Die Perfekte Nachbarin

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KAPITEL FÜNF

Jessie kaute nervös an ihrem Muffin herum.

Während sie im Nickel Diner in der South Main Street auf Garland Moses wartete, hatte sie das seltsame Gefühl, dass sie jemand hinterging. Normalerweise arbeiteten sie und Ryan zusammen. Aber Ryan hatte letzte Nacht mit Garland in einem Fall in Manhattan Beach ermittelt. War ihre Zusammenarbeit in irgendeiner Weise ein persönlicher Angriff? Oder dieses gemeinsame Frühstück? Sie wusste, dass es im Grunde genommen ein lächerlicher Gedanke war. Dennoch ließ das Gefühl nicht nach.

Garland kam schließlich um 8.30 Uhr herein geschlurft, eine geschlagene halbe Stunde später als vereinbart. Seine weißen Haare sahen noch wilder und unordentlicher aus als sonst. Seine Brille schien ihm jeden Moment von der Nasenspitze rutschen zu wollen. Er sah noch nicht einmal auf, als er sich seinen Weg zu dem Tisch bahnte, den er, wie Jessie wusste, bevorzugte.

Sie nahm mit der Kellnerin Blickkontakt auf und bedeutete ihr, Garland einen Kaffee zu bringen, da er ziemlich fertig aussah. Wenn sie so lange aufgeblieben wäre, wäre auch sie müde, und sie war 30, keine 71.

„Lange Nacht?“, fragte sie, als er sich setzte.

Er lächelte reumütig.

„Ich bin zu spät ins Bett gegangen“, gestand er. „Bestimmt kann Ihnen das Ihr Freund bestätigen. Ich könnte jetzt wirklich einen Kaff…“

Er hielt inne, als eine Tasse vor ihn gestellt und aufgefüllt wurde.

„Sie haben meine Gedanken gelesen“, sagte er zur Kellnerin, die auf Jessie deutete.

„Nein, sie hat es.“

„Das nenne ich mal Profiling“, sagte er und nahm vorsichtig einen Schluck.

„Das ist kein Profiling, Garland. Zu wissen, dass Sie einen Kaffee möchten, wenn Sie hier reinkommen, ist, als wüsste man, dass die Sonne im Osten aufgeht.“

„Trotzdem vielen Dank“, erwiderte er.

„Wie ist es letzte Nacht gelaufen?“, fragte sie.

„Hat Ihnen Hernandez nichts erzählt?“

„Er ist gegangen, als ich gerade aufstehen wollte. Hat mich nicht wecken wollen. Sagt mir immer, ich solle mich ausruhen und so.“

„Vielleicht sollten Sie auf ihn hören“, bemerkte Garland fürsorglich. „Schließlich müssen Sie mit mehrfachen Verbrennungen, einem Schädel-Hirn-Trauma und einem angeknacksten Ego zurechtkommen.“

„Versuchen Sie etwa witzig zu sein, Garland?“, fragte sie. „Wenn ja, dann sollten Sie lieber bei Ihrem eigentlichen Job bleiben, den Sie nun offenbar auch nachts ausführen müssen.“

„Versuchen Sie nicht, das Thema zu wechseln“, konterte Garland. „Ich weiß, dass Sie eher zur Arbeit zurückkehren wollen, als es die Ärzte raten, und das sollten Sie nicht tun. Warten Sie, bis Ihr Körper soweit ist.“

„Woher wollen Sie wissen, dass ich früher zurückkehren will?“, fragte sie herausfordernd.

„Ganz einfach“, erwiderte er mit einem verschmitzten Lächeln. „Jedes Mal, wenn Sie sich drehen oder nach vorne beugen, zucken Sie unfreiwillig zusammen, was mich darauf schließen lässt, dass Sie die Dosis Ihrer Schmerzmittel gesenkt haben. Außerdem lehnen Sie sich nach vorne wie ein Schulmädchen, das sich davor fürchtet, von der Nonne einen Klaps auf die Hand zu bekommen, wenn es an seinem Tisch lümmelt.“

„Was hat das denn damit zu tun?“

„Sie haben Angst, dass Ihr Rücken die Lehne des Stuhls berührt, denn er ist noch immer empfindlich. Also sitzen Sie so steif da wie die folgsamste Klosterschülerin, die mir je untergekommen ist.“

Sie schüttelte den Kopf, sowohl aus Verärgerung als auch vor Bewunderung.

„Schon mal nachgedacht, Profiler zu werden?“

„Mit Schmeicheleien werden Sie weit kommen“, sagte er und nahm einen weiteren Schluck Kaffee. „Aber ich meine es ernst. Sie sollten sich schonen. Außerdem, wenn Sie sich etwas aus der Öffentlichkeit raus halten, dann geraten diese rassistischen Posts bald in Vergessenheit.“

„Die Posts, die ich nicht geschrieben habe?“, erinnerte Jessie ihn.

„Darum geht es mittlerweile gar nicht mehr“, erwiderte er resigniert. „Egal, wie viele Beweise Sie erbringen, dass man Ihre Konten gehackt hat, manche Leute werden Sie immer noch für eine schreckliche Person halten wollen.“

„Sie finden also, ich sollte mich bedeckt halten, bis die Leute vergessen, dass sie der Meinung sind, ich sei ein Rassist?“, fragte Jessie misstrauisch.

Garland seufzte, wollte den Köder aber nicht schlucken.

„Vielleicht sollten Sie tun, was Ihre Freundin Kat tut“, schlug er vor.

Jessies Freundin, die Privatdetektivin Katherine „Kat“ Gentry, ließ gerade eine komplette neurologische Untersuchung an der Mayo Klinik in Phoenix über sich ergehen. Sie war während der Rettung der entführten Frau aus dem brennenden Haus dabei gewesen. Kat und Jessie hatten beide Gehirnerschütterungen erlitten, als eine Bombe am Tatort explodiert war.

Für Kat, die als Army Ranger in Afghanistan gedient hatte und stolz darauf war, ihre Narben, sowohl die äußeren als auch die inneren, zu ignorieren, war dies mindestens ihre sechste Untersuchung. Sie hatte schließlich eingewilligt, sich durchchecken zu lassen, als die Kopfschmerzen und das Klingeln in den Ohren nach zwei Wochen immer noch nicht abgeklungen waren. Sie würde noch fünf Tage in Arizona sein, bevor sie an diesem Wochenende zurückkehrte.

„Kat ist eine Militärveteranin, die sich mit PTBS, IED-Verletzungen und möglicherweise CTE herumschlägt“, sagte Jessie zu ihm. „Ich bin bloß eine Frau mit ein paar Verbrennungen.“

Garland setzte ein gütiges Lächeln auf.

„Das war eine ziemliche Buchstabensuppe, Jessie. Und auch wenn es stimmt, dass Ihre Freundin mit sehr ernsten Problemen zu kämpfen hat, das tun Sie auch. Sie hatten bereits mehrere Gehirnerschütterungen. Und Sie haben mehr Narben, sowohl physische als auch emotionale, als die meisten Soldaten. Wie viele von ihnen wurden von ihrem leiblichen Vater gefoltert, nachdem sie mit eigenen Augen erlebt haben, wie er ihre Mutter ermordet hat?“

„Wahrscheinlich einige“, erwiderte Jessie patzig.

„Und wie viele von ihnen mussten es mit demselben Vater in einem Kampf auf Leben und Tod aufnehmen? Und später seinen Protegé – ebenfalls ein Serienkiller – töten? Und sich mit ihrem soziopathischen Mörder von einem Ex-Mann anlegen? Und …“

„Ich hab’s kapiert, Garland“, unterbrach Jessie ihn.

Eine Weile saß er schweigend da.

„Ich will einfach nur sagen, dass Sie auf sich achtgeben müssen. Wenn schon nicht zu Ihrem eigenen Wohl, dann zumindest für Ihre jüngere Schwester und den schneidigen Detective, den Sie lieben. Diesen Beziehungen wird es nicht guttun, wenn Sie sich selbst nicht schonen. Geben Sie auf sich acht, und dann können Sie auch auf sie achtgeben.“

Sie nickte und biss ein Stückchen von dem Muffin ab, der sie aber nicht mehr sonderlich interessierte.

„Mir ist aufgefallen, dass auch Sie das Thema gewechselt haben“, bemerkte sie.

„Was?“

„Der Fall? Haben Sie ihn gelöst?“

„Kann jeden Moment soweit sein“, erwiderte er trocken.

„Wollen Sie mir überhaupt irgendwas von diesem Fall erzählen?“, fragte sie leicht entnervt.

„Tote Frau im Haus der Nachbarn gefunden“, erwiderte er gelassen. „Wir können den Ehemann ausschließen, was mich sehr enttäuscht, denn er ist ein wirklich unangenehmer Zeitgenosse. Gerne hätte ich ihm das angehängt. Aber zumindest bedeutet das, dass ich mich nicht mehr mit ihm abgeben muss. Er ist so charmant wie ein Krebsgeschwür.“

„Was noch?“, fragte sie.

Er sah sie mit einem seltsamen Ausdruck an, als ob er sie etwas fragen wollte, aber nicht so recht wusste, wie er es zur Sprache bringen sollte.

„Würden Sie sich als modebewussten Menschen bezeichnen?“, fragte er schließlich.

Damit hätte Jessie nun wirklich nicht gerechnet.

„Ich weiß mich zu kleiden“, erwiderte sie. „Aber habe ich ein Abo der Vogue? Nein. Warum?“

Er wollte weitersprechen, hielt dann aber inne und nahm stattdessen einen weiteren Schluck von seinem Kaffee.

„Das war’s?“, wollte sie wissen. „Wollen Sie das nicht näher erklären?“

„Lieber nicht“, erwiderte er. „Ich habe schon zu viel gesagt. Wenn ich noch mehr rausrücke, wäre das nur wie der erste Chips aus der Tüte, und Sie wollen nur noch mehr. Sie sollen sich erholen, und ich will das nicht sabotieren. Wenn Sie wirklich mehr Einzelheiten wissen wollen, hauen Sie Hernandez an.“

„Oh Mann“, erwiderte Jessie. „Das war der einzige Grund, warum ich Sie um ein Treffen gebeten hatte.“

„Und ich dachte, sie genießen meine Gesellschaft. Ich bin tief getroffen.“ Er klang beleidigt, aber sie sah, wie sich seine Mundwinkel langsam zu einem Lächeln hoben.

„Sie sind ein sehr unangenehmer Mann“, sagte sie. „Das wissen Sie doch, oder?“

Er nahm erneut einen Schluck und erlaubte sich diesmal ein richtiges Lächeln.

„Möchten Sie auch über etwas mit mir sprechen, das nichts mit dem Fall zu tun hat?“, fragte er. „Ich habe das Gefühl, Sie halten etwas zurück.“

„Was soll ich zurückhalten?“, erwiderte sie, etwas gereizter als beabsichtigt.

„Wir haben schon länger nicht mehr über Hannah gesprochen. Wie geht es ihr?“

Jessie atmete schwer aus.

„Manchmal zuckersüß. Manchmal launisch. Manchmal urkomisch. Manchmal zickig. Manchmal still. Einfach der ganz normale Albtraum.“

„Aber keine Morde, oder?“, fragte Garland.

„Was?“

„Die Halbschwester, von der Sie befürchten, sie könnte eine angehende, soziopathische Serienmörderin in der Ausbildung sein – sie hat noch niemanden ermordet?“

„Nicht, dass ich wüsste“, antwortete Jessie.

„Dann ist launisch im Vergleich dazu gar nicht so übel“, bemerkte er.

Sie zuckte zustimmend die Achseln.

„Nicht, wenn Sie es so ausdrücken.“

„Dann können Sie wohl von Glück reden“, sagte er sanft. „In Anbetracht des Lebens, das Sie führen, könnte es viel schlimmer sein.“

Jessie konnte das nicht abstreiten. Sie war gerade dabei, ihn nach seiner Meinung bezüglich einer anderen Angelegenheit zu fragen, als ihr Telefon klingelte. Sie sah nach unten auf ihr Handy. Es war ihr guter Freund, der FBI-Agent Jack Dolan, dessen Leute ihren Ex-Mann Kyle beobachteten.

 

„Da muss ich rangehen“, sagte sie.

„Das ist okay“, erwiderte Garland und legte einen 5-Dollar-Schein auf den Tisch. „Ich sollte jetzt sowieso ins Büro. Ihr Freund vermisst mich wahrscheinlich.“

„Soll ich Sie mitnehmen?“

„Nö. Sie haben Ihren Anruf. Außerdem wissen Sie doch, dass ich gerne zu Fuß gehe.“

„Okay“, sagte sie, als sie ans Telefon ging. „Hi, Dolan.“

„Hey, Jessie“, raunte Garland mit leiser Stimme, als er aufstand.

„Warte eine Sekunde, Dolan“, sagte sie ins Telefon, dann sah sie zu dem kauzigen Kerl vor ihr auf. „Ja, Garland?“

„Denken Sie daran, Sie allein haben die Kontrolle über Ihr Leben. Nicht Decker, nicht Hannah, nicht Hernandez und vor allem kein Serienkiller. Manchmal ist es schwer, das zu erkennen. Aber Sie haben immer eine Wahl.“

„Danke, Konfuzius“, sagte sie und zwinkerte ihm zu. „Wir reden später, okay. Ich muss jetzt telefonieren. Es geht um Kyle.“

Garland lächelte, verbeugte sich leicht und verließ das Lokal. Sein störrisches weißes Haar verlor sich in der Ferne zwischen den eilig vorbeiziehenden Menschen, und er mischte sich gemächlich unter sie.

„Ich bin wieder dran“, sagte Jessie. „Was gibt’s, Jack?“

„Nichts Gutes – es geht um deinen Ex-Mann.“

KAPITEL SECHS

„Warte mal eine Minute“, sagte Jessie und ihr Herz machte einen kurzen Aussetzer. „Ich muss irgendwohin gehen, wo ich ungestört reden kann.“

Jessie bereute es beinahe zu warten. Die drei Minuten, in denen sie bezahlte, das Diner verließ und ins Auto stieg, kamen ihr wie eine halbe Ewigkeit vor. Dolan, ein abgebrühter Zyniker, dessen Laune selbst sein morgendliches Surfen kaum heben konnte, neigte nicht zu Übertreibungen. Wenn er sagte, dass eine Situation nicht gut war, war sie in der Regel äußerst schlecht. Sie hatte das Gefühl, dass ihr gleich ihr viertel Muffin, den sie gegessen hatte, hochkommen würde.

„Leg los“, sagte sie barsch, als sie den Anruf wieder entgegennahm.

„Die kurze Version ist: Wir haben nichts.“

„Es sind jetzt mehr als drei Wochen vergangen“, entgegnete sie. „Willst du damit sagen, dass er sich diese ganze Zeit über lammfromm verhalten hat?“

„Ja“, erwiderte Dolan, „was natürlich misstrauisch macht. Er hat noch nicht mal ein Stoppschild überfahren. Ihm ist selbstverständlich klar, dass wir ihn beobachten. Er winkt unseren Agenten immer zu, wenn er an ihnen vorbeifährt.“

„Haben sie nicht versucht, sich bedeckt zu halten?“

„Das haben sie anfangs. Aber, wie du weißt, ist er ziemlich schlau. Schon in der ersten Woche hat er unseren Van gesehen, also machte es keinen Sinn mehr, ihn weiter einzusetzen. Seitdem verwenden wir normale PKWs. Um ehrlich zu sein, meine Vorgesetzten wollen da nicht mehr lange mitspielen. Bald werden sie verlangen, dass wir das Ganze auf einen Agenten reduzieren. Es würde mich nicht wundern, wenn sie die komplette Überwachung am Ende der Woche einstellen, wenn bis dahin nichts geschieht. Dann wird ein Monat vergangen sein, in dem nichts vorgefallen ist.“

„Aber das ist genau das, worauf er wartet“, beharrte Jessie. „Er harrt so lange aus, bis ihr eure Jungs abzieht, und dann lässt er was Großes vom Ruder.“

Jessie spürte wieder die ihr wohlbekannte Beklemmung, als sie daran dachte, wie geschickt ihr Ex-Mann darin war, ein gefälliges Äußeres zu demonstrieren, das seine dahinter liegende böse Fratze verbarg.

„Du weißt, dass mir das bewusst ist“, erwiderte Dolan, sichtlich frustriert. „Aber denen da oben ist es relativ egal. Sie wollen Tatsachen sehen. Und wir können ihnen keine bieten. Du musst das Ganze aus ihrer Perspektive betrachten.“

„Was soll das heißen?“, wollte Jessie wissen.

„Denk dran, dass dein Ex-Mann genau genommen wegen Amtsvergehens eines Vollzugsbeamten freigelassen worden ist. Sie wollen sich nicht vorwerfen lassen, dass sie einen Mann schikanieren, der bereits vom System falsch behandelt worden ist. Das ist eine politische Frage. Die Tatsache, dass er ein Mörder ist, geht dabei völlig unter. Wir müssen also behutsam vorgehen. Wir sind kurz davor, dass uns unser Bemühen, ihm einen Gesetzesverstoß nachzuweisen, negative Medienberichte beschert. Heute ist eventuell der Tag, an dem die entscheidende Wende in dieser Sache eintritt.“

„Warum?“, fragte Jessie, allerdings hatte sie schon eine Ahnung. Kyle würde vor die Öffentlichkeit treten.

„Weil er heute Vormittag ein Interview mit einem Nachrichtensender hat“, antwortete Dolan und bestätigte damit ihr Gefühl. „Dabei soll es zwar um seine Stiftung gehen, allerdings würde es mich nicht wundern, wenn er auch seine momentane Situation zur Sprache bringt. Und mein Vorgesetzter macht sich Sorgen, dass er die Überwachung erwähnen könnte.“

Jessie merkte, dass sie schwitzte, allerdings wusste sie nicht, ob das an Dolans Worten lag oder an der stetig zunehmenden Hitze. Sie ließ den Motor an und drehte die Klimaanlage voll auf.

„Was ist mit dem Verdacht, dass er sich mit dem Monzon-Kartell eingelassen hat?“, fragte sie. „Haben sie keine Angst, dass sie, wenn sie seine Überwachung einstellen, nicht mitkriegen, wenn er sie kontaktiert?“

„Wir haben andere Mittel und Wege, ihn zu beschatten. Wir haben eine richterliche Verfügung erhalten, sein Auto mit einem Peilsender auszustatten, in seinem Haus Wanzen und Kameras zu installieren und sogar seine Anrufe aufzuzeichnen. Aber angesichts der Tatsache, dass ein Richter einem Staatsanwalt gerade einen Rüffel erteilt hat, weil er …“

„Ein Staatsanwalt, der garantiert vom Kartell bedroht wurde“, unterbracht sie ihn.

„Was wir allerdings nicht beweisen können“, entgegnete Dolan. „Meine Vorgesetzten befürchten, dass der Richter, der die Überwachungsmaßnahmen genehmigt hat, wenig geneigt sein wird, diese ausweiten zu lassen, falls sein Ruf auf dem Spiel steht. Wir befinden uns in einer prekären Lage.“

Jessie schüttelte den Kopf, auch wenn Dolan das nicht sehen konnte. Es war weniger als ein Monat vergangen, und schon manipulierte Kyle das System zu seinen Gunsten. Ihr stellten sich die Haare im Nacken auf, als sie daran dachte, was er alles in einem weiteren Monat in Freiheit anstellen könnte.

„Das ist genau das, was er wollte, weißt du“, bemerkte Jessie. „Er weiß, dass ihr ihn verfolgt, hat deswegen aber noch nicht aufgemuckt. Er lässt es über euren Köpfen schweben, und wird die Sache platzen lassen, wenn es für ihn am günstigsten ist. Solange es für seine Zwecke dienlich ist, macht er einen auf Unschuldslamm. Er will sich nicht bei der Presse beschweren, wenn ihr Jungs auch ohne das einen Rückzieher macht. Diesen Freifahrtschein hebt er sich für später auf. Das ist alles Teil seines Plans.“

Sie konnte hören, wie Dolan schwer ausatmete.

„Mich musst du nicht überzeugen, Jessie“, versicherte er ihr. „Ich bin auf deiner Seite. Allerdings frage ich mich gerade, ob wir unsere Jungs nicht jetzt abziehen sollten, bevor er irgendwelche Klagen erhebt. Dann können wir ohne weiteres belegen, dass wir ihm nicht folgen und ihn nicht schikanieren. Ich kann eine Pressemitteilung verfassen, dass unsere Agenten nur ab und an nach ihm sehen. Wenn er dann wegen uns rumjammert, schadet das seiner Glaubwürdigkeit. Er ist nicht der Einzige, der dieses Spiel spielen kann.“

„Nein, aber er ist besser darin als alle, denen ich je begegnet bin. Unterschätze ihn nicht.“

„Werd´ ich nicht“, versprach Dolan. „Wir wissen, dass Kyle aus dem Gefängnis raus ist, weil er das Kartell davon überzeugt hat, dass sich eine Investition in ihn lohnt. Wir wissen auch, dass sie ihm sogar dabei geholfen haben, für ihn dein Leben zu zerstören. Irgendwann wird er für sie liefern müssen. Bald wird was mit diesem Typen geschehen, das ihn in die Knie zwingen wird.“

„Ja, und er wird hoffentlich in die Knie gehen, bevor ich es tun muss.“

*

Jessie merkte, dass Ryan kein Salz in die Wunde streuen wollte.

„Wie geht’s euch denn so?“ fragte er sie und Hannah, während er den Brokkoli fürs Abendessen wusch und dabei tunlichst vermied, den Fall zu erwähnen.

Hannah bereitete eine Marinade für das Lamm vor, während Jessie nach der Bratpfanne suchte.

Es war klar, dass er hoffte, sie nicht eifersüchtig darüber zu machen, dass er draußen Morde untersuchte, während sie in der Wohnung festsaß, indem er nichts über seinen Tag erzählte. Sie hielt es für eine nette Geste, allerdings würde er bald erfahren, dass sie zwecklos war.

„Nur noch zwei Wochen Schule“, erwiderte Hannah fröhlich. „Dann haben wir Sommerferien. Das ist bei mir los.“

„Super“, entgegnete Ryan.

„Denk dran, dass du während des Sommers Nachhilfe hast“, erinnerte Jessie sie und ärgerte sich darüber, wie mamsellhaft sie klang.

„Ich weiß“, sagte Hannah daraufhin in einem sarkastischen Ton. „Aber das ist für ‚normale Kinder‘, und nicht in dieser Therapie-Einrichtung von Schule für Jugendliche mit ‚emotional aufwühlenden und psychologisch herausfordernden Erfahrungen‘. Außerdem fängt das erst in einem Monat an. Bitte mach doch meinem ohnehin zarten Gemüt nicht noch mehr zu schaffen.“

„Sorry“, sagte Jessie.

„Und dein Tag?“, fragte Ryan Jessie und wechselte damit rasch das Thema.

„Hätte besser sein können“, gestand sie. „Dolan hat mir gesagt, dass sie Kyle nichts anhängen können. Seit er draußen ist, war er so sittsam wie ein Chorknabe. Sie überlegen, die Überwachung abzuziehen.“

„Blöd.“

„Das ist es“, sagte sie. „Beinahe so blöd wie die Tatsache, dass mein Vertrauter und beruflicher Mentor mir nichts erzählt hat, als ich ihn nach den Einzelheiten des Falls, an dem er arbeitet, gefragt habe. Er hatte Angst, ich würde an Ort und Stelle anfangen zu geifern.“

„Oh nein.“

„Oh nein was?“, fragte sie.

„Oh nein, Garland hat mich vorgewarnt, dass du mich wegen Infos anhauen würdest, weil er dir nicht viel sagen wollte.“

„Ah ja?“, machte sie. „Hat er dir gesagt, wie du diesbezüglich mit mir umgehen sollst?“

„Er sagte mir, ich solle stark bleiben und unter deinem zermürbenden Verhör nicht zusammenbrechen.“

Jessie lächelte

„Was glaubst du, wie wirst du dich machen?“

„Ich bin mir sicher, dass ich standhaft bleiben werde“, erwiderte er und ging in Richtung des Schlafzimmers. „Aber erstmal werde ich duschen.“

„Du weißt, dass du mich nur eine gewisse Zeit lang hinhalten kannst“, rief sie, als er im Zimmer verschwand ohne zu antworten.

Jessie starrte die Tür an und fragte sich, ob sie diese allein durch ihren Blick zu Asche verbrennen könnte.

„Ähem“, machte Hannah zögerlich. „Ich will dich nicht noch mehr reizen, wo du schon so sauer bist, aber das Lamm, das ich braten wollte, riecht komisch. Wir sollten es wegschmeißen, was allerdings bedeutet, dass wir nichts fürs Abendessen haben.“

Jessie spürte, wie sie unweigerlich die Schultern hängen ließ. Dieser Tag würde so schlecht enden wie er begonnen hatte.

„Ich kümmere mich drum“, sagte sie schließlich.

„Sag mir bitte nicht, dass du selbst was kochen willst!“, rief Hannah ernsthaft besorgt.

„Dir ist hoffentlich bewusst, dass ich jahrelang fast jeden Abend was Essbares zustande gebracht habe, bevor du hier eingezogen bist. Hab etwas mehr Vertrauen.“

Fast jeden Abend?“, wiederholte Hannah.

„An manchen Abenden hatte ich nicht so viel Hunger“, verteidigte Jessie sich.

„Alles klar“, erwiderte Hannah, wenig überzeugt. „Du willst eine Pizza bestellen, nicht wahr?“

Jessie spürte bei diesen Worten das schlechte Gewissen in sich aufsteigen.

„Ja. Ich werde eine Pizza bestellen.“