Eis.Leben

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Birgit Sattler

Eis.Leben

Meine Forschungsreisen

in die Antarktis

Tyrolia-Verlag • Innsbruck-Wien


Der Druck dieses Buches wurde unterstützt von der Abteilung

Kultur im Amt der Tiroler Landesregierung.

2016 © Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck

Umschlaggestaltung: Tyrolia-Verlag, unter Verwendung eines Bildes der

Autorin sowie der gemeinfreien geographischen Karte Antarktikas von

https://de.wikipedia.org/wiki/Antarktika, zur Verfügung gestellt von lima.nasa.gov/antarctica/ Layout und digitale Gestaltung: Tyrolia-Verlag Lithografie: Artilitho, Trento (I) ISBN 978-3-7022-3527-7 (gedrucktes Buch) ISBN 978-3-7022-3528-4 (E-Book) Internet: www.tyrolia-verlag.at

Eine sehr persönliche Reise –

unter dem Eindruck des Unüberwindbaren

niedergeschrieben …

INHALT

Die blaue Blume
DAS KIND IM EIS

Die Autobahn rauscht vom Tal herauf. Der Schäferhund hebt neugierig den Kopf, als ich mich von hinten meinem Opa nähere. Senkt ihn wieder beruhigt, als er mich erkennt, schmiegt sich an die Beine meines Opas. Der Mann mit dem schneeweißen dichten Haar sitzt vor der Küche auf seinem Stuhl und blickt ins Tal hinunter, zieht an seiner Zigarette.

Wir mussten nie viel miteinander reden. Ich sitze neben ihm auf dem Treppenabsatz zur Küche, er blickt weiter ins Tal hinunter. Blickt hinunter auf seinen früheren Arbeitsplatz, die große Fabrik.

„Komm, es wird kalt, gehen wir rein“, sagt er. Wir gehen ins Wohnzimmer, an seinen schweren Schreibtisch aus Eichenholz, der Hund weiß Bescheid, es ist jeden Tag derselbe Ablauf, schmiegt sich wieder an seine Beine.

Opas Bücher sind eine Verheißung der weiten Welt für ein fünfjähriges Mädchen wie mich, jedes einzelne ist eine Fahrkarte ins Unbekannte, sei es in die Unterwasserwelt, zu den Mayas, zu Thor Heyerdahl oder in den Dschungel. Ich darf mir eines aussuchen, er kennt sie alle, setzt mich auf seinen Schoß und dreht gedankenverloren seine Lupe. Die Lupe kreiselt auf der Holzplatte, Opa liest mir vor – Amundsen und Scott, der Wettlauf zum Pol, die Lupe kreiselt immer noch, wird langsamer, die Lichtreflexe tanzen auf den Wänden, ich sauge alles auf, was er mir erzählt, ich verliere mich in dem Kreisel, lausche und verstehe nur einen Bruchteil dessen, was ich höre, doch der Geist des Kindes wandert bereits voraus, voraus in das Eis, ohne zu begreifen, was geschieht.

*

Der Hund ist schon lange ein anderer, den Schäferhund musste mein Bruder vor Jahren in der Ecke des Gartens begraben, ein Dackel liegt nun zu Füßen meines Großvaters, wenn er auf dem Stuhl vor der Küche sitzt und in das Tal hinunterschaut.

„Was macht die Uni?“, war seine liebste Frage. Er selbst Naturwissenschaftler, ich die Studentin, er war schon so alt und doch alterslos für mich, er konnte mir immer noch mehr erzählen, als ich auf der Uni hören, mir erlesen konnte. Er blieb ein Rätsel für mich. Habe mich manchmal gefürchtet vor ihm, vor seinem Wissen, seiner Ungeduld mit dem Unwissen anderer Menschen. Ich diskutiere mit dem schwierigen Mann, auch heute noch. Und konnte es ihm doch nicht mehr sagen, dass ich dieser Begeisterung nun nachgefahren bin, dem Strom aus Eis, ohne zu wissen, was er in sich verbirgt, ich bin den Spuren des Kindes nachgegangen und hätte es ihm so gern erzählt.

Das alles geht mir durch den Kopf, als ich auf dem Observation Hill an der gefrorenen Küste der Antarktis stehe. Dieser Berg war für Robert Falcon Scott, dem längst vergangenen Polarpionier, der Aussichtspunkt, um nach möglichen Routen durch das Eis zu suchen. Man hat dort auf dem Gipfel schon lange ein Kreuz aufgestellt für ihn.

Ich stehe allein dort oben, es ist mein letzter Tag in der Antarktis, in wenigen Stunden wird mich das schwere Militärflugzeug, welches auf dem Meereis draußen steht und dessen Turbinen schon beheizt werden, wieder gen Norden bringen. Möchte diese Stimmung nicht loslassen, doch wenn ich es nicht tue, würde das bedeuten, in monatelanger Dunkelheit auf das erste Sonnenlicht, auf die erste aus dem Norden zurückkehrende Maschine zu warten. Noch hat der Himmel dieses versöhnliche Orange des anbrechenden Tages.

Dort oben auf dem Observation Hill sehe ich Opa vor mir, wie er auf seinem Stuhl sitzt, rastlos mit seinen rissigen Händen über die Armlehnen streicht, wie er es immer getan hat, und mich fragt: „Was macht das Eis?“ Er hat mich hierhergeführt, ein Kreis scheint sich zu schließen. Habe gleichzeitig das Gefühl, nun ihn sehen lassen zu können, durch meine staunenden Augen, durch diese irrationale Verbundenheit zum Eis. Ich sehe einen schweren Lavabrocken, den der letzte aktive Vulkan des Kontinentes vor langer Zeit ausgeschleudert hat, ihn werde ich mitnehmen für Opa.

Dieser Stein liegt heute auf dem Friedhof in Fritzens, zwischen dem Efeu, er ist ein Fremdling geblieben, manchmal wird er mit den Hortensien mitgegossen.

GEFRORENE WELLEN

Am Flughafen in Los Angeles organisiere ich mir eine Bleibe an der Endstation der Route 66. Eine heruntergekommene Jugendherberge in Santa Monica. Ich habe etwa siebzig Kilogramm Gepäck in meiner Reisetasche, die eher einem gelben Rettungsboot gleicht, Expeditionsausrüstung, wissenschaftliche Geräte, Glücksbringer, „Seelenwärmer“ von Freunden für diese erste dreimonatige Reise ins Eis.

Der Pazifik rollt in schweren Wellen in düsterem Grau auf mich zu. Ich sitze am Strand, die barfüßigen Zehen im Sand, und stelle mir vor, dass die langen Wellen irgendwann gefrieren werden. Spinne in meinen Gedanken zusammen, wie es wohl sein wird auf dem Eis. Wie es aussieht, wenn diese Wellen dann irgendwann tiefer im Süden mitten in der Bewegung erstarren. Habe ich mir zu viel zugemutet, kann man mit dieser Kälte dort überhaupt umgehen? Wieder wandert der Geist voraus ins Eis, ungeduldig.

Die Menschen hier werden mir zu viel, zu bunt, zu laut, ich möchte schon viel weiter sein. Fühle mich unbezwingbar. Diese absurde Vermessenheit fällt plötzlich von mir ab, als ich von einer Telefonzelle aus zuhause anrufe. Ich spüre Besorgtheit aus dem Gespräch und mit ungutem Gefühl bewege ich mich auf der lauten Strandpromenade in dieser schrillen Welt zurück in meine muffige Bleibe.

Über meine Bettdecke huscht eine Küchenschabe. Das ist der Preis, denke ich mir, jetzt beginnt der Dreck.

Der dieses Tor geöffnet hat, heißt John Priscu. Dieser Mann ist untrennbar mit der gesamten Forschungsarbeit in den extremen Lebensräumen der Polargebiete verbunden. Spricht man von Leben im Eis, kommt man an John Priscu nicht vorbei. Unzählige Saisonen hat er in der Antarktis verbracht. Ein schlaksiger Mann mit rumänischen Vorfahren, neugierigen, klugen Augen. Er sitzt in vielen Komitees, die im Zuge der Antarktisforschung gegründet wurden. Kennengelernt habe ich ihn auf meiner ersten wissenschaftlichen Konferenz in den Staaten. Wir haben uns über unser gemeinsames Interesse an einzelligem Leben in der Kälte gefunden. Priscu beschäftigte sich mit dem Überleben von Mikroben im permanenten Eispanzer von antarktischen Süßwasserseen, deren Wasser nie die Sonne sieht, ich erzählte ihm von meiner Arbeit in Innsbruck am selben Thema im alpinen Eis der Hochgebirgsseen. Priscu stellte schnell die Parallele her, sagte, er hätte noch einen Platz frei für die Antarktis im nächsten Jahr. Diese saloppe Einladung bedeutete für mich etwas völlig Unwirkliches, der Heilige Gral schien sich zu öffnen. Tausend Gedanken überschlugen sich blitzschnell, meine Verwunderung hat ihn wenig beeindruckt, er schickte mir einige Wochen nach unserem Treffen alle Formulare, die für die Teilnahme an einem solchen Projekt nötig sind.

Der gläserne Mensch. So dachte ich mir, als ich wochenlang von Arzt zu Arzt pilgerte, um die Blätter zu meinem Gesundheitszustand ausfüllen zu lassen. Es wird hundertprozentige Gesundheit vorausgesetzt. Verständlich, denn wie hilft man sich in solch extremen Umständen, wenn man zum Beispiel Zahnschmerzen hat? Erfüllt man diese Kriterien nicht, dann gibt es auch keine Fahrkarte ins Eis. Alkohol- und Nikotingebräuche werden abgefragt, Schwangerschafts- und Aidstest gemacht, sportmedizinische Gutachten erstellt, schlussendlich ein zahnärztlicher Befund. Der sagte mir, dass ich auf diese Reise verzichten kann mit diesem Zustand der Weisheitszähne. Die Besessenheit ließ mich schließlich drei Wochen vor der Abreise unter Vollnarkose alle Weisheitszähne entfernen. Freunde verstanden mich nicht mehr, aber dieser Wunsch, so weit südlich zu kommen, wurde zur Manie. Die Operation ist so unglücklich verlaufen, dass ich heute noch in einem Teil des Gesichtes kein Gefühl mehr habe. Eingetauscht gegen das Ticket ins Eis. Würde es wohl wieder tun.

*

Ich kenne noch niemanden von unserem Team, sie arbeiten alle in Bozeman, Montana. Cowboyland, wird mir erklärt. Das erste Zusammentreffen findet am Flughafenterminal statt. Was, wenn wir nicht zusammenpassen? Es dauert nicht lange, bis mich eine kleine Gruppe Männer anspricht. „You must be European“, ist ihre Begrüßung. Mir ist nicht klar, wie man eine amerikanische Frau in Jeans von einer europäischen Frau in Jeans unterscheiden kann. Der erste Kontakt. Das also ist meine „Familie“ für die nächsten Monate unter extremsten Bedingungen.

Wir checken ein zu unserem Flug nach Auckland und Christchurch in Neuseeland. Der Flug dauert ewig. Wie verschiedenartig die Passagiere sind, die beinahe alle dasselbe Ziel haben. Viele haben einen Vertrag in McMurdo, der größten US-Basis des antarktischen Kontinents.

 

Ich sitze neben einer jungen Frau, die dort für das Müllmanagement verantwortlich sein wird. Schräg vor mir eine etwas ältere Frau, sie wird in der Feuerwehrbrigade arbeiten. Feuerwehr in der Antarktis, ist das nicht absurd? Bald wird mir klar, dass der Verlust eines Daches über dem Kopf, und sei es auch nur eines Zeltes, dort lebensbedrohlich ist. Ich bin erstaunt über die Anzahl von Frauen in verantwortungsvollen Berufen. Die Männer daneben unterstehen ihnen, sei es im Hubschrauberhangar, im Lebensmittellager oder im Sicherheitsteam.

Wir fliegen auf 10.000 Metern Höhe von einem Kontinent zum anderen, von einer Zivilisation zur nächsten, näher zum Eis. Wo wird das aufhören? Vielleicht ist die Erde in Bezug auf diese Sicherheit vorgaukelnde Zivilisation doch eine Scheibe. Denn irgendwo muss es doch aufhören, sicher zu sein, irgendwann fällt man doch runter und kann sich nicht mehr halten.

DIE BLAUE BLUME

Wie verändert das Eis den Menschen? Was passiert dort mit der Seele?

Will nun nicht mehr warten. All jene, mit denen ich gesprochen habe, haben dieses bestimmte Glitzern in den Augen, als ob alle besessen wären, fast schon macht es mir Angst.

Ich kenne diesen Blick von den jungen Bergsteigern aus meinem Dorf, habe mich als Kind oft vor diesem Funkeln gefürchtet, wenn sie bei uns zuhause auf Besuch waren und von ihren Erlebnissen erzählt, unzählige Dias gezeigt haben. Da war diese Besessenheit, diese völlige Unterwürfigkeit dem gegenüber, was ihr Denken und ihr Sein so in Besitz genommen hat – der Fels, der Berg, die Erstbesteigung, die Expedition. Es hat sie verändert.

Manche von denen, die früher in unserem Wohnzimmer gesessen sind und sich in ihren Erzählungen vergessen haben, sind irgendwann nicht wieder heimgekehrt. Als ich noch klein war, dachte ich mir immer, der Berg hat sie jetzt gefressen und gibt sie einfach nie wieder her. Mit der Naivität des Kindes erkennt man die Realität, ungeschminkt und ehrlich.

Mein Vater ist ein Bergsteiger. Auch in ihm erkenne ich heute noch dieses Funkeln, es ist geblieben, trotz der vielen, die sich der Berg gestohlen hat. Trotz der vielen, die man hinterher suchen gehen musste, aus dem Schnee ausgraben oder für nie gefunden erklären. Und trotz der vielen Daheimgebliebenen, denen man einen Weg durch die Traurigkeit zeigen musste. Manche sind oben geblieben in diesen Höhen, die kein Leben mehr versprechen, manche hatten das Glück, nach Hause gebracht zu werden. Ihr Fanatismus wurde am Fels, im Eis, an irgendeiner Gipfelwechte gebrochen, und doch steckt die Gischt alle an, die hinter ihnen kommen.

Die blaue Blume.

Seit ich denken kann, war die blaue Blume das Symbol für die Sehnsucht, weggehen zu dürfen, etwas zu suchen, es vielleicht auch zu finden. Früher hatte ich immer an diese blaue Blume geglaubt, sie blühte am Wochenende, wenn mein Vater seinen Rucksack zum Klettern packte, sie existierte in meinem kindlichen Denken sogar als tatsächliche Blume, wie ein Enzian, nur seltener und sehr scheu, so, dass man sie suchen musste, suchen wie das in einem Lichtstrahl vorbeihuschende Christkind im verschneiten Garten.

Diese blaue Blume blühte auch meinem Wahlonkel Josl Knoll, der in meiner Erinnerung mit Schwedenbomben verbunden bleibt, die er kistenweise bei seinen Besuchen zu uns nach Hause brachte, und mit Polsterschlachten mit uns erpresserischen Kindern, die erst nach der Aufopferung der Kissen und systematischer Vernichtung aller Schwedenbomben schlafen wollten. Ich glaube, er ist immer noch auf der Suche nach der blauen Blume. Bei seinem Versuch in den Siebzigerjahren, als bis dahin ältester Bergsteiger den Mount Everest zu besteigen, ermöglichte er durch eine auf diesen Höhenmetern übergroße Geste des Verzichts seinem Freund den Gipfel. Wurde die blaue Blume aber einmal verschenkt, kommt sie nicht zurück. Vielleicht hat er es nie verwunden. Ein Blütenblatt hat er sich jedoch behalten und mir mitgebracht, indem ich seine Bilder dieses zerfurchten Gebirges sehen, seinen Geschichten lauschen durfte. Sein Freund, der gefeierte Gipfelsieger, hatte sie wohl auch gefunden, als ihm eine Tochter geboren wurde, die er nur drei Jahre lange aufwachsen sah, bis er sich wieder auf die Suche machte und davon nicht wieder zurückgekehrt ist.

Man kann wohl seine Kinder nicht vor diesem Suchen schützen. Als ich meinen Eltern das erste Mal davon erzählte, dass ich in die Antarktis eingeladen worden sei, sah ich Angst in ihren Augen. Es tat mir fast weh, es ihnen zu sagen. Die Hoffnung, dass wenigstens eine aus der Familie dem allem fernbleiben würde, hat sich nicht erfüllt. Zugleich war ihre Freude zu spüren, es wird für mich etwas ganz Großes wahr.

Es ist wohl oft die Unfähigkeit, an dem Ort, wo man ist, glücklich zu sein, wenn man immer noch weiter sucht. Oder die Unfähigkeit, das Glück zu erkennen. Krankhaft nennen es Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt schon gefunden haben. Mutig und nachahmenswert die, die immer die Tasche umgehängt behalten und nie ihre Schuhe abstreifen können.

Doch was ist Mut?

Mut, etwas aufs Spiel zu setzen, was man vielleicht gar nicht besitzt? Mut, wenn man Annehmlichkeiten verlässt? Wenn man meint, sich immer mit der Natur messen zu müssen? Wenn man meint, Rekorde brechen zu müssen?

Mein Vater ist für mich der mutigste Mann, weil er seine sieben Leben am Berg nicht verbraucht hat. Wovon aber niemand spricht: Meine Mutter wird für mich stets die mutigste Frau bleiben, weil sie sich immer mit der Furcht vor den vielen schon gekosteten Leben konfrontieren muss.

Lebendiges Eis
SÜDWÄRTS

Gehst du ins Eis, gehst du ins Baileys.

Ein auf irisch gemachtes Pub inmitten von Christchurch in Neuseeland. Wenn man Leute treffen will, welche gerade von McMurdo kommen oder die Reise ins Niemandsland noch vor sich haben, dann geht man dorthin. Dieser Wechsel findet immer im Oktober statt. Auch alleine als Frau ist es völlig legitim, dort mit einem Bier am Tresen zu stehen. Ungebrochene Solidarität liegt in der verrauchten Luft, alle scheinen Freunde zu sein, auch wenn das Eis Krallen in Freundschaften schlagen kann. Der Hinterraum ist gespickt mit Bildern von Menschen, die auf dem Eis arbeiten, Fremde und doch bekannt, sind sie in dieser großen Familie praktisch die Familienoberhäupter. Es ist ihr Terrain.

Ich stehe einen letzten Flug lang vor meiner ersten Ankunft im Eis. Wenig Ahnung habe ich von dem, was mich erwartet, die wissenschaftliche Vorbereitung ist im Grunde ein Bruchteil von dem, wofür man sich eigentlich vorbereiten müsste. Ich unterhalte mich mit den Männern in den karierten Flanellhemden, die im Eis im Dunkeln überwintert haben, ihre nicht mehr ganz nüchternen Erzählungen lassen mich kurzzeitig zu ihnen aufschauen. Die Männer spielen ihre Klischees auf der Orgel des Eises. Sie erzählen von verreckten Maschinen, wilden Festen, kollabierten Kollegen (kollabiert bei Trinkexzessen, nicht wegen der harschen Bedingungen). Keiner erzählt von der immerwährenden Dunkelheit über den Südwinter hin, von welchem sie gerade wieder ins Licht eingetaucht sind. Keiner erzählt, wie sehr er sich wieder nach würziger Luft gesehnt hat, nach dem Rascheln von Blättern in den Bäumen. Nach der Farbe Grün. Kein einziger. Und doch bin ich davon überzeugt, dass es ihnen gefehlt haben muss. Aber jetzt klingt alles so selbstverständlich, als lebten sie für ihren Alltag, der genauso gut irgendwo in Texas oder Idaho sein könnte. Ich verstehe nichts. In meiner Fantasie kamen sie gerade mitten aus der Dunkelheit, sie haben seit März keine Sonne mehr gesehen, keine Bäume, keinen Vogel mehr gehört, und sie erzählen mir von Schneeraupen, deren motorisches Innenleben ihren Rhythmus bestimmt hat.

Ich unterhalte mich mit einem Mann aus Kalifornien, mittleres Alter, bärtig, er hat über den gesamten Winter bei der Schneeräumung gearbeitet. Glaube nicht an den Mut, an diese Kaltschnäuzigkeit. Mich wundern seine fein geschnittenen Hände. Ich frage ihn, ob er diesen Job in den Staaten auch schon gemacht hat. Er verneint, nimmt einen anständigen Schluck von seinem Bier, „nein“, sagt er, „in Los Angeles bin ich Richter.“ Der Schaum auf dem Bart landet reflexartig in seinem Ärmel. Kann mir diesen Typen nicht in der Richterrobe auf dem Gerichtsstand vorstellen. „Was ist denn nun deine richtige Welt?“, frage ich mich still. Der Gedanke beschleicht mich, ob das Eis Menschen verrohen lässt.

Männer und Frauen mit solidem Hintergrund geben für ein Jahr ihre Stellungen auf, um irgendwo im Nichts einem Traum nachzugehen. Baggerfahrer würden sich vielleicht wünschen, einmal in ihrem Leben die Vorteile eines Lebens als Richter zu genießen. Die Richter tauschen ihr gezuckertes Leben ein für eine Erfahrung im Eis. Ich verstehe noch immer nicht.

Neben mir an der Bar stehen Männer in Navy-Uniformen. Diese Männer stammen noch von der Operation Deep Freeze aus den Sechzigerjahren, als McMurdo eine Ansammlung von Zelten in den Händen des Militärs war und von der US-Navy geleitet wurde. Bis zu diesem Jahr hatte die Navy auch die Leitung des gesamten Flugverkehrs inne, es ist nun das erste Mal, das eine private Firma zumindest den Hubschrauberverkehr übernehmen wird.

Auch einige Frauen halten ihre Drinks in ihren von der Kälte aufgesprungenen Händen, stehen herum, rauchen, unterhalten sich, meist mit kurzgeschorenen Haaren, selbstbewusste Frauen. Starke Frauen. Man sieht an ihren Gesichtern, sie werden wiederkommen. Charaktere wie diese prägen das Bild der größten Forschungsstation auf dem Kontinent.

Es ist Frühling auf der Südhalbkugel, Oktober, doch fröstelt es mich. Mit meinen Kollegen gehe ich durch das windige Christchurch nach Hause. Nach Hause ist ein Bed & Breakfast, welches zur Gänze „Antarktianer“ beherbergt. Das Haus ist bis unter das Dach voll mit Reisetaschen, Rucksäcken, Ausrüstungsgegenständen, man sieht eingepackte Gitarren, sogar ein Rad geht mit auf die Reise. Alles abgestellt in diesem kitschigen kleinen Häuschen im Empire-Stil, hier ein Figürchen, da ein Rüschchen.

Fingees werden die Erstankömmlinge genannt. In McMurdo gibt es eine eigene Sprache, welche man zum Glück rasch durchschaut. Fingees sind die fucking new guys, die Neuen, die keine Ahnung haben, jene, die bereits eine Stunde vor der Landung in völlig übersteigerter Art herumprobieren, welche Handschuhe nun am besten sind, und dann mit ihrer kompletten Überlebensausrüstung aus dem Flugzeug aussteigen.

Doch wer erzählt uns von der Angst, wie man damit umgeht? Die Neuen werden gerne belächelt, gehänselt. Die schlimmste Kombination jedoch ist es, ein Fingee und ein Beaker zu sein. Die Beakers sind Wissenschaftler, nach den Bechergläsern für ihre Laborexperimente benannt. Den Beakers wird wenig Durchhaltevermögen zugedacht, wahrscheinlich auch deswegen, weil die wenigsten Wissenschaftler sich über eine gesamte Saison auf dem Eis aufhalten, sondern oft nach spätestens vier Monaten alle finanziellen Ressourcen zum Unterhalt auf den Stationen aufgebraucht haben.