Schau nicht hin, schau nur geradeaus

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Frau Schmidt ist immer sehr elegant. So eine richtig anmutig-zartfühlende Dame wie aus den Romanen, die Mutti mitunter liest, also wenn sie sich mal Zeit dafür nimmt. Man sieht, dass sie nicht so oft im Garten oder in der Küche arbeitet wie Mutti. Ihre Hände sind ganz fein und weiß, und ihre Fingernägel haben vorne solch perfekt weiße Halbmonde. Muttis sind oft grau vom Kartoffelschälen, obwohl sie sie abends immer mit Grüner Tante schrubbt und dann mit Goldkrem einreibt.

Aber die beiden verstehen sich gut, und ich merke, dass Mutti sich bei ihnen in Frankfurtoder immer sehr wohl fühlt. Eigentlich, so hat sie später gemeint, sei es ein kleines Wunder gewesen, also das mit dem Kaffee, denn in Frankfurtoder gibt es viele Ess-Sachen und Getränke nur noch ›auf Karte‹, und die Butter ist schon seit langer Zeit ›rationiert‹. Das heißt, es gibt nur sehr wenig davon, und wenn, dann nicht dann, wenn man eigentlich Appetit darauf hat.

Jetzt waren wir schon eine ganze Weile nicht mehr dort, weil Herr Schmidt wohl auch ins ›Feld‹ sollte, und weil das ja eigentlich gute Freunde von Papa sind, nicht direkt von Mutti.

Herr Schmidt wollte das mit dem ›Feld‹ aber wohl nicht und damit sie ihn nicht zwingen können, sind er und seine Frau dann einfach schnell weggefahren, in ein anderes Land. So eine Art langer Urlaub, stelle ich mir vor. Aber die Wohnung ist ja noch da. Irgendwann, wenn der Krieg endlich vorbei ist, können wir sie also bestimmt wieder besuchen.

Es ist natürlich schon schade, dass wir jetzt nicht mehr so oft nach Frankfurtoder fahren. Auch, weil Mutti mich dann manchmal mit ins Kino genommen hat. Am liebsten in Filme mit Paul Hörbiger, weil der Papa so ähnlich sieht: Er hat genauso eine knubbelige Nase, lacht genauso ansteckend und kriegt dabei die gleichen Fältchen um die Augen wie Papa.

In Matschdorf gibt es natürlich kein Kino, aber sonst haben wir wirklich Glück, hier zu wohnen, vor allem jetzt im Sommer. Wir haben mehr gute Sachen zu essen als viele andere im Reich, weil wir reichlich von Oma Sobbels’ Hof bekommen, und auch, weil Mutti so viel einmacht. Und es ist viel sauberer als in Frankfurtoder. Wir sammeln natürlich auch alles ein, was so rumliegt: Altpapier, Stanniol oder irgendwelche Metallstückchen. Das bekommt dann die Wehrmacht, weil das kriegswichtig ist. Letzte Woche waren wir hinten an der Mühle, wo das Wehr ist. Wenn wir da rumstiefeln, finden wir immer etwas, zum Beispiel leere Zahnpastatuben. Am Wehr staut sich immer der ganze Müll. Das ist oft auch richtig eklig. Ari hat da schon mal was gefunden, das aussah wie ein abber Arm. War dann aber doch bloß ein gehäuteter Aal. Mutti hat sich aufgeregt und beim Karottenputzen minutenlang laut geschimpft. Nicht mit uns, sondern mit dem, der den Aal weggeworfen hat, obwohl sie diesen Jemand gar nicht kennt. Weil man doch einen Aal lieber essen sollte ›in diesen Zeiten‹. In der Eilang gibt es aber noch ganz viele davon. Ehrlich, mir kommt der viele Fisch schon zu den Ohren raus! Das habe ich mich aber nicht getraut zu sagen, weil Mutti mich dann undankbar gescholten hätte.

Die Zahnpastatuben jedenfalls werden dann zusammen mit dem anderen kriegswichtigen Kram in der muffigen Kammer neben dem Klassenzimmer bei uns im Schulhaus gesammelt. Dahin kommen auch andere Leute aus dem Dorf und geben etwas ab. Und wenn ein Leinsack voll ist, dann bindet Mutti ihn zu und macht ein Zettelchen dran, damit alle wissen, wie fleißig wir gesammelt haben. Wenn viele Säcke voll sind, dann telefoniert sie, vom Gasthof aus. Dann kommt ein paar Tage später so ein Wagen aus Frankfurtoder, der holt die Säcke ab.

Ich habe Ekkehard gefragt, ob die dort wieder Zahnpasta in die Tuben pressen, aber er hat mich ausgelacht und gesagt, nein, die sind kriegswichtig. Irgendwie ist heute alles kriegswichtig. Ich finde ja saubere Zähne auch wichtig. Nicht, dass man hinterher aus dem Mund riecht wie sonntags die alte Orgel-Trine.

Es gibt aber jetzt schon lange keine Zahnpasta in Tuben mehr zu kaufen. Mutti lässt uns immer auf Minzeblättchen herumkauen, die wachsen hinten im Garten, und abends benutzen wir nun so ein Pulver, das schmeckt eklig und schäumt nicht, soll aber die Zähne schön weiß machen. Mutti nimmt es aber auch zum Backen, und wenn ich Bauchweh habe, löst sie es mir in warmem Wasser auf und lässt es mich trinken. Ein echtes Tausendsassa-Pulver, aber auch »das ist inzwischen rationiert«, sagt Mutti, deshalb gibt es immer nur eine Prise davon auf die Bürste, und ich muss mindestens vier Minuten lang schrubben. Ach ja, wenn sie Bohnen kocht, benutzt sie es auch.

Wir haben so ziemlich den ganzen Keller voller eingeweckter Bohnen. Und Pilze. Und Pfirsiche. Und Himbeermarmelade. Und Pflaumenmus. Und Senfgurken. Und Bratheringe. Und Rollmöpse. Und viele andere leckere Sachen, denn wir kriegen ja auch Milch, Fleisch und Eier von Omas Hof in Wiesenau. Manchmal wünsche ich mir, ich könnte mich da mal eine Nacht einschließen und dann alles essen, worauf ich Lust habe. Von mir aus, bis ich Bauchweh habe.

Mutti führt auch eine ›Zuckerkasse‹. Das heißt, wir alle sparen Zucker übers Jahr, damit wir im Sommer genug zum Einwecken haben.

»Der Führer hat das von Mutti übernommen, daraus einen ›Erlass‹ gemacht, und nun machen das alle so.« Das hat Papa jedenfalls gesagt und sich danach halb krankgelacht. Mutti hat ihn nur scherzhaft geknufft und gemeint: »Mensch, Bernhard, was spintisierst du vor den Kindern nur wieder herum!«

Also wahrscheinlich läuft das mit dem Führer nur wieder unter Papas ›Anglerlatein‹.

Mutti behauptet, dass wir hier großes Glück haben, weil wir all diese guten Dinge haben; in Berlin müssten sie schon seit längerer Zeit Hunger leiden, weil dort alles ›rationiert‹ ist. Deswegen teilt sie alles gut für uns ein, für schlechte Zeiten.

Ich begreife das nicht recht, denn Berlin ist ja eine große Stadt mit vielen Läden. So wie Frankfurtoder. Sogar Reichshauptstadt. Warum haben die dann weniger zu essen als wir hier? Das liegt am Krieg, sagt Mutti immer. Und ich merke, dass sie keine Lust hat, darüber zu sprechen. Über Berlin nicht, und über den Krieg schon mal gar nicht. Wohl auch, weil ihr eigener Vater im letzten Krieg geblieben ist. Was so viel bedeutet, dass er gestorben ist. Darüber ist sie immer noch ganz kummervoll, obwohl es schon sehr, sehr lange her ist.

* * *

Irgendwie verschwinden die Freunde von Papa. So wie die Schmidts. Oder die Levys aus Wiesenau. Die habe ich aber nie kennengelernt, oder ich erinnere mich nicht daran, dafür war ich wohl noch zu klein.

Papa hat mir erzählt, der Siegfried, der wäre ihm immer ein großes Vorbild gewesen. Eine Art ›väterlicher Freund‹ sei ihm der Siegfried. Aus kleinen Verhältnissen hätte der es enorm zu etwas gebracht: Ein schönes Geschäft hätte er gehabt und viele zufriedene Kunden. Und eines Tages, da wären Siegfried und seine Frau dann einfach verschwunden.

»Wohin denn?«, habe ich ihn gefragt.

Weggezogen seien die, nach Berlin. Ohne sich zu verabschieden. Und weil Papa jetzt schon seit vielen Jahren im ›Feld‹ ist, konnte er die Levys in Berlin auch noch nicht besuchen.

»Sie haben sich halt aus den Augen verloren«, hat Mutti zu mir gesagt und bekümmert die Schultern gezuckt.

Wenn Papa von Siegfried Levy spricht, dann werden seine Augen immer ganz glasig. Ich glaube, er vermisst ihn sehr, und das kann ich gut verstehen. Wenn meine Freundin Lotti Sagitz auf einmal weg wäre und ich könnte mich nicht von ihr verabschieden, das würde mich auch fürchterlich betrübt machen.

Ich mag Berlin aber sowieso nicht, weil ich da als Baby sieben Monate lang im Krankenhaus war. In der Charité, das ist ein berühmtes Hospital mit einer eigenen Kinderklinik. Im Gipsbett musste ich da liegen, viele Monate lang, weil mein rechtes Bein nicht richtig stand. Mutti durfte mich lange nicht besuchen, weil dort die Diphtherie ausgebrochen war. Das ist eine böse Krankheit, und viele Kinder sind damals daran gestorben. Aber ich nicht. Trotzdem war das schlimm für mich, da so alleine zu sein, ohne Mutti. Obwohl die Ärzte zu Mutti gesagt haben, das härte mich ab. (»Was soll man denn einen Säugling schon abhärten?«, hat Mutti mal ärgerlich geblafft.)

Und obwohl Ekkehard immer sagt, das wär doch alles Feenstaub, daran könnt’ ich mich ja gar nicht erinnern. Tue ich aber doch! Und die blöde Gipsschale, die liegt immer noch oben auf dem Dachboden. Neben den Leinsäcken mit kriegswichtigem Müll und den ganzen Gewehren.

Gott sei Dank bin ich jetzt zu groß für die Gipsschale, und mein Bein steht wieder gerade.

Ich bin so froh, dass ich wieder hier in Matschdorf bin. Denn es gibt wirklich keinen besseren Ort auf der Welt. Wenn ich im Garten an der Eilang Krebse angle (die schmeiße ich natürlich immer gleich wieder rein!) oder mit Ari oder meiner Freundin Lotti im Schlosspark Räuber und Gendarm spiele, dann bin ich richtig glücklich und möchte, dass die Zeit anhält. Ich fühle mich dann wie in einer Muschel. Die ist außen weiß und innen ganz aus schimmerndem Perlmutt, und man kann sie zuklappen, wenn es draußen mal nicht so schön ist.

Ach, eigentlich will ich nie irgendwo anders wohnen. Auch nicht in Frankfurtoder. Und in Berlin schon mal gar nicht.

September 1944

Gestern bin ich eingeschult worden. Ich gehe jetzt in die erste Klasse von Papas Volksschule.

»Nu is nuch mittem Herumschlawinern!«, hat Oma Sobbels lachend gemeint und mich liebevoll am Ohr gezogen.

Fast alle Verwandten aus Wiesenau waren da, um mich und Mutti zu beglückwünschen. Es war so ein langer und aufregender Tag! Mit einem Schlag fühle ich mich jetzt viel erwachsener.

Gerda, unser Pflichtjahrmädel, hat mir eine wunderschöne Schultüte gemacht, außen mit Sternen aus goldenem Stanniol und innen mit dunkelblauem Krepppapier. Ganz viele tolle Sachen waren da drin: eine kleine Schiefertafel, ein Griffel, ein Spitzer und ein Schwämmchen, eine kleine schwarze Kladde und eine Blechschachtel mit zehn bunten Wachsmalkreiden. Ein Lineal aus Holz und eine Tüte mit Salmiakpastillen. Und echte Schokolade! Katzenzungen, einzeln in Alupapier eingewickelt, mit süßen Katzenbildern darauf, die hat Papa aus Frankreich geschickt. Und eine richtige, dicke Apfelsine. Wenn man an der Schale kratzt, dann duftet das ganze Zimmer! Und ein neues Kleid habe ich auch bekommen, ein Dirndl mit einer knallroten Schürze. Das hat Mutti selbst genäht, denn das kann sie fast noch besser als kochen.

 

Gerda hat das mit der Schultüte heimlich für mich gemacht, in den letzten Wochen, und dann zusammen mit Mutti gesammelt und gepackt. Weil sie in der Nähe wohnt, drüben bei diesem Knilch, dem blöden Förster, konnten sie wohl all die Sachen gut vor mir verstecken. Ich habe nämlich schon wochenlang gedibbert, weil ich so gern eine richtige, bunte Schultüte wollte! Und überall gespickt, ob Mutti etwas vor mir verbirgt. Doch Mutti hat immer abgewunken und streng gesagt: »Es ist Krieg, da gibt es keine richtigen Schultüten. Nur solche aus Zeitungspapier.«

Wenn Mutti nicht will, dass man etwas erfährt, dann erfährt man auch nichts. Das ist mir schon öfter aufgefallen.

Gestern waren wir dann erst in der Kirche, da gab es zur Einschulung einen Gottesdienst. Die alte Trine hat wieder so schebbich georgelt, aber ich war viel zu aufgeregt, um mich darüber zu ärgern. Wir haben dann alle lautstark gegen die Orgel angesungen und damit der Trine gezeigt, wie der richtige Takt geht. Das war lustig, weil sich irgendwie alle einig waren und einander in den Sitzreihen angegrinst haben.

Vor der Schule hat der Herr Fotograf aus Wiesenau dann später ein Foto von uns allen gemacht. Mit der Lehrerin, die Papa vertritt. Die war ziemlich stolz, das hat man gemerkt, denn wir sind ihre erste Klasse.

Nur Mutti und ich waren etwas traurig, dass Papa nun meine Einschulung verpasst. Die ist ja nur einmal im Leben.

Ich habe in der zweiten Bank neben Lotti sitzen dürfen. Aber das war jetzt nicht so aufregend für mich, weil ich die Schulstube ja schon kenne und jeden Tag sehe. Das Fräulein hat uns erzählt, wie es in den nächsten Tagen weitergeht und was wir auf jeden Fall immer im Ranzen haben müssen. Da habe ich natürlich Glück, denn wenn ich mal etwas vergesse, muss ich nur nebenan in unsere Wohnung laufen und es holen. Deswegen habe ich aber auch gar keinen eigenen Ranzen bekommen, sondern nur den alten von Ekkehard. Das fand ich nicht so gut, aber so schlimm jetzt auch wieder nicht. Wenn ich später mal auf die höhere Schule gehe, bekomme ich bestimmt meinen eigenen. Mutti möchte das nämlich unbedingt, also das mit dem Gymnasium.

Das einzig richtig Blöde gestern war nur, dass Mutti mir wieder diesen komischen Hahnenkamm frisiert hat. Ich mag den nicht, der sieht doof aus, so altbacken. Zöpfe kann man doch auch ganz keck mit Mittel- oder Seitenscheitel tragen! So wie all die Mädel in der Wochenschau, die wir in Frankfurtoder im Kino gesehen haben. Gerda findet das natürlich auch. Sie hat noch versucht, Mutti zu überreden, aber die findet nun mal den blöden Hahnenkamm fescher. Gerda hat nämlich auch so seidige dunkle Haare wie ich, aber sie hat sie nur bis auf die Schultern und trägt oft einen Reifen darin, damit man den Glanz sehen kann. DAS ist fesch!

Gerda ist wirklich besonders nett zu uns. Ari, Ekkehard und ich haben sie richtig gern. Sie ist auch sehr tüchtig, hilft Mutti im Haushalt und im Garten und ›mit uns‹. Ich finde ja, dass wir selber viel helfen. Also, ich jedenfalls. Die Burschen finden immer eine Ausrede. Ekkehard muss natürlich auch jeden Tag den langen Weg zum Gymnasium in Frankfurtoder. Deswegen kann der nicht so viel helfen. Aber Ari ist nicht so viel älter als ich, und der kommt bei Mutti immer davon.

Schade, dass Gerda nach ihrem Pflichtjahr dann wieder weg sein wird. Sie will später auf die Höhere-Töchter-Schule, sagt sie. Obwohl sie aus einer normalen Familie stammt, also nicht so was Hohes ist wie der Major vom Gutshof. Am liebsten will sie danach auch noch studieren. Das fände ich für mich auch gut, ich weiß nur noch nicht, was ich studieren soll. Blöd wäre, dass ich dann ja auch aus Matschdorf wegmüsste. Das möchte ich eigentlich nicht.

Gerdas Mutter will aber lieber, dass sie schnell einen Mann findet und den heiratet und Kinder bekommt. Gerda sagt immer, sie kann doch auch beides. Na, mal sehen. Bis Gerda uns verlässt, ist ja noch lange hin, Gott sei Dank.

Gestern Nachmittag haben wir dann noch alle zusammen Kaffee getrunken. Auch der alte Wittich war eingeladen, warum, weiß ich nicht recht. Vielleicht, weil der einsam ist? Mutti hatte einen saftigen Pflaumenkuchen gebacken, einen mit Gitter drauf, also einen ohne Hefe, weil es die gerade nicht gibt. Dafür gab es Schlagsahne, so viel ich wollte. Die hatte Oma Sobbels’ Knecht aus Wiesenau gebracht. Extra für mich, weil es mein erster Schultag war! Darüber habe ich mich sehr gefreut, denn Pflaumenkuchen ohne Schlagsahne ist lecker, aber nicht soo lecker. Deshalb hat der Knecht dann auch ein Stück gekriegt. Und hinterher gab es für die Erwachsenen noch Likör aus Schlehen, den macht Mutti jedes Jahr selber.

Jetzt, wo ich in die Schule gehe, bin ich natürlich schon ein Stückchen mehr erwachsen. Das fühlt sich toll an. Aber trotzdem spiele ich am liebsten. Und am allerliebsten den ganzen Tag. Und meine Susi nehme ich überall hin mit, nur in die Klasse nicht.

Als ich mich mit Lotti und Susi gestern Abend noch auf dem Dachboden verstecken wollte, hat Mutti es uns verboten. Sie und der alte Wittich waren vorher zusammen oben und haben noch ein paar Gewehre dort abgelegt, die die Leute vorbeigebracht haben. Das ganze Dorf sammelt jetzt Waffen. Egal welche. Also, das Luftgewehr von Ekkehard liegt jedenfalls auch schon dort; darüber ist er sehr böse gewesen, weil das ein Geschenk von Oma war zu seinem Fünfzehnten. Er hätte sich aber nicht so aufregen müssen, finde ich, er kommt ja leicht dran, wenn er es braucht.

Mutti sagt, falls ›der Russe‹ [1] kommt, dann werden alle, die schießen können, im Schulhaus eine Waffe bekommen und den Russen davon abhalten, unsere Äpfel zu klauen. Wir haben dieses Jahr aber so viele Äpfel, auch in Lottis Garten und im Schlosspark hängt alles voll. Ich finde, wenn der Russe nett fragt, kann man ihm doch welche abgeben, dann braucht er die doch gar nicht zu klauen.

Oktober 1944

Ich kann jetzt schon ganze Wörter buchstabieren. Das Fräulein hat Mutti erzählt, dass ich schlau bin, und das macht mich ziemlich stolz. Mutti hat aber gemeint, das wäre für eine Lehrertochter doch auch normal, und außerdem hätte Papa ja mit mir schon geübt. Das stimmt aber gar nicht, dafür ist Papa schon viel zu lange weg! Nur einmal, als er auf Fronturlaub war, haben wir zusammen unten am Steg Buchstaben in den Sand gemalt. Ich sollte versuchen, ›Gerlinde‹ zu schreiben. Das ist aber ein schwieriges Wort. Ich kann das erst seit letzter Woche richtig. Lotti prahlt schon lange damit, dass sie ihren Namen buchstabieren kann, aber ›Lotti‹ ist auch viel einfacher als ›Gerlinde‹, das hat ja nur fünf Buchstaben, und einer ist sogar doppelt!

Mutti will immer, dass ich besser bin als alle anderen. Und wenn ich es dann bin, dann soll ich eben noch besser sein, oder aber sie tut es ab. Das ist nicht gerecht, finde ich. Aber sie sagt dann immer, sie hätte auch früh gut sein müssen in der Schule und obendrein auf dem Hof von Oma Sobbels helfen. Muttis Papa ist im letzten Krieg geblieben. Und so waren sie dann allein auf dem Hof: Mutti mit ihrem Bruder, meinem Onkel Willi, und Oma. Sonst hätte Mutti womöglich auch studiert, wer weiß.

Letzte Woche war Schlachtefest auf Oma Sobbels’ Hof. Oma ist ja die Mutter von meiner Mutter und heißt eigentlich Lantzke, aber irgendwie sagen alle ›Sobbels‹, weil so heißt nun mal der Hof, den sie so halb geerbt hat und wo sie nun die Bauern-Ausgedingerin ist. Das bedeutet in etwa, dass sie dort immer wohnen und arbeiten kann, aber der Hof gehört eigentlich Onkel Willi. Oder so.

Und zu Mutti sagen sie deshalb nicht Elisabeth, sondern ›Sobbels Lieschen‹. Oma muss auf dem Bauernhof alles allein machen, seit ihr Mann im Krieg geblieben ist. Und ihr Sohn, mein Onkel Willi, der ist jetzt ebenfalls im ›Feld‹. Ich merke, dass Mutti und Oma beide Sorge haben, dass Onkel Willi auch im Krieg bleibt, so wie sein Papa. Ob Oma dann der ganze Hof gehörte, wo sie doch eh so viel darauf arbeitet, habe ich Mutti gefragt. Das wäre ja wohl nur gerecht. Doch die hat nur die Schultern gezuckt. Sie weiß es wohl auch nicht. Oder sie findet es nicht so wichtig.

Als ich noch kleiner war, habe ich das falsch verstanden und gefragt: »Warum kommen die Männer denn abends nicht einfach zurück vom Feld?« Jetzt weiß ich aber, dass sie Krieg meint, wenn sie ›Feld‹ sagt. Also ein anderes Feld, auf dem nichts wächst.

Na ja, so ganz allein ist Oma nicht. Sie hat noch den Knecht und die zwei Fremdarbeiter, einen aus Polen und einen aus Frankreich. Die wohnen auch auf dem Hof, in einer alten Scheune, die aber sehr gemütlich ist. Oma sagt immer, das sind anständige Kerle. Und dass sie die deutschen Männer ersetzen sollen, die ins ›Feld‹ gezogen sind. Onkel Willi zum Beispiel, Muttis Bruder, den sie so furchtbar lieb hat.

Und dann hat sie noch Palaschka, die stammt aus Russland und sie wohnt bei Oma im Haus und ist ihr Mädchen für alles. Sie ist 16, also ungefähr so alt wie Ekkehard. Obwohl Palaschka aus Russland kommt, ist sie sehr lieb. Sie hat nämlich selbst furchtbare Angst vor dem Russen. Das kommt, weil ihre Eltern tot sind – die hat der Russe beide erschossen. Und Palaschka war dabei. Sie hat das mit angesehen; das muss ganz schrecklich gewesen sein! Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich das überstehen würde, wenn einer meine Mutti, meinen Papa oder meine Oma oder so erschießen würde. Vor meinen Augen! Dann würde ich auch sterben wollen.

Wie genau Palaschka eigentlich zu Oma Sobbels gekommen ist, weiß ich nicht; eines Tages im vorletzten Frühling war sie auf einmal da. Oma sagt, zwei deutsche Offiziere hätten sie bei ihr abgegeben, weil sie nicht gewusst hätten, wohin mit ihr.

Oma freut sich aber, dass sie bei ihr wohnt. »Weil die SS sie sonst wohl ins Jugendverwahrlager gebracht hätte, und das kann ja keiner wollen«, sagt sie. Palaschka freut sich ebenfalls, dass sie bei Oma sein darf. Glaube ich jedenfalls.

Auch wenn das natürlich nicht dasselbe ist, wie zu Hause bei ihrer eigenen Familie zu sein. Auf Omas Hof hat sie ihr eigenes Zimmer mit gehäkelten Gardinen, das war früher sogar mal Opas Zimmer. Wenn ich zu Besuch bin, dann kann ich dort bei ihr schlafen. Oma lässt Palaschka dann oft einen Ziegelstein in der Ofenröhre heiß machen, den wickelt sie in ein Leintuch und legt ihn mir ins Alkovenbett, bevor ich schlafen gehe. Das ist so herrlich gemütlich! Sogar im Sommer ist das fein, weil es auf dem Bauernhof eigentlich immer etwas klamm ist.

Manchmal kriege ich abends auch noch ein Glas euterwarme Kuhmilch – mit Honig, wenn ich ganz viel Glück habe –, und Oma erzählt mir und Palaschka noch eine Gute-Nacht-Geschichte. Palaschka stiert dann immer bloß an die Decke, oder sie macht die Augen zu und dreht sich zur Wand. Ein paarmal hat sie sogar geweint. Dabei versteht sie inzwischen fast alles, was wir sagen, und Omas Geschichten sind wirklich sehr schön zum Einschlafen. Vielleicht hat Palaschkas Mutti ihr ja früher abends auch immer eine Einschlaf-Geschichte erzählt, und es ist die Erinnerung daran, die sie so traurig macht. Das könnte ich wirklich sehr gut verstehen. Sie redet aber nie darüber, auch mit mir nicht. Denn auch wenn sie uns mittlerweile prima versteht, das mit dem Deutsch-Sprechen klappt bei ihr noch nicht so gut. Vielleicht mag sie aber auch einfach nicht. Das vermutet jedenfalls Cousine Mizzi. Lesen kann Palaschka auch nichts, weil die in Russland ganz andere Buchstaben haben als wir.

Trotzdem verstehen wir beide uns richtig gut. Sobald Oma nach ihrer Gute-Nacht-Geschichte aus dem Zimmer geht, kriegt Palaschka jedes Mal den Rest von meiner Milch.

* * *

Wenn die Ernte eingeholt ist, ist im ganzen Kreis Weststernberg immer die Zeit für Schlachtefeste. Die gibt es bei den russischen Bauern auch, hat Palaschka erzählt, und Oma Sobbels als echte Bäuerin macht es natürlich ebenso. Sie bestellt dann den Schlachter auf den Hof. Den muss sie viele Wochen vorher ›buchen‹, und wenn der kommt, schlachtet er eine oder mehrere von Omas Sauen. Die verarbeiten wir dann zu Blutwurst, Leberwurst, Braten und Räucherspeck und Schinken. Alle müssen helfen, vor allem Palaschka und Mutti, weil die beide sehr patent sind und weil es schnell gehen muss, damit nichts verdirbt. Ich möchte aber eigentlich immer erst später dazukommen, weil mir die Schweine so leidtun. Dieses Jahr ging das ganz gut, weil ich ja jetzt zur Schule gehe und vormittags noch nicht wegkann. Mutti ist daher schon vorgefahren gestern, und ich bin mit Aribert, Ekkehard und Gerda am späten Nachmittag hinterher.

 

Diesmal ist gottlob nur eine Sau geschlachtet worden. Die anderen sind noch zu klein. Da haben sie Glück gehabt! Die Bauern dürfen jetzt nur wenig von dem behalten, was sie an Fleisch haben. Das andere wird abgeholt und ›geht nach Berlin‹, sagt Mutti. Weil die da wenig oder nichts zu essen haben und es dort nur wenige Leute gibt, die überhaupt Schweine haben. Hier hat ja fast jeder ein Schwein. Nur der Lehrer und der Pfarrer nicht. Weil sich das für die nicht ›schickt‹. Sie kriegen aber auch genug von allen anderen geschickt!

Für uns gab es immer noch reichlich gestern, obwohl alle Nachbarn und Großvater Lilie, seine Frau, Tante Klara, Tante Bruna und Mizzi dabei waren. Ich mag bloß keine Blutwurst, und deshalb habe ich mir eine besonders dicke Pellkartoffel geholt und bekam dazu ein großes Stück gesalzene Butter. Die haben Palaschka, Tante Bruna und Oma Anfang letzter Woche selber gebuttert. Die Kartoffeln werden auf Omas Hof immer in einem großen Dampfkübel gedünstet. Oma hat mir erklärt, dass so die ›Vitamine‹ für die Schweine drinbleiben. Denn die meisten ihrer großen Kartoffeln sind für die Schweine reserviert. Irgendwie komisch. Wenigstens haben die vor dem Schlachten ein gutes Leben, also die Schweine, nicht die Kartoffeln.

Ich mag sowieso vieles gerne, was sonst die Tiere zu essen bekommen. Zum Beispiel Zuckerrübenschnitze für die Pferde, die finde ich köstlich, und ich kann gut verstehen, dass die Pferde sie gern mögen.

Omas Tiere haben es ziemlich passabel, finde ich, und all die Leute auf ihrem Hof auch. Auch wenn Mutti sagt, dass der Franzose und der Pole nicht freiwillig bei Oma sind. Die kommen schließlich auch aus dem Krieg. So wie Palaschka. Vielleicht wollten die zwei nicht mehr kämpfen gegen die Deutschen. Sonst würden sie ja wohl weglaufen.

* * *

Das Schlachtefest war ein großer Spaß, auch wenn ich dann doch noch zum Blutgrütze-Rühren kommandiert wurde und mir davon schlecht geworden ist. Palaschka hat das mitgekriegt und zu mir gesagt: »Gehst du weg! Machen Palaschka! Musst du holen Luft!«

Dann hat sie mich mit dem Eimer rausgescheucht zum Kohlenholen, und darüber war ich doch ziemlich froh.

Palaschka ist nicht nur sehr lieb, sie ist auch schon tüchtig erwachsen. Wenn sie mal Deutsch spricht, dann klingt das zwar ulkig, aber sie meint es meist nicht so. Komisch, Gerda ist viel alberner, obwohl sie bereits ein paar Jahre älter ist als Palaschka. Oma sagt, das liegt daran, dass Gerda ein ›behütetes Mädchen‹ ist. Ihre Eltern sind sehr wichtige Leute bei uns in Matschdorf, das merkt man, wenn Mutti und ich mal bei Gerdas Eltern zu Besuch sind. Die haben sogar so einen rot-weißen Wimpel, der hängt dort an der Garderobe im Flur. Und gleich zwei Führerbilder, eines auf dem Kaminsims und eines in der Küche neben dem Herd. Bei uns guckt der Führer in der Speisekammer missmutig auf die Erbsen zum Blindbacken. Mutti meint ganz im Ernst, das sei schließlich der beste Platz im Haus.

Gestern waren Gerdas Eltern nicht dabei, obwohl Oma sie eingeladen hatte. Gerdas Papa soll den Volkssturm organisieren. Das hat Oma zu Tante Klara gesagt und dabei das Gesicht verzogen, als würde sie in eine Zitrone beißen. Ich weiß nicht genau, was so ein Volkssturm ist, aber es klingt, als müsste man davor Angst haben. Als ich sie gefragt habe, wollte Oma nicht darüber reden. Sie hat meine Hand getätschelt und in ihrer beruhigenden Art gesagt: »Nu, Marjellchen, mach dir keenen Kopp, wird schon nich so weit kommen. Allet wird jut!«

Die Erwachsenen wurden später ordentlich aufgekratzt und fidel. Und als es dunkel wurde, haben sie alle angefangen zu singen. Auch Papas Lied von der Eilang, damit hat Mutti angefangen, und alle kannten das Lied.

Für die Kinder gab’s am Abend noch Naute. So nennt sie Mutti. Oma sagt ›Judenhaut‹ dazu. Das sind zähe süße Salmis aus Rübensirup, mit Mohn überstreut, die Oma immer für uns im Ofen backt. Die kleben an den Zähnen, sind aber schrecklich lecker! Mutti hat wie immer mit Oma geschimpft, weil sie das Wort ›Judenhaut‹ so blöde findet. Aber Oma hat abgewunken und gemeint: »Sacht ma nu mal so, Lieschen. Ich hab’s ja nich erfunden.«

Großvater Lilie hat später sogar Schnaps spendiert. Das war wohl etwas ganz Besonderes, denn alle sagten ah! und oh!, als er die Flasche hervorholte, und haben ihn auch ein wenig geneckt. Großvater ist nämlich ein bisschen geizig.

Er hat so herrlichen Wein an seinem Haus, im Herbst hängt der immer voll mit dicken gelben Trauben. Die esse ich für mein Leben gern! Doch immer wenn ich ihn mal frage, ob er mir welche pflückt – das darf ich nämlich auf keinen Fall selber tun –, dann tut und macht er stundenlang hin und her. Er tritt dann von einer Traube an die nächste, wägt ab, legt die Stirn kraus und kann sich einfach nicht entscheiden, welche Traube er denn nun für mich entbehren kann. So gar nicht wie in dem Gedicht über den Herrn Ribbeck, das Papa mich gelehrt hat.

»Wiste ’ne Traube?«, würde Großvater Lilie nie zu mir sagen.

Der ist ja immer eher so ein ganz christlicher und feierlicher. Kein Wunder, dass er seinen einzigen Sohn Bernhard-Ernst genannt hat. Papa ist aber alles andere als ernst, der kann lachen, bis ihm die Tränen kommen. Das finde ich großartig, weil das so ansteckend ist: Am Ende lacht einfach jeder mit!

Nicht bloß dafür, aber natürlich auch für die ›Lach-Attacken‹, wie Mutti sie nennt, hat er immer ein weißes Taschentuch in der Jacke, das Mutti sehr hübsch mit seinem Monogramm bestickt hat. Das hat er auch mitgenommen ins ›Feld‹.

»Ich bin bestimmt der einzige einfache Gefreite mit einem monogrammierten Batist im Ärmel!«, hat er bei seiner letzten Abreise gelacht und Mutti über die Wange gestreichelt.

Mutti sah dabei aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen, aber nicht vor Lachen. Sie weint eigentlich nie und hat dann nur das Gesicht verzogen, als hätte sie fiese Zahnschmerzen.

Gestern war Papa beim Feiern natürlich auch wieder nicht dabei, und Mutti hat lange Zeit ganz unglücklich dreingeschaut. Wenn ich das sehe, dann macht mich das jedes Mal auch jämmerlich.

Von Schnaps werden die Erwachsenen aber irgendwann richtig kindisch, Mutti gestern auch. Sie fand es wohl schön, dass mal wieder gesungen wurde. Sie mag das nämlich sehr, genau wie ich. Ich durfte extra lange aufbleiben, und als es dunkel war, hatte Mutti ganz rosa Backen und hat mich auf den Schoß genommen. Ich habe mich gefreut, dass sie mal wieder ein bisschen fröhlich war. Tränen gelacht hat aber dann doch keiner.

1. Dezember 1944

Schule gibt es jetzt nicht mehr. Für keinen von uns. Das Fräulein ist zurück zu ihrer Familie nach Brandenburg gegangen.

Die brauchen mich da, hat sie letzte Woche gesagt.

Sie stand mittags nach dem Unterricht vor unserer Wohnungstür und bat Mutti »auf ein Wort«. Die hat sich erst gefreut, weil sie so selten netten Besuch bekommt in letzter Zeit, und hat ihr in der Küche gleich eine Tasse Tee angeboten. Ich durfte sogar dabeibleiben, weil ich gerade beim Kartoffelschälen geholfen habe. Nach ein paar Komplimenten zu Muttis selbst gehäkelten halben Gardinen hat das Fräulein auf einmal begonnen herumzudrucksen. Sie hat gemeint, sie könne es nun mal nicht ändern: Ihre Eltern und ihre Geschwister bräuchten jetzt dringend ihre Hilfe. Mutti hat ihr das irgendwie nicht abgenommen, das habe ich gleich gemerkt. Doch sie hat nichts gesagt, wirklich kein einziges Wort. Das war fast ein wenig peinlich, weil es auf einmal so still war. Man konnte sogar mein Messer hören! Sie hat nur die Schultern gezuckt, ist aufgestanden und hat sich brüsk abgewendet. Den Tee hat das Fräulein dann nicht mehr ausgetrunken.