE (Band #3)

EINE SPUR VON VERBRECHEN (Band #4)

EINE SPUR VON HOFFNUNG (Band #5)

INHALT

PROLOG

KAPITEL EINS

KAPITEL ZWEI

KAPITEL DREI

KAPITEL VIER

KAPIEL FÜNF

KAPITEL SECHS

KAPITEL SIEBEN

KAPITEL ACHT

KAPITEL NEUN

KAPITEL ZEHN

KAPITEL ELF

KAPITEL ZWÖLF

KAPITEL DREIZEHN

KAPITEL VIERZEHN

KAPITEL FÜNFZEHN

KAPITEL SECHZEHN

KAPITEL SIEBZEHN

KAPITEL ACHTZEHN

KAPIEL NEUNZEHN

KAPITEL ZWANZIG

KAPITEL EINUNDZWANZIG

KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG

KAPITEL DREIUNDZWANZIG

KAPITEL VIERUNDZWANZIG

KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG

KAPITEL SECHSUNDZWANZIG

KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG

KAPITEL ACHTUNDZWANZIG

KAPITEL NEUNUNDZWANZIG

KAPITEL DREIßIG

KAPITEL EINUNDDREIßIG

KAPITEL ZWEIUNDDREIßIG

KAPITEL DREIUNDDREIßIG

KAPITEL VIERUNDDREIßIG

KAPITEL FÜNFUNDDREIßIG

KAPITEL SECHSUNDDREIßIG

KAPITEL SIEBENUNDDREIßIG

PROLOG

Morgan Farrell hatte keine Ahnung wo sie sich befand, oder woher sie gerade kam. Es fühlte sich an, als würde sie grade aus einem tiefen, dichten Nebel herausfinden. Etwas oder jemand befand sich unmittelbar vor ihr.

Sie beugte sich angespannt starrend vor und sah ein Gesicht einer Frau, die zurückstarrte. Die Frau sah genauso verloren und verwirrt aus wie Morgan sich selbst fühlte.

„Wer bist Du?“, fragte sie die Frau.

Das Gesicht formte die Worte gleichzeitig mit Morgan und sie begriff…

Mein Spiegelbild.

Sie sah ihr eigenes Gesicht in einem Spiegel.

Sie kam sich nun albern vor, weil sie sich selbst nicht sofort erkannt hatte, war aber nicht ganz überrascht.

Mein Spiegelbild.

Sie wusste, dass es ihr eigenes Gesicht im Spiegel war. Es fühlte sich aber an, als würde sie eine fremde Frau anblicken. Dies war das Gesicht, das sie immer schon gehabt hatte, dass Leute immer als elegant und schön beschrieben. Doch nun erschien es ihr wie eine aufgesetzte Maske.

Das Gesicht im Spiegel erschien irgendwie…unlebendig.

Einige Momente fragte Morgan sich, ob die gestorben war. Aber sie konnte ihren eigenen, etwas unebenen Atem hören. Sie fühlte wie ihr Herz ein bisschen zu schnell pochte.

Nein, sie war nicht tot. Aber sie schien verwirrt zu sein.

Sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen.

Wo bin ich?

Was habe ich gemacht bevor ich hierherkam?

So komisch es sich auch anfühlte keine Antworten auf diese Fragen zu wissen, es war ihr ein bekanntes Problem. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich in irgendeinem Teil des riesigen Hauses wiederfand, ohne zu wissen, wie sie dorthin gekommen war. Ihr Schlafwandeln wurde durch all die diversen Beruhigungsmittel, die der Arzt verschrieben hatte, und durch den vielen Scotch hervorgerufen.

Morgan wusste nur eins –– Andrew konnte sie so auf gar keinen Fall sehen. Sie trug kein Makeup, ihre Haare waren ein wirres Durcheinander. Sie hob ihre Hand zum Gesicht um sich eine Strähne von der Stirn zu wischen, als sie sah…

Meine Hand.

Sie ist rot.

Sie ist voller Blut.

Sie sah den Mund im Spiegel geschockt aufgehen.

Dann erhob sie ihre andere Hand.

Auch diese war voller Blut.

Ein Schauder des Ekels durchfuhr sie als sie ihre Hände automatisch an ihrer Kleidung abwischte.

Dann stieg ihr Entsetzen noch weiter an. Sie hatte soeben Blut über ihr unglaublich teures seidenes Nachthemd geschmiert.

Andrew würde ausrasten, wenn es das erfuhr.

Aber wie konnte sie sich wieder in Ordnung bringen und das Nachthemd reinigen?

Sie schaute sich um und griff hastig nach einem Handtusch, das neben dem Spiegel hing. Als sie versuchte ihre Hände daran abzuwischen fiel ihr das Monogramm ins Auge…

AF

Sie zwang sich, ihre Umgebung genauer zu betrachten…die flauschigen monogrammierten Badetücher…die schimmernden goldfarbenen Wände.

Sie war im Badezimmer ihres Ehemannes.

Morgan stieß einen entsetzten Seufzer aus.

Ihr nächtliches Wandeln hatte sie schon einige Male in das Schlafzimmer ihres Ehemannes gebracht. Wenn sie ihn weckte war er jedes Mal wutentbrannt, dass sie gewagt hatte seine Privatsphäre zu stören.

Und nun war sie durch sein gesamtes Zimmer gelaufen und bis in sein anliegendes Bad.

Sie zitterte. Die Bestrafungen ihres Ehemannes waren immer grausam.

Was wird er dieses Mal mit mir machen? fragte sie sich.

Morgan schüttelte ihren Kopf im Versuch sich aus ihrem geistigen Nebel herauszuholen. Ihr Schädel fühlte sich an als würde er platzen, ihr war übel. Offensichtlich hatte sie nach den vielen Beruhigungsmitteln auch noch zu viel getrunken. Und nun hatte sie nicht nur Blut über eins von Andrews kostbaren Handtüchern geschmiert, sie sah auch, dass sie Abdrücke auf den perlweißen Badezimmertresen hinterlassen hatte. Sogar auf dem Marmorboden war Blut.

Wo kommt all dieses Blut her? fragte sie sich.

Ein merkwürdiger Gedanke kam in ihren Kopf…

Habe ich versucht mich umzubringen?

Sie konnte sich nicht daran erinnern, aber es war auf jeden Fall möglich. Sie hatte mehr als nur einmal an Selbstmord gedacht, seit sie Andrew geheiratet hatte. Und wenn sie sich jemals das Leben selbst nehmen würde, so wäre sie nicht die erste die das in diesem Haus tat.

Mimi, Andrews Frau vor Morgan, hatte Suizid begangen.

Ebenso hatte es Kirk, sein Sohn, getan, erst letzten November.

Sie lächelte fast über die bittere Ironie…

Habe ich bloß versucht die Familientradition fortzuführen?

Sie trat zurück um einen genaueren Blick auf sich werfen zu können.

All dieses Blut…

Aber sie schien nicht verwundet zu sein.

Wo kam also das ganze Blut her?

Sie drehte sich um und bemerkte, dass die Tür zu Andrews Zimmer weit offenstand.

Ist er dort drin? fragte sie sich.

Hatte er durch das, was auch immer vorgefallen war, durchgeschlafen?

Sie atmete ein wenig auf bei dem Gedanken an die Möglichkeit. Wenn er so fest schlief konnte sie vielleicht aus dem Raum entkommen, ohne dass er bemerkte, dass sie hier gewesen war.

Aber dann begriff sie, dass es nicht so einfach sein würde. Es gab immer noch das ganze Blut, das überall verschmiert war.

Sollte Andrew in sein Bad reinkommen und dieses schreckliche Chaos bemerken, würde er natürlich sofort wissen, dass sie irgendwie daran schuld war.

Sie hatte immer an allem Schuld, wie er fand.

In ihrer Panik begann sie den Tresen mit dem Handtuch abzuwischen. Aber das brachte nichts. Sie verschmierte das Blut bloß noch weiter. Sie brauchte Wasser um alles sauber machen zu können.

Sie wollte schon den Hahn aufdrehen, als ihr der Gedanke kam, dass das Geräusch von plätscherndem Wasser Andrew sicherlich wecken würde. Sie dachte sich, dass sie vielleicht die Badezimmertür leise schließen und das Wasser so leise wie möglich laufen lassen könnte.

Sie schlich auf Zehenspitzen durch das riesige Badezimmer hinüber zur Tür. Als sie dort ankam spähte sie vorsichtig hinaus ins Schlafzimmer.

Sie schrie auf als sie es sah.

Das Licht war gedimmt, aber es konnte keinen Zweifel daran geben, dass Andrew im Bett lag.

Er war voller Blut. Die Laken waren voller Blut. Blut war auf dem Teppichboden.

Morgen rannte zum Bett hinüber.

Die Augen ihres Ehemannes waren weit aufgerissen, erstarrt in einem Ausdruck von Horror.

Er ist tot, begriff sie. Sie war nicht gestorben, Andrew war es.

Hatte er Selbstmord begangen?

Nein, das war unmöglich. Andrew hatte nichts außer Missachtung übrig für Menschen, die sich ihr Leben nahmen –– das galt auch für seinen Sohn und seine ehemalige Frau.

„Keine vernünftgen Menschen“, sagte er oft von ihnen.

Und Andrew war immer stolz darauf gewesen, selbst ein vernünftiger Mensch zu sein.

Er hatte dieses Thema immer wieder mit Morgan aufgebracht…

„Bist du eine vernünftige Person?“

Als sie den Körper genauer betrachtete, stellte sie fest, dass Andrew an mehreren verschiedenen Wunden an seinem Körper verblutet war. Da entdeckte sie ein großes Küchenmesser inmitten der blutdurchtränkten Laken.

Wer könnte das getan haben? fragte Morgan sich.

Dann ging eine merkwürdige, euphorische Ruhe auf sie nieder als sie begriff…

Ich habe es endlich getan.

Ich habe ihn umgebracht.

Sie hatte es viele Male in ihren Träumen gemacht.

Und nun, endlich, hatte sie es auch in Wirklichkeit getan.

Sie lächelte und sagte laut zur Leiche…

„Wer ist jetzt eine vernünftige Person?“

Aber sie wusste, dass sie nicht lange in diesem warmen und angenehmen Gefühl schwelgen konnte. Mord war Mord und sie wusste, dass sie die Konsequenzen hinnehmen musste.

Doch statt Furcht oder Schuld empfand sie ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit.

Er war ein schrecklicher Mann gewesen. Und nun war er tot. Was auch immer nun geschah, es war es allemal wert.

Sie nahm den Hörer neben seinem Bett in ihre klebrige Hand und wollte schon 911 tippen als sie dachte…

Nein.

Es gibt jemanden, dem ich das zuerst erzählen will.

Es war eine freundliche Frau, die ihr vor einiger Zeit Verständnis entgegengebracht hatte und Besorgnis über ihre Lage geäußert hatte.

Bevor sie irgendetwas tat, musste sie diese Frau anrufen und ihr erzählen, dass sie sich keine Sorgen mehr um Morgans Wohlergehen machen musste.

Alles war endlich in allerbester Ordnung.

KAPITEL EINS

Riley bemerkte, dass Jilly im Schlaf ein wenig zuckte. Die Vierzehnjährige saß im Nachbarsitz mit ihrem Kopf an Rileys Schulter gelehnt. Ihr Flugzeug war mittlerweile seit ungefähr drei Stunden in der Luft und es würde noch einige Stunden dauern, bis sie in Phoenix landen würden.

Träumt sie? fragte Riley sich.

Wenn ja, hoffte Riley, dass die Träume keine bösen waren.

Jilly hatte schreckliche Erfahrungen in ihrem kurzen Leben durchmachen müssen und sie hatte immer noch viele Albträume davon. Sie war besonders nervös gewesen, seit der Brief vom Sozialamt in Phoenix angekommen war, der sie darüber informieren sollte, dass Jillys Vater seine Tochter wiederhaben wollte. Sie flogen nun nach Phoenix zu einem Gerichtstermin, welcher diese Angelegenheit ein für alle Mal klären sollte.

Riley konnte nicht anders als ebenso nervös und besorgt zu sein. Was würde aus Jilly werden, wenn der Richter ihr nicht erlauben würde bei Riley zu bleiben?

Die Sozialarbeiterin hatte gesagt, dass sie nicht dachte, dass das passieren könnte.

Aber was, wenn sie sich irrt? dachte Riley.

Jillys gesamter Körper begann heftiger zu zucken. Sie begann leise zu wimmern.

Riley schüttelte sie vorsichtig und sagte: „Wach auf, Liebling. Du hast nur einen bösen Traum.“

Jilly setzte sich ruckartig auf und starrte einen Moment lang vor sich her. Dann brach sie in Tränen aus.

Riley legte ihren Arm um sie und langte in ihre Handtasche um nach einem Taschentuch zu suchen.

Sie fragte: „Was ist los? Was hast du geträumt?“

Jilly schluchzte wortlos vor sich hin. Schließlich sagte sie: „Es war nichts. Mach dir keine Sorgen.“

Riley seufzte. Sie wusste, dass Jilly Erlebnisse mit sich trug, von denen sie nicht sprechen mochte.

Sie fuhr über die dunklen Haare des Mädchens und sagte: „Du kannst mir alles erzählen, Jilly. Das weißt du doch.“

Jilly trocknete ihre Augen und putzte sich die Nase.

Endlich sagte sie: „Ich habe von etwas geträumt, das wirklich passiert ist. Vor einigen Jahren. Mein Vater hatte einen seiner ernsthaften Trinkwahne und beschuldigte mich, wie immer –– dafür, dass meine Mutter uns verlassen hatte, dafür, dass er keine Arbeit halten konnte. Gab mir die Schuld an allem. Er sagte, er wollte mich aus seinem Leben raushaben. Er griff mich am Arm und schleppte mich in eine Kammer, schubste mich rein, verschloss die Tür und…“

Jilly wurde still und schloss ihre Augen.

„Bitte erzähl es mir“, sagte Riley.

Jilly schüttelte sich und fuhr fort: „Ich hatte erst Angst zu schreien, weil ich dachte, er würde mich wieder rausholen und schlagen. Er ließ mich einfach dort drin, als hätte er mich vergessen. Und dann…“

Jilly unterdrückte einen Schluchzer.

„Ich weiß nicht, wie viele Stunden vergangen waren, aber alles wurde ganz ruhig. Ich dachte, dass er vielleicht eingeschlafen war, oder ins Bett gegangen oder so. Aber das hielt sehr, sehr lange so an und alles blieb so still. Endlich begriff ich, dass er das Haus verlassen haben musste. Er machte das manchmal. Er verschwand über Tage und ich wusste nie, wann er zurück sein würde, oder ob er jemals zurück sein würde.“

Riley fuhr zusammen, als sie sich versuchte vorzustellen, wie sich das arme Kind gefühlt haben musste.

Jilly sprach weiter: „Endlich begann ich zu schreien und an die Tür zu hämmern, aber natürlich konnte mich niemand hören und ich konnte nicht raus. Ich war alleine in dieser Kammer für… ich weiß immer noch nicht wie lange es gewesen war. Wahrscheinlich Tage. Ich hatte nichts zu essen und ich konnte nicht schlafen, weil ich so hungrig war und solche Angst hatte. Ich musste dort drin sogar auf Toilette gehen und das später alles wegmachen. Ich begann komische Dinge im Dunkeln zu hören und zu sehen –– ich nehme an, es waren Halluzinationen. Ich habe wohl ein bisschen den Verstand verloren.“

Kein Wunder, dachte Riley in Horror.

Jilly sagte: „Als ich wieder Geräusche im Haus hörte, dachte ich erst, ich bilde es mir nur ein. Ich schrie auf und Dad kam zur Kammer und schloss sie auf. Er war nun stocknüchtern und schien überrascht mich dort zu entdecken. ‚Wie bist du denn da reingekommen?‘ fragte er. Er tat total entrüstet darüber, dass ich mich in so eine Lage begeben hatte und behandelte mich für eine kurze Weile nach diesem Vorfall ganz ok.“

Jillys Stimme war nun beinahe zu einem Flüstern abgeebbt, als sie hinzufügte: „Meinst du er bekommt das Sorgerecht für mich?“

Riley schluckte einen harten Knoten der Aufregung hinunter. Sollte sie dem Mädchen, welches sie immer noch als ihre eigene Tochter adoptieren wollte, ihre eigenen Ängste mitteilen?

Sie konnte sich nicht dazu bringen.

Stattdessen sagte sie…

„Ich bin mir sicher, dass er es nicht bekommt.“

“Es muss so kommen”, sagte Jilly. “Denn wenn er es bekommt, renne ich endgültig weg. Niemand wird mich je wiederfinden.“

Riley fühlte einen kalten Schauer über ihren Rücken laufen, als sie begriff…

Sie meint es wirklich ernst.

Jilly war schon öfter von Orten weggelaufen, die sie nicht mochte. Riley erinnerte sich nur zu gut daran, wie sie Jilly überhaupt gefunden hatte. Riley hatte in einem Fall zu toten Prostituierten in Phoenix ermittelt und hatte Jilly in der Fahrerkabine eines Lastwagens gefunden, auf einem Parkplatz, wo Prostituierte arbeiteten. Jilly hatte beschlossen selbst Prostituierte zu werden und ihren Körper an den Fahrer des Lastwagens zu verkaufen.

Würde sie so etwas verzweifeltes erneut tun? fragte Riley sich.

Riley flößte dieser Gedanke pures Entsetzen ein.

Mittlerweile hatte Jilly sich wieder beruhigt und nickte langsam wieder ein. Riley lehnte den Kopf des Mädchens wieder an ihre Schulter. Sie versuchte nicht mehr an die bevorstehende Anhörung zu denken. Aber sie konnte die Angst, Jilly zu verlieren, nicht loswerden.

Würde Jilly überhaupt überleben, sollte das tatsächlich passieren?

Und wenn sie es überleben würde, was für ein Leben würde sie dann führen?

*

Als das Flugzeug landete warteten vier Leute auf Riley und Jilly. Eine Person war ihnen gut bekannt –– es war Brenda Fitch, die Sozialarbeiterin, die Jilly in Rileys Obhut gegeben hatte. Brenda war eine schlanke, nervöse Frau mit einem warmen und besorgten Lächeln.

Riley kannte die drei anderen Leute nicht. Brenda umarmte Jilly und Riley und stellte alle einander vor, angefangen mit einem kräftigen und lächelnden Paar mittleren Alters.

Brenda sagte: „Riley, ich glaube nicht, dass du Bonnie und Arnold Flaxman kennengelernt hast. Sie waren für eine kurze Zeit Jillys Pflegeeltern, nachdem du sie gerettet hattest.“

Riley nickte und erinnerte sich, wie Jilly kurze Zeit später von dem gutmütigen Paar weggelaufen war. Jilly war entschlossen bei niemandem außer bei Riley zu leben. Riley hoffte, dass die Flaxmans keine bösen Erinnerungen daran hegten. Sie schienen ihr aber warm und herzlich entgegenzutreten.

Brenda stellte Riley sodann einem großen Mann mit einem langen, komisch geformten Kopf und etwas abwesendem Lächeln vor.

Brenda sagte: „Das ist Delbert Kaul, er wird als unser Anwalt auftreten. Kommen Sie, lassen Sie uns alle irgendwo hingehen, wo wir uns in Ruhe hinsetzten und alles besprechen können.“

Die Gruppe machte sich auf den Weg durch den Einkaufbereich des Flughafens zum nächsten Cafe. Die Erwachsenen bestellten Kaffee, Jilly bekam ein Kaltgetränk. Als sie sich alle setzten, erinnerte Riley sich, dass Bonnie Flaxmans Bruder Garrett Holbrook war, ein FBI Agent hier in Phoenix.

Riley fragte: „Wie geht es Garrett?“

Bonnie zuckte mit den Schultern und lächelte. „Ach sie wissen schon. Garrett ist Garrett.“

Riley nickte. Sie hatte den Agenten als einen eher schweigsamen und zurückhaltenden Mann in Erinnerung. Doch dann hatte Riley den Mord an Garretts entfremdeter Halbschwester geführt. Er war dankbar gewesen, als der Mord aufgedeckt werden konnte und hatte dabei geholfen Jilly in Pflege zu den Flaxmans zu geben. Riley wusste, dass sich hinter seinem kühlen Betragen ein gutherziger Mann verbarg.

Brenda sagte zu Riley: „Ich freue mich, dass du und Jilly so kurzfristig herreisen konntet. Ich hatte wirklich gehofft, dass wir die Adoption mittlerweile abschließen könnten. Aber wie ich in meinem Brief geschrieben hatte, sind wir auf eine kleine Hürde gestoßen. Jillys Vater behauptet, dass er die Entscheidung Jilly aufzugeben unter Druck getroffen hatte. Nicht nur will er die Adoption anfechten, er droht dich wegen Entführung anzuzeigen –– und mich auch, als Komplizin.“

Während er durch einige Dokumente blätterte, fügte Delbert Kaul hinzu: „Seine Vorwürfe sind nicht standhaft, jedoch stellen sie ein Ärgernis dar. Machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin mir sicher, dass wir das alles morgen klären können.“

Irgendwie kam Riley Kauls Lächeln nicht besonders zuversichtlich vor. Er hatte etwas Schwaches und Unsicheres in seiner Art. Sie wunderte sich wie um alles in der Welt er den Fall bekommen hatte.

Riley bemerkte, dass Brenda und Kaul gut miteinander auskamen. Sie schienen kein Paar zu sein, aber es kam ihr vor, als wären sie gute Freunde. Vielleicht hatte Brenda ihn aus diesem Grund angestellt.

Nicht notwendigerweise ein guter Grund, dachte Riley sich.

„Wer ist der Richter?“, fragte ihn Riley.

Kauls Lächeln schwand ein wenig als er antwortete: „Owen Heller. Nicht gerade meine erste Wahl, aber der beste, den wir unter diesen Umständen bekommen konnten.“

Riley unterdrückte einen Seufzer. Sie fühlte sich zunehmend verunsichert. Sie hoffte, dass bei Jilly nicht dieselben Gefühle aufkamen.

Kaul sprach dann davon, was die Gruppe bei der Anhörung zu erwarten hatte. Bonnie und Arnold Flaxman würden zu ihrer eigenen Erfahrung mit Jilly etwas sagen. Sie würden hervorherben, dass das Mädchen eine stabile familiäre Situation brauchte, die sie mit ihrem Vater einfach nicht haben konnte.

Kaul sagte, dass er wünschte, dass Jillys älterer Bruder auch aussagen könnte, jedoch war er seit langem verschwunden, und Kaul war es nicht gelungen ihn ausfindig zu machen.

Riley sollte sich in ihren Aussagen darauf konzentrieren, welches Leben Jilly bei ihr haben würde. Sie war mit einem dicken Paket aller möglichen Unterlagen nach Phoenix angereist, die ihre Behauptungen untermauern konnten. Unter anderem waren es auch Auskünfte zu ihrer finanziellen Lage.

Kaul tippte mit seinem Kugelschreiber auf den Tisch und sagte: „Nun, Jilly, du musst nicht aussagen –– “

Jilly unterbrach ihn. “Ich will aber. Ich werde aussagen.“

Kaul schien ein wenig überrascht über die Entschlossenheit in Jillys Stimme. Riley wünschte sich, dass der Anwalt genauso entschlossen wäre, wie sie.

„Na gut“, sagte Kaul. „Dann können wir das als geklärt ansehen.“

Als das Treffen zu Ende ging verabschiedete sich Brenda gemeinsam mit Kaul und den Flaxmans und sie verließen gemeinsam das Lokal. Riley und Jilly machten sich auf ein Auto zu mieten, um zu einem nahegelegenen Hotel zu fahren und dort einzuchecken.

*

Sobald sie sich in ihrem Hotelzimmer eingerichtet hatten, bestellten Riley und Jilly Pizza. Im Fernsehen lief ein Film den sie beide zuvor gesehen hatten, und sie beachteten die Handlung nicht besonders. Zu Rileys Erleichterung schien Jilly nun kein bisschen aufgeregt zu sein. Sie unterhielten sich gemütlich über Kleinigkeiten wie Jillys kommendes Schuljahr, Klamotten und Schuhe, das Leben der Stars und auch über die Nachrichten.

Riley fand es unglaublich, dass Jilly erst vor so kurzer Zeit in ihr Leben getreten war. Ihre Beziehung war so natürlich und unbeschwert.

So, als wäre sie schon immer meine Tochter gewesen, dachte Riley. Sie begriff, dass das genau das war, was sie für dieses Mädchen empfand, doch dies brachte eine neue Welle der Sorgen mit sich.

Würde das alles morgen ein Ende haben?

Riley konnte sich nicht dazu bringen, sich vorzustellen, wie sich das anfühlen würde.

Sie hatten fast ihre Pizza aufgegessen als sie von einem lauten Signal, das von Rileys Laptop ausging, unterbrochen wurden.

„Oh, das muss April sein!“, sagte Jilly. „Sie hat mir versprochen per Videochat anzurufen.“

Riley lächelte und ließ Jilly den Anruf von ihrer älteren Tochter entgegennehmen. Riley lauschte müßig dem Gespräch der beiden Mädchen, die vor sich her schnatterten wie die Schwestern, die sie in den letzten Monaten wahrhaftig geworden waren.

Als die Mädchen ihr Gespräch beendet hatten, unterhielt Riley sich mit April während Jilly sich auf das Bett fallen ließ und begann fernzusehen. Aprils Gesichtsausdruck war ernst und besorgt.

Sie fragte: „Wie sieht es für morgen aus, Mom?“

Riley warf einen Blick zu Jilly und sah, dass sie in dem Film versunken war. Sie dachte nicht, dass Jilly ihrem Gespräch wirklich folgte, wollte aber trotzdem vorsichtig sein.

„Wir werden sehen“, antwortete sie.

April sprach in einer leisten Stimme, sodass Jilly nichts mitbekam.

„Du siehst besorgt aus, Mom.“

„Ja, wahrscheinlich hast du recht“, sagte Riley selbst leise.

„Du schaffst das, Mom. Ich weiß, dass du es schaffst.“

Riley musste schlucken.

“Ich hoffe es”, sagte sie.

Immer noch mit leiser Stimme war April nun doch sehr von ihren Emotionen mitgerissen.

„Wir können sie nicht verlieren, Mom. Sie kann nicht zu diesem alten Leben zurück.“

„Ich weiß“, sagte Riley. „Mach dir keine Sorgen.“

Riley und April saßen einen Moment lang schweigend da. Riley war auf einmal zutiefst bewegt von der Reife, die ihre Fünfzehnjährige zeigte.

Sie wird wirklich erwachsen, dachte Riley stolz.

Schließlich sagte April: „Naja, ich lass dich mal gehen. Ruf mich an, sobald ihr etwas Neues hört.“

„Das mache ich“, sagte Riley.

Sie beendete den Videoanruf und ging hinüber zum Bett um sich wieder neben Jilly zu setzen. Sie waren gerade am Ende des Films angelangt, als das Telefon klingelte. Riley fühlte eine erneute Welle der Besorgnis über sie schwemmen.

Anrufe brachten in letzter Zeit nie gute Nachrichten.

Sie nahm ab und hörte die Stimme einer Frau.

„Agentin Paige, ich rufe sie von der Quantico Telefonzentrale an. Wir haben soeben einen Anruf von einer Frau aus Atlanta erhalten und…nun ja, ich weiß nicht genau, was ich tun soll, aber sie möchte unbedingt mit Ihnen persönlich sprechen.“

„Atlanta?“, fragte Riley nach. „Um wen handelt es sich?“

“Ihr Name ist Morgan Farrell.”

Riley fühlte einen kalten Schauer über ihren Rücken gleiten.

Sie erinnerte sich an die Frau von einem Fall, an dem sie im Februar gearbeitet hatte. Morgans reicher Ehemann, Andrew, hatte für kurze Zeit unter Mordverdacht gestanden. Riley und ihr Partner, Bill Jeffreys, hatten Andrew Farrell in seinem Zuhause verhört, und hatten festgestellt, dass er nicht der Mörder war, nach dem sie suchten. Nichtsdestotrotz bemerkte Riley, dass der Mann seine Ehefrau misshandelte.

Sie hatte Morgan damals heimlich ihre FBI Karte zugesteckt, hatte jedoch nie etwas von ihr gehört.

Wahrscheinlich will sie endlich Hilfe, dachte Riley und stellte sich die dünne, elegante und schüchterne Frau vor, die sie in Andrew Farrells Villa angetroffen hatte.

Doch dann kam Riley ins Zweifeln –– was konnte sie unter den gegenwärtigen Umständen schon für diese Frau tun?

Das letzte was sie gerade brauchte war ein weiteres Problem, das sie lösen musste.

Der Operator hakte nach: „Soll ich den Anruf weiterleiten?“

Riley hielt noch einen Moment lang inne und antwortete schließlich: „Ja, bitte.“

Einen Augenblick später vernahm sie eine Frauenstimme.

„Hallo, ist das Spezialagentin Riley Paige?“

Es ging ihr nun auf, dass sie Morgan kein einziges Wort hatte sagen hören als sie bei ihnen zuhause war. Sie schien so große Angst vor ihrem Mann gehabt zu haben, dass sie nicht einmal zu sprechen wagte.

Nun klang sie aber nicht allzu ängstlich.

Tatsächlich klang sie sogar ziemlich fröhlich.

Ist das nur ein Höflichkeitsanruf? fragte Riley sich.

„Ja, hier ist Riley Paige“, antwortete sie.

„Nun ja, ich dachte nur, dass ich Ihnen einen Anruf schulde. Sie waren überaus freundlich zu mir, an diesem Tag, an dem Sie unser Zuhause besucht hatten. Sie haben mir Ihre Karte hinterlassen und Sie schienen besorgt um mich zu sein. Ich wollte Sie nur wissen lassen, dass Sie sich keine Sorgen mehr machen müssen. Jetzt ist alles gut.“

Riley atmete erleichtert auf.

„Ich freue mich, das zu hören“, sagte sie. „Haben Sie ihn verlassen? Lassen Sie sich scheiden?“

“Nein”, antwortete Morgan fröhlich. “Ich hab‘ den Mistkerl umgebracht.“

€5,51
Altersbeschränkung:
16+
Veröffentlichungsdatum auf Litres:
10 Oktober 2019
Umfang:
292 S. 4 Illustrationen
ISBN:
9781640295780
Download-Format:

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