Buch lesen: «LARP: Zeug»
Rafael Bienia, Gerke Schlickmann (Hrsg.)
LARP: Zeug
Aufsatzsammlung zum MittelPunkt 2015
Rafael Bienia, Gerke Schlickmann (Hrsg.)
„LARP: Zeug – Aufsatzsammlung zum MittelPunkt 2015“
Erste Auflage 2015
Copyright © 2015 Zauberfeder GmbH, Braunschweig
Herausgeber: Rafael Bienia, Gerke Schlickmann
Lektorat: Rafael Bienia, Gerke Schlickmann
Autoren: Gerke Schlickmann, Daniel Steinbach,
Tobias Cronert, Björn-Ole Kamm, Dennis Lange, Gregor Mascher, Stefan Deutsch, Heinrich Dickerhoff
Titelbild: Rafael Bienia
Satz und Layout: Christian Schmal
Herstellung: Tara Tobias Moritzen
Alle Rechte vorbehalten.
Kein Teil dieses Werkes darf ohne schriftliche Einwilligung des Verlags in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
ISBN: 978-3-938922-59-0
Hinweis:
Das vorliegende Buch ist sorgfältig erarbeitet worden. Dennoch erfolgen alle Angaben ohne Gewähr.
Autoren und Verlag bzw. dessen Beauftragte können für eventuelle Personen-, Sach- oder Vermögensschäden keine Haftung übernehmen.
LARP:
Zeug
AUFSATZSAMMLUNG ZUM MITTELPUNKT 2015
INHALT
Vorwort
• Illegales Larp-Zeug (Tobias Cronert)
• Die Kraft von nur 100 Yen – Larp in Japan (Björn-Ole Kamm)
• Ein Leben aus der Plastiktüte – Flucht als Thema im Live-Action-Roleplay (Daniel Steinbach und Dennis Lange)
• Finanzierung von Larp-Projekten – Crowdfunding und andere Optionen (Gregor Mascher)
• Warum wir bessere Locations brauchen (Stefan Deutsch)
• Verkleide dich! – Oder: Kleider machen Rollen (Heinrich Dickerhoff)
• Das Flüchtige dingfest machen – Larp als Forschungsgegenstand (Gerke Schlickmann)
Literatur: Lesenswert
DANKSAGUNG
Ein besonderer Dank gilt, neben dem Deutschen Liverollenspiel-Verband und dem Team des MittelPunkts 2015, den Sponsoren FaRK, Lost Ideas Orga, Mittelalterlive, MTH Melbars Tröpfelhandel, Mystische Bauten und Phönix-Carta, die dieses Buch erst ermöglicht haben.
VORWORT
Es ist Freitagnachmittag. Auf einem Zeltplatz kann man immer wieder hören: „Wie habe ich das ganze Zeug bloß ins Auto geschafft?“ Ein Dutzend Fahrzeuge steht herum, und um sie herum … Zeug! Jedes einzelne Auto war bis zur Decke beladen, und der Inhalt liegt jetzt auf der Wiese: Zelte, Feldbetten, Polsterwaffen, Essen, Getränke und Kisten mit Roben, Umhängen, Kettenhemden und anderweitigem Larp-Zeug.
Das Wort Zeug geht auf das mittelhochdeutsche „(ge)ziuc“ sowie das althochdeutsche „(gi)ziuch“ zurück. Eine weitere Bedeutung hat Zeug in der Militärtechnik: Hier wurde Zeug als Ausdruck für eine Rüstung, später für Geschütze mit ihrem Zubehör verwendet. Auch kennt man das Zeughaus als ehemalige Waffenkammer in einer Stadt. Das ursprüngliche „(ge)ziuc“ ist verwandt mit dem Verb „ziehen“ und bezeichnet das „Mittel zum Ziehen“.
In dieser Aufsatzsammlung möchten wir diesen Sinn weiter verfolgen und das Sinnbild beibehalten: Zeug zieht das Larp wie eine Schnur mit. Das Materielle des Zeugs ist verbunden mit der Fantasie, der Immersion und den Gefühlen der Teilnehmenden. An dieser Stelle kommen Fragen auf. Es ist allgemeiner Konsens, dass sich eine „gute“ Gewandung positiv auf das Rollenspiel auswirkt, aber wann ist eine Gewandung „gut“ und wie verbinden sich materielle Gewandung und Rollenspiel im Larp?
Sucht man Antworten bei der Larp-Forschung, findet man wenige Publikationen zum Thema Zeug, Gegenstände, Objekte und dergleichen. Die Forschung scheint der abwertenden Konnotation von Zeug zu folgen, die laut Duden folgendermaßen definiert wird: „etwas, dem kein besonderer Wert beigemessen wird, was für mehr oder weniger unbrauchbar gehalten und deshalb nicht mit seiner eigentlichen Bezeichnung benannt wird“ (Duden - Die deutsche Rechtschreibung, 2014). Ist die Verbindung zwischen Gewandung und Fantasie, Polsterwaffen und Rollenspiel, Location und Immersion trivial?
Um diese Fragen zu beantworten und eine Lücke in der aktuellen Larp-Forschung zu füllen, widmet sich die vorliegende Aufsatzsammlung thematisch den Gegenständen, Dingen, Materialien, kurz: all dem Zeug, das vor, während, und nach einem Larp mit dem Hobby verbunden ist. Allen mag es selbstverständlich sein, dass Zeug wichtig ist, um zu larpen, aber man wird überrascht sein auf welche Arten und Weisen die kleinen und großen Gegenstände zum Larp beitragen. Der vorliegende Band zur Konferenz MittelPunkt 2015 – Mit der Morgenröte nach Oz versammelt daher Beiträge aus unterschiedlichen Perspektiven. Die Autoren zeigen dabei nicht nur das theoretische Potenzial von Larp-Zeug als Forschungsgegenstand, sondern verdeutlichen an konkreten Beispielen, wie Zeug, Objekte, oder Gegenstände im Larp funktionieren.
In Illegales Larp-Zeug plaudert Tobias Cronert aus dem Nähkästchen eines Larp-Veranstalters und zeigt auf, welche Aspekte eines Cons von gesetzlichen Regelungen betroffen sind und wie Orgas den Spagat zwischen rechtlicher Absicherung einerseits und Verwirklichung ihrer kreativen Ideen andererseits bewältigen können. Er rät dazu, Regeln und Vorschriften von Anfang an in der Planung zu berücksichtigen und sie als eine von vielen logistischen Gegebenheiten zu betrachten, vor denen man nicht die Augen verschließen sollte, aber auch keine Angst haben muss.
Björn-Ole Kamm gibt uns einen der ersten Einblicke in das japanische Larp. In Die Kraft von nur 100 Yen: Larp in Japan widmet er sich dem Phänomen der 100-Yen-Läden, einem Äquivalent zu 1-Euro-Shops, und wie diese sich auf das japanische Larp auswirken. Neben den Beispielen japanischer Larps, die durch Gespräche mit Veranstaltern bereichert werden, stellt sich Kamm der spannenden Frage, wie man Gegenstände als nicht-menschliche Elemente für die Forschung fruchtbar machen kann.
Daniel Steinbach und Dennis Lange zeigen auf, wie sich komplexe und unbequeme Themen einfach und eindringlich mit Live-Rollenspiel und den dabei verwendeten Dingen vermitteln lassen. In Ein Leben aus der Plastiktüte: Flucht als Thema im Live-Action-Roleplay stellen sie diverse Drama Games und (Mini-)Larps vor, bei denen nicht zuletzt die Begrenztheit der Mittel dazu dienen kann, Verständnis für die entbehrungsreichen Bedingungen zu wecken, wegen und unter denen sich Menschen auf die Flucht begeben.
Gregor Mascher geht auf alternative Finanzierung und größere Projekte ein, beispielsweise Bauten auf Larp-Geländen. In Finanzierung von Larp-Projekten: Crowdfunding und andere Optionen beleuchtet Mascher Schwarmfinanzierung anhand vielseitiger Beispiele auf dem UTOPION und in Brokeloh. Neben konkreten Einblicken bieten die Beispiele Hinweise für zukünftige Projekte.
Stefan Deutsch wendet sich dezidierter dem Thema Location zu. In Warum wir bessere Locations brauchen vergleicht der Text internationale Larps und die Verflechtung mit der Location. Als wohl größter Gegenstand schafft es die Location, Veranstalter, Teilnehmer und Betreiber zusammenzubringen. Deutsch schlägt vor, dass die Location noch vor Genre und Plot Gegenstand der Überlegung sein sollte, damit sie als Spielort funktioniert.
In Verkleide dich! Oder: Kleider machen Rollen reflektiert Heinrich Dickerhoff, wie der alltägliche Wechsel von privaten und professionellen Rollen durch Ver-Kleidung nicht zuletzt im Larp bewusst gemacht werden kann. Dazu schildert er sowohl eigene Larp-Erfahrungen als auch Beispiele aus seiner Arbeit mit Neu-Larpern ganz verschiedener Altersgruppen. Anhand dieser Beispiele plädiert Dickerhoff dafür, die verschiedenen Rollen und Rollenwechsel des Lebens an-, aber nicht zu schwer zu nehmen.
Gerke Schlickmann widmet sich der Flüchtigkeit von Spiel als eines fundamentalen Problems der Larp-Forschung. Das Flüchtige dingfest machen: Larp als Forschungsgegenstand wendet sich von physischen Gegenständen ab hin zu Larp als Forschungsgegenstand, um Lösungen für zukünftige Studien zu bieten. Schlickmann präzisiert die Flüchtigkeit von Larp mit dem Konzept der nicht wiederholbaren Theateraufführung. Larp als Aufführung bietet verschiedene Lösungswege, die von den Forschenden verlangen, sich selbst nahe an die Dinglichkeit des Larp-Zeugs zu wagen. Hierfür schlägt Schlickmann die Ethnografie als Methode vor und wägt Vor- und Nachteile ab.
Wie im letzten Band benutzen wir in diese MittelPunkt-Aufsatzsammlung einen Aspekt aus der Wissenschaftskultur: das Peer Review. Peer Review ist ein Prozess, der unter anderem die Qualität wissenschaftlicher Beiträge steigert. Konkret bedeutete das für diesen Band, dass jeder Text von einem oder einer Fachkundigen gelesen und mit konstruktiver Kritik an den Autor zurück geschickt wurde. Wenn der Autor gewillt war, wurde der Text überarbeitet und wieder eingereicht. Manchmal war ein weiteres „Review“ nötig, um dem Text den letzten Schliff zu geben. Das Ergebnis hält der Leser in den Händen. An dieser Stelle möchte ich den Autoren herzlich danken, die unermüdlich mit den Reviews gearbeitet haben. Nicht alle anfangs eingereichten Beiträge haben diesen Prozess in seiner Gänze durchlaufen.
Ein Großteil geisteswissenschaftlicher Projekte beginnt mit dem Bekannten und reflektiert es. Das Ergebnis schlüsselt das scheinbar Triviale in ein komplexes Geflecht aus Elementen auf. Dadurch wird das jedem Larper vertraute Hobby transformiert, bekommt eine neue Ausprägung und lädt ein, es von mehreren Seiten zu betrachten und neu verstehen zu wollen.
Wir wünschen Erkenntnisgewinn und viel Vergnügen mit dem vorliegenden Band,
Rafael Bienia und Gerke Schlickmann
Tobias Cronert
ILLEGALES LARP-ZEUG
Eine Handvoll abgekämpfter Gestalten nähert sich im finsteren Wald vorsichtig dem uralten Obelisken. Außer den Geräuschen des Waldes und dem Knistern einer Fackel ist nichts zu hören, als der junge Magierlehrling die Reliquie in der dafür vorgesehenen Nische im Heiligtum platziert, während seine Freunde vorsichtig und voller Anspannung die Umgebung mustern. Plötzlich durchschneidet eine Stimme die Spannung in der Luft: „Timefreeze! Also, ihr werdet jetzt von allen Seiten von Zombies angegriffen, aber da wir die Waldwege nicht verlassen dürfen, müssen wir das auf der Wiese hinter dem Lager ausspielen, und da unser Sani gerade jemanden ins Krankenhaus bringt, müssen wir mit dem Kampf auch noch warten, bis er zurück ist. Außerdem müssen Fackeln und Laternen ausgemacht werden, wir dürfen außerhalb des Zeltplatzes kein offenes Feuer benutzen. Wir hinken mit dem Plot auch etwas hinterher und haben schon nach Mitternacht, also haben wir keine Genehmigung für Klasse-2-Feuerwerk mehr, das gilt auch für die Spieler, und weil es so spät geworden ist, muss ich auch noch mal die unter 18-Jährigen daran erinnern, dass sie nicht mehr in die Taverne gehen dürfen.“
Die meisten Larp-Arten in Deutschland stoßen an irgendeinem Punkt an Grenzen, die von Gesetzen und offiziellen Regeln bestimmt werden und nicht mehr von der Dynamik des Geschichtenerzählens oder den puren Ansprüchen der Logistik einer Veranstaltung. Abstrakte Gesetze und Richtlinien beeinflussen dann alles, vom Einsatz scheinbar echt aussehender Waffen, über Pyrotechnik und Schwarzpulver, bis hin zur Rücksichtnahme auf Waldbrandwarnstufen und Tierschutzrichtlinien. Dabei sehen sich Veranstalter allzu oft gefangen zwischen ihren Ambitionen, ein möglichst imposantes und/oder spaßiges Event auf die Beine zu stellen, und der Angst vor persönlichen Konsequenzen.
WAS KANN DENN ÜBERHAUPT ALLES ILLEGAL SEIN?
Als Erstes kommen da natürlich Pyrotechnik und die Simulation von Kämpfen mit Waffen in Betracht, aber grundsätzlich erstreckt sich der Konflikt mit „dem Gesetz“ auf so ziemlich alle Bereiche, denen man im Larp begegnen kann. Das fängt mit der Anreise zum typischen Feld-, Wald- und Wiesencon an, bei der zig Fahrzeuge auf Feldwegen und im Wald geparkt werden, obwohl dies mit forstwirtschaftlichen Nutzrechten, Umweltauflagen et cetera in Konflikt gerät. Der Benzingenerator für die Beleuchtung im Naturschutzgebiet sollte doch eigentlich auch kein Problem sein, oder?
Das Ganze geht dann weiter mit der Nutzung von Feuer im Lager bis zu Bauten der Orga im Wald, wo eigentlich gar nichts stehen dürfte. Diese Bauten sind dann auch metaphorisch die nächste Baustelle und reichen vom illegalen Eremiten-/Schamanenzelt im Wald bis zu Lagertürmen und Palisaden auf den Großcons, bei denen sich die Bauaufsicht bestimmt auch zweimal den Nacken kratzt. Fliegende Bauten, maximal 5 Meter Höhe und „Betreten auf eigene Gefahr“ … oder wie war das noch mal?
Wo wir gerade bei Umgebung sind, wie ist es mit Wegerechten im Wald? Wer tapert so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Lichkönig mit seiner Untotenarmee! Ist eigentlich gerade Jagdsaison? Die Besitzer kennen wir, aber wer war nochmal der Jagdpächter?
Von draußen zurück zu Heim und Herd: Brauchen/haben alle, die zum Küchendienst eingeteilt sind, eine Hygieneprüfung der IHK und der Pfannkuchenstand eine Konzession? Braucht der überhaupt eine – und wenn wir gerade schon dabei sind, wie war das noch mal mit dem Schankrecht? Vereinsveranstaltung? Ähm …
GEMA-Gebühren fallen bei einer Vereinsveranstaltung doch auch nicht an oder war das der Passus mit der öffentlichen Veranstaltung?
Weil die letzten zehn Schlauchmeter der Wasserleitung nicht vom Gesundheitsamt abgenommen worden sind, haben wir natürlich ein „Kein Trinkwasser“-Schild drangehängt, aber jetzt fragen uns die Spieler alle drei Minuten, ob das Wasser denn jetzt wirklich nicht trinkbar ist, und glauben einem Schild (das die Orga aufgehängt hat) mehr als der SL-Aussage, dass ja eigentlich alles in Ordnung ist.
Dann gucken wir uns doch lieber etwas Leichteres an. Wir haben doch sicher die Auflagen für den Sanitätsdienst erfüllt und genug Rettungswege vorgehalten, die zu der Bunkeranlage im Wald führen, oder? Ja, Sanis sind ja kein Problem, wir haben die ja in der Anmeldung ein Häkchen setzen lassen und die Leute dann bei der Ansprache vorgestellt, aber wie war das noch mal mit Brandwachen und Feuerwehr, da gab es doch auch mal was …
Zumindest müssen wir uns über Diebstähle keine Gedanken machen, denn die Larper sind ja ein ganz ehrliches Völkchen. Die ausgegebenen Münzen wurden ja auch extra als Spielgeld deklariert und allen gesagt, dass man die ruhig „dieben“ kann. Alle anderen „gediebten“ Gegenstände werden ja immer zeitnah bei der Orga abgegeben, die sie kompetent und zuverlässig verwaltet.
Über Freiheitsberaubung und Folterspiel haben wir im Vorfeld mal geredet, aber wenn die Spieler das halt so unter sich machen wollen, dann sind die ja alle alt und reif genug, um damit umzugehen … Also, außer es sind halt ein paar von den Minderjährigen dabei, da sollte das dann besser nur angedeutet werden.
Haben wir echt Minderjährige dabei? Haben die auch alle Aufsichtspersonen und schlafen nach Geschlechtern getrennt in verschiedenen Zelten oder gibt es diesen Kuppelparagrafen gar nicht mehr?
Zumindest ist ja klar, dass wir nicht einfach erlauben können, dass jemand auf einer öffentlichen Veranstaltung Schwarzpulver benutzt, um eine Muskete darzustellen, das kann doch nicht legal sein, oder? Aber um den Anscheinsparagrafen im Waffengesetz brauchen wir uns nicht zu kümmern, weil der gilt ja nur in der Öffentlichkeit und ein Con ist ja eine Privatveranstaltung … Oder was hatte ich eben noch mal gesagt?
Herrgott, da kann einem ja schon mal richtig Bange werden, aber zum Glück haben wir ja alle Spieler beim Check-In noch mal die AGBs unterschreiben lassen, und diejenigen, die später angereist sind, haben versprochen, am Sonntag vor der Abfahrt noch ihren „Kaiser Wilhelm“ drunter zu setzen.
ILLEGAL, WAS NUN?
Gesetze sind zwar meist innerhalb eines Landes einheitlich, aber Verwaltungsvorschriften, Auflagen des Ordnungsamtes oder der Versicherung ändern sich schon fast von Dorf zu Dorf. Darüber hinaus sprechen wir ja hier meist für den gesamten deutschsprachigen Larp-Raum, und wenn wir nur über die Grenze in die Schweiz oder nach Österreich blicken, dann haben wir es, aller Eurovereinheitlichungen zum Trotz, mit wirklich echt unterschiedlichen Gesetzgebungen zu tun. Das einfachste und prominenteste Beispiel ist eine Muskete, die mit Knallern einen Softball verschießt. In Deutschland ist es verboten, ein Projektil mithilfe heißer Gase durch ein Rohr zu feuern1 (die allseits beliebte Kartoffelkanone), während dies in Österreich erlaubt ist.
Was jetzt genau verboten oder erlaubt ist, das ist selten wirklich klar. Meistens kommt das „illegale Larp-Zeug“ auch nicht in Konflikt mit „richtigen echten“ Gesetzen, sondern mit Verwaltungsvorschriften, Platzordnungen, Auflagen des Ordnungsamtes, IHK-Vorgaben, Arbeitsrecht, Auflagen der Versicherungen und so weiter.
Das hat schon mal einen ganz anderen Stellenwert, denn wenn gegen die Auflagen der Versicherung oder des Ordnungsamtes verstoßen wird, dann geht eine Larperin eben nicht in den Knast für das, was sie getan hat, sondern muss eher eine Ordnungsstrafe zahlen oder verliert den Versicherungsschutz in der betreffenden Angelegenheit.
Natürlich sind sich die entsprechenden Behörden ebenfalls sehr bewusst, wie der ganze Dschungel der Anweisungen aussieht und angewendet wird, und letztendlich sitzen da normale Menschen, die ihre subjektiven Ansichten und Meinungen zu dem Thema haben. Die meisten der „offiziellen Verwaltungsmenschen“ wollen eigentlich nur Gutes und sorgen sich bei der Einhaltung ihrer Regeln darum, Menschen und/oder Umwelt zu schützen. Und wenn eine Larp-Orga sicherstellen kann, dass die Maxime der Regeln beachtet wird, dann ist der exakte Wortlaut vielleicht nicht mehr so wichtig.
So breit gefächert wie die Regeln, mit denen eine Orga in Konflikt kommen kann, sind auch die Bewältigungsmechanismen. Von einer „Vogel-Strauß-Taktik“ und der (falschen) Überzeugung, man könne nicht für etwas belangt werden, von dem man nichts weiß, bis zum reflexartigen Verbot aller Aktionen, die auch nur ansatzweise in Konflikt mit irgendwelchen Regeln kommen könnten, wurde sicher alles schon einmal angewendet. Dabei ist besonders auffällig, dass beide erwähnten Extrempositionen aus Angst geboren werden. Auf der einen Seite die Angst, den Con nicht wie geplant durchführen zu können (und essenzielle Spielinhalte zu verlieren), falls man den Regeln Beachtung schenkt, und auf der anderen Seite die Angst vor persönlichen Konsequenzen, wenn man etwas „Illegales“ tut. Letztere Angst dürfte sehr einfach nachzuvollziehen sein, aber auf die Angst, Spielinhalt zu verlieren, möchte ich noch einmal genauer eingehen.
Eine Orga investiert viel Zeit und Engagement in einen Con und hat eine gewisse Idealvorstellung hinsichtlich der Szenenentwicklung – wie in einem guten Film. Durch diese Erwartungshaltung wird die Angst vor dem Verlust eben jener Idealvorstellung wesentlich konkreter, als die die weitestgehend abstrakte „Gesetzeslage“. Diese lässt sich halt für gewöhnlich wesentlich einfacher verleugnen, denn wenn nichts passiert, dann ist es ja egal beziehungsweise „Wo kein Richter, da kein Henker“ hat schon viele überzeugt. Zu dem Zeitpunkt, an dem man sich mit dem Thema auseinandergesetzt hat, verändert sich die abstrakte „Gesetzeslage“ in ein konkretes Bedrohungsszenario, mit dem man sich eigentlich weiter auseinander setzen müsste, und wenn zwischen dem konkreten Verlust einer idealisierten Szene und dem abstrakten Risiko einer Gefahr entschieden werden muss, ist für viele die Wahl sehr klar. Dies ist eben die erwähnte „Vogel-Strauß-Taktik“ par excellence, denn eine abstrakte „Risikolage“ ist oft wesentlich einfacher zu ignorieren als ein konkretes Problem.
Dabei hat jede Orga die konkrete Lösung dieser Situation schon lange vor sich gehabt. Denn schon im Vorfeld musste der Kompromiss mit der Realität, in Form von einfacher Logistik, eingegangen werden, was Anzahl von NSCs, Kostümierung, Budget et cetera angeht. Das heißt, ein Kompromiss zwischen Idealvorstellung und Realität wurde gefunden und die Idealvorstellung wurde entsprechend geändert. Regeln und Gesetze können genauso wie diese entsprechenden Einschränkungen der Logistik als Ressource angesehene werden, die als einfacher, ent-emotionalisierter Faktor in die Kalkulation eingehen kann.
Wenn wir Regeln und Gesetze als Ressource betrachten, können wir uns ein Kosten/Nutzen-Verhältnis anschauen. Dann müssen wir natürlich nicht nur betrachten, was es uns kosten würde, eine entsprechende Regel zu beachten, sondern ebenfalls vor Augen führen, was es kosten würde, dies eben nicht zu tun. Dabei gibt es zwei Möglichkeiten, zum einen in der entsprechenden Regel die zu erwartende Strafe nachlesen oder sich auf Erfahrungswerte berufen. Ersteres ist sicherlich ein Worst-Case-Szenario, aber auch schon mal ein guter Anhaltspunkt, denn zu wissen, dass bei Missachtung der Regel X maximal eine Geldstrafe von Y zu befürchten ist, ist meist schon harmloser als manche Horrorfantasien, zu denen der Geist einer jungen Orga fähig ist. Von einem existierenden Erfahrungsschatz zu profitieren, ist etwas schwieriger, aber meiner Meinung nach sehr zielführend. Denn hier kann man neben einigen wenigen Fallbeispielen auch weitreichende qualitative Aussagen treffen, wie zum Beispiel „Es hat noch nie eine Larp-Orga eine Gefängnisstrafe bekommen“ oder „Es gab noch nie eine so hohe finanzielle Strafe, dass eine Orga oder Einzelperson nur aufgrund dieser Strafe bankrott gegangen ist.“ Dabei beruht die Aussagekraft dieser Behauptungen darauf, dass die Larp-Szene im deutschsprachigen Raum derart gut vernetzt ist, dass eine solche Aussage mit hoher Sicherheit widerlegt worden wäre. Aufgrund der Statistik von Thilo Wagners Larp-Kalender2 kann man davon ausgehen, dass bisher um die 20.000 Cons im deutschsprachigen Raum stattgefunden haben, was man zu einer einfachen, aber gewichtigen Risikoanalyse benutzen kann. Wäre auf einer dieser vielen Veranstaltungen einer der oben angenommenen Fälle aufgetreten, dann hätten wir sicher davon gehört. Wenn bislang kein solcher Fall aufgetreten ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass er in unmittelbarer Zukunft (das heißt bei dem geplanten Con) auftreten wird.
Regeln haben meist einen Sinn, und nicht nur die offiziellen Stellen wollen mit der Einhaltung von Regeln Mensch und Natur beschützen, sondern auch die Vorschrift selbst hat exakt diesen Anspruch. Auch dies können wir mit Erfahrungswerten beantworten und fragen, bei wie vielen der 20.000 Cons Schäden für Mensch und Umwelt durch die Missachtung von Regeln aufgetreten sind. Die Antwort lautet: Nicht sehr viele.3