Die Bibliothek des Kurfürsten

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Ungeduldig fuhr der Stadtkommandant herum. Lena lächelte scheu. Maxilius stutzte und setzte seinen Hut auf. Er gebot dem Vorarbeiter, der gerade irgendeinen Bericht erstattete, zu schweigen und winkte den Frauen mit seiner behandschuhten Hand zu. Lena konnte die Verwunderung der Männer ebenso spüren wie ihr Missfallen. Nur Jakobs Gesicht blieb unbeweglich, was aber an seinem Zustand liegen mochte.

»Lena«, sagte der Major, als sie vor ihm stand. »Ich nehme an, es ist wichtig?«

Lena machte einen Knicks. Auf einmal war sie um Worte verlegen. Sie machte einen zweiten Knicks.

Seine grauen Augen, kühl und forschend, verengten sich unheilvoll.

»Es geht um die Leiche, Herr Major«, erklärte sie. »Herr Liebig hat Fragen gestellt.« Sie hoffte, dass sie Jakob nicht in Schwierigkeiten brachte, doch der nahm die Aufmerksamkeit gelassen hin. »Ich hatte eine Idee, wer der Tote sein könnte. Oder vielmehr Anni.« Sie knuffte das Mädchen in die Rippen.

Annis Mund stand offen. Sie starrte Maxilius an wie eine Erscheinung. Lena biss die Zähne zusammen. Musste das dumme Ding, das doch wirklich nicht schüchtern war, ausgerechnet jetzt vom Anstand gepackt werden? Sie bohrte ihr den Finger in die Seite. »Anni, red!«, zischte sie.

»Kuno«, flüsterte Anni errötend.

Lena blickte Maxilius hilfeflehend an. Zu ihrer Überraschung lächelte er. Es machte ihn um Jahre jünger. Und während der halbe Rat in der Sonne stand und wartete, schenkte er seine ganze Aufmerksamkeit der kleinen Schankmagd.

»Der Mann heißt also Kuno?«

Er muss Ohren wie ein Luchs haben, dachte Lena bewundernd.

Anni nickte stumm. Ihre Augen waren tellergroß.

»Kuno? Und wie weiter?«

»Das weiß ich nicht«, hauchte sie.

Irgendjemand lachte abfällig.

Maxilius setzte den Hut wieder ab. Er sah zu Lena hinüber, die ratlos die Achseln zuckte.

»Nun gut, Mädchen, du wirst jetzt mit Lena in die Garnison gehen und dort auf mich warten. Ich muss mir deine Geschichte in Ruhe anhören. Leutnant!«

Karius trat zu seinem Vorgesetzten. »Herr Major?«

»Ihr begleitet die beiden Frauen. Seht zu, dass sie mit allem Nötigen versorgt werden.«

»Und der Katholik?«

»Ich werde wohl in der Lage sein, auf ihn aufzupassen. Und auch ein irrgläubiger Ketzer wird nicht die Macht haben, sich einfach in Luft aufzulösen«, entgegnete Maxilius bissig.

Karius wurde rot, soweit die Farben seiner Blessuren das zuließen. Er befahl Anni und Lena, ihm zu folgen. Plötzlich erinnerte sich Lena an Jiří. Sie schaute sich um. Er stand in einiger Entfernung. Vielleicht konnte Jakob sich nicht unsichtbar machen, Jiří konnte es jedenfalls hervorragend. Obwohl er sich nicht eigentlich versteckte, gelang es ihm, vollkommen unauffällig zu wirken. Er grinste ihr zu.

»Macht endlich!«, rief Karius.

Jakob sah Karius und den beiden Frauen hinterher. Es war eine Befreiung, den Leutnant ziehen zu sehen. Mit gehässigen, geschwollenen Argusaugen hatte Karius ihn während der letzten halben Stunde gemustert und immer wieder geraunt: »Ja, erzähl deinem katholischen Herrn nur, wie gut Heidelberg befestigt ist.«

Dabei hatte Jakob von der praktischen Seite der Schanzarbeiten keinerlei Ahnung und es hatte auch nichts mit seinem Auftrag zu tun, dennoch war er routiniert genug, sich möglichst viel von dem zu merken, was der Vorarbeiter Maxilius und dem Rat berichtete. Alles, so hatte der Herzog ihm während der letzten geheimen Audienz eingeschärft, konnte wichtig, konnte kriegsentscheidend sein. Und natürlich würde Jakob berichten, wenn er gefragt wurde.

Er seufzte. Was hätte Karius gelacht, wenn er gewusst hätte, dass Jakob insgeheim hoffte, nicht gefragt zu werden.

Der Vorarbeiter sprach immer noch. Es war ihm anzumerken, dass er stolz auf seine Arbeit und seine Männer war. Maxilius unterbrach ihn hier und da mit einer Frage. Dass die Mitglieder des Rates immer ungeduldiger wurden, schien keiner der beiden zu bemerken, wobei Jakob vermutete, dass es Maxilius sehr wohl bewusst war und dass die eine oder andere Frage den Bericht unnötig in die Länge zog. Doch besonders die beiden Oberen Räte, die Vertreter des kurfürstlichen Rates, durften sich nichts anmerken lassen. Der ältere der beiden, ein weißhaariger Mittfünfziger, stützte sich schwer auf einen Stock. Nur Rat Hirsch gähnte von Zeit zu Zeit verstohlen, wenn er sich unbeobachtet wähnte.

Eine weitere Viertelstunde verstrich, bis der Vorarbeiter sich tief verbeugte und an seine Arbeit zurückkehrte. Die Gruppe löste sich auf, und Jakob wusste, was jetzt kommen würde. Noch ehe Maxilius ihn mit einer barschen Geste zu sich zitieren konnte, ging er auf den Stadtkommandanten zu.

»Ihr habt Euch mit meinem Leutnant geprügelt«, stellte Maxilius ausdruckslos fest. »Ist das das, was Katholiken unter Diplomatie verstehen?«

»Ich bin kein Schläger«, verwahrte sich Jakob nachdrücklich.

»Ihr nicht. Sei’s drum.« Maxilius sah den Räten nach, die unbeholfen ihren Weg über die Baustelle suchten. »Die Herren diskutieren wahrscheinlich gerade meinen Geisteszustand, weil ich einen katholischen Spion auf die Schanzen lasse.«

»Der Leutnant hielt es für eine notwendige Machtdemonstration, die mich entsprechend demütig stimmen sollte.«

Maxilius’ Mundwinkel zuckten. »Und? Ist es gelungen? Was denkt Ihr?«

»Nichts.«

»Natürlich denkt Ihr etwas. Ihr denkt immer etwas. Aber damit Ihr nicht vom Wesentlichen abgelenkt werdet, will ich Euch die Wahrheit verraten. Es ist herzlich egal, ob Ihr hier steht oder nicht. Jeder halbwegs fähige General kann sich die Arbeiten vorstellen. Und Tilly ist mehr als halbwegs fähig. Nein, wenn es so weit ist, wird es in meiner Hand liegen, ob ich die Tore öffne oder es darauf ankommen lasse, dass die Stadt erobert wird. Und da kann keine Mauer mir helfen. Nur Gott.« Jakob schluckte und Maxilius lachte trocken auf. »Lasst Euch deswegen keine grauen Haare wachsen, obwohl Ihr ein paar davon bekommen habt in den letzten drei Jahren. Erstattet mir lieber Bericht.«

»Sollte das nicht der Leutnant tun?«

»Wird er, glaubt mir. Aber jetzt seid Ihr an der Reihe. Was hat es mit dem Namen des Toten auf sich?«

»Das weiß ich nicht. Lena hat ihn nicht erwähnt, als ich sie danach gefragt habe. Ich nehme an …« Er brach ab.

»Dass sie die kleine Hure beschützen wollte? Sehr wahrscheinlich. Habt Ihr diesen Kuno auch getroffen? Ihr habt ja in Reilings Hof übernachtet. Wie lange? Eine Nacht? Zwei?«

»Eine. Und nein, ich habe ihn nicht getroffen. Jedenfalls nicht bewusst. Vielleicht kann uns Anni mehr darüber erzählen, was er hier wollte.« Jakob rief sich den Auftritt der beiden Frauen ins Gedächtnis und lächelte. »Ich bin sicher, Ihr werdet alles von ihr erfahren. Sie hat Euch ja angeschaut wie ein höheres Wesen.«

Maxilius verzog das Gesicht. »Da halte ich mich lieber an Lenas gesunden Menschenverstand. Sie vertraut Euch, und darum bin ich bereit, auf Euch zu hören. Was denkt Euer verschlagenes Politikergehirn? Wer ist der junge Mann und warum ist er tot?«

»Ein Liebeshändel?«

»Möglich, aber für diese Antwort brauche ich kein Politikerhirn. Seht Ihr, es ist wie vor drei Jahren. Ihr seid da und schon gibt es Tote. Politische Tote.« Er klang angewidert. Jakob wartete und Maxilius wurde lauter. »Ihr werdet Euch nicht ewig hinter Eurem Schweigen verstecken können. Es gibt Leute, die fordern, dass ich die Wahrheit auf der Folter aus Euch heraushole. Ich tue es nicht, weil …« Er hob die Hände. »Ich weiß selbst nicht, warum. Vielleicht wegen Sophie. Oder weil ich denke, dass Ihr zu anständig für einen Politiker seid. Jedenfalls werdet Ihr die Fragen beantworten, die ich Euch stelle.«

Jakob starrte über die Schanzarbeiten hinweg. »Ihr kennt die Kräfte so gut wie ich. Tilly. Euer Kurfürst. Spinola … Jeder von denen hat seine Agenten, seine Boten … Ihr beherbergt einen Katholiken in Euren Mauern.«

Maxilius lachte spöttisch. »Rodriguez? Bevor ich vor dem Angst habe, fange ich an, katholische Mäuse zu fürchten. Tilly auf dem Weg in den Odenwald, Spinola in Kaiserslautern. Heidelberg in der Mitte …«

Jakob fiel auf, dass Maxilius den Kurfürsten nicht erwähnte. Entweder erhoffte er sich nichts von dieser Seite oder der Major kannte die Agenten Friedrichs. Jakob runzelte nachdenklich die Stirn. Es war ein interessanter Gedanke, den es sich weiterzuverfolgen lohnte.

»Ist Euch etwas eingefallen?«

Jakob schüttelte den Kopf.

»Ihr solltet lernen, besser zu lügen«, sagte Maxilius müde. »Aber egal. Gehen wir.«

»Wohin?«

»In die Garnison«, erklärte Maxilius überrascht. »Wohin sonst?«

Da Maxilius zu Fuß gekommen war, war Jakob gezwungen, sein Pferd zurückzulassen. Dass der Stadtkommandant ihm mürrisch versicherte, das Tier werde in seinen Stall zurückgebracht, beruhigte ihn nicht. Jakob liebte die temperamentvolle Rappstute, und der Gedanke, dass ein anderer sie ritt, war ihm zuwider. Maxilius hatte die Diskussion beendet, indem er halb ungeduldig, halb spöttisch ausgerufen hatte: »Lieber Himmel, Mann, sucht Euch eine echte Frau!«

Jakob hüllte sich seitdem in empörtes Schweigen, und Maxilius machte keine Anstalten, es zu brechen. Jakob hatte den Verdacht, dass der Stadtkommandant sich auf seine grimmige Weise über ihn lustig machte. Während sie in flottem Tempo durch die Stadt gingen, tauchten die Bilder seines letzten Besuches vor seinem inneren Auge auf. Er dachte an Matthias, den er immer noch nicht wiedergesehen hatte. Und an Sophie. Jakob fühlte, wie ihm warm wurde. Ihr Haus war nicht mehr weit, zehn Minuten zu Fuß, dann könnte er sie sehen.

»He, Thomas, so weit weg von deinem Revier?«

 

Jakob kehrte in die Gegenwart zurück.

Ein schmutziger, vielleicht zehnjähriger Junge in löchriger Kleidung saß auf einer niedrigen Mauer und biss in einen Apfel. Er war viel zu dünn und seine Schuhe fast noch armseliger als sein Hemd, aber er grinste frech. »Muss ja einer nach dem Rechten sehen, wenn der Herr Stadtkommandant zum Katholikenfreund wird.«

»Holla, Freundchen!« Maxilius hob die Hand wie zu einer Ohrfeige. Der Junge schwang sich mühelos von der Mauer und flitzte davon.

Jakob sah den Major an; er erwartete Zorn, sah aber nur eine Mischung aus Belustigung und Kummer. »Nichts für ungut, aber sollte man solche Burschen nicht einsperren? Der Apfel war doch sicher gestohlen.«

»Natürlich war der geklaut, was denn sonst? Der Junge hat keinen Vater, die Mutter kann das Essen kaum noch bezahlen, seit die hohen Herren die armen Leute mit ihren schlechten Münzen ruiniert haben.« Er streifte Jakobs dunkelblaues Wams mit einem verächtlichen Blick. »Ab und zu habe ich einen Botengang für ihn. Ansonsten hat er ein paar Jungs um sich geschart, Kinder wie er, mit denen er sich als Herr der Straße fühlt. Allerdings ist er in letzter Zeit etwas aufsässig geworden. Irgendwann werde ich herausfinden müssen, was dahintersteckt.«

»Aber …«

»Herr Liebig. Ihr habt keine Ahnung, wie es hier zugeht. Haltet einfach Euren Mund.«

Eine zornige Antwort lag Jakob auf der Zunge, doch er beherrschte sich. Zwei Straßen weiter befand sich die Garnison. Dort erwartete ihn eine Aufgabe und er musste sich nicht mehr mit dem selbstgerechten Zorn eines Ketzers auseinandersetzen.

Maxilius’ Schritte stockten. Gelächter schallte aus seinem Quartier. Er riss die Tür auf. Lena, Anni und Stefan sprangen auf. Sein Bursche wirkte verlegen, aber seine Augen hatten den Glanz eines Jungen, der sich in der Gesellschaft zweier hübscher Mädchen befand. Auf dem Tisch standen Brot und Butter. Maxilius wies mit dem Daumen hinter sich. Stefan verschwand wortlos, während der Stadtkommandant sich müde auf einen Stuhl fallen ließ. Kurz fragte er sich, was Jakob, den er in die Wachstube verbannt hatte, gerade tun mochte. Er hatte ihm befohlen, sich nicht von der Stelle zu rühren, bezweifelte jedoch, dass der verfluchte Katholik gehorchen würde. »Wie geht es euch?«, fragte er, ehe er sich ein Stück Brot in den Mund schob.

Anni brachte keinen Ton heraus, daher antwortete Lena für sie beide. »Wir sind gut behandelt worden. Danke, Herr Major.«

Maxilius brummte. »Setzt euch. Ich muss mehr über diesen Kuno wissen. Anni …«

»Ja?«, hauchte sie.

Maxilius fuhr sich über die Augen. »Warum denkst du, dass er der Tote ist?«

»L… Lena denkt das«, stammelte Anni. »Weil Kuno doch verschwunden ist und der Tote … Ich wusste gar nichts von dem Toten, aber dann …«

Maxilius hob die Hand. »Lena, bitte«, forderte er mit einem Anflug von Verzweiflung. »Aber fass dich kurz.«

»Ist der Tote stark behaart?«

Maxilius sah überrascht auf. Mit einem scharfen Blick auf die errötende Anni nickte er. »Kann man sagen. Gut. Ich nehme an, ich kann dir ersparen, die Leiche anzuschauen. Du hast gesagt, dass du seinen Nachnamen nicht kennst. Was weißt du sonst über ihn? Hat er dir etwas über sich erzählt?«

»Nur … nur … dass er einem mächtigen Herrn dient. Und dass er mich mitnehmen wollte. Aber … ich wollte nicht nach Spanien.«

»Spanien?«, brüllte Maxilius. Ein paar Brotkrümel flogen durch die Luft.

Anni brach in Tränen aus. »Ich hab doch gesagt, dass ich da nicht hinwollte …«

»War dieser Kuno Spanier?«

»Er war Pfälzer«, erwiderte Lena über Annis Schluchzen hinweg. »Das konnte man hören. Er war zwar schwarzhaarig, aber Spanier war er im Leben nicht.«

»War er Katholik?«

»Nein«, brachte Anni erstickt hervor.

»Weißt du das mit Gewissheit? Hat er das gesagt?«

»N… nein, aber er war doch nett.«

Maxilius verdrehte die Augen. »Ja, schon gut. Lena, weißt du irgendetwas?« Seine Stimme klang beschwörend.

»Leider nicht. Ich habe ihm weiter keine Beachtung geschenkt. Er war einfach ein junger Mann, der viel trank und viel redete. Er war vielleicht fünf- oder sechsmal in der Gaststube. Sprach von wichtigen Geschäften in der Stadt. Aber das tun sie ja alle.«

»Hatte er einen Passierschein?«

Lenas Wangen färbten sich. Maxilius vermutete, dass sie an Jakob dachte. »Ich weiß nicht. Er schien sich keine Sorgen zu machen, dass er nicht in die Stadt kommen könnte. Er hatte auch Geld. Ich habe angenommen, dass er als Bote unterwegs war.«

»Ein Bote von den Spaniern«, knirschte Maxilius. »Diesem Rodriguez werde ich hart auf den Zahn fühlen.« Er erinnerte sich an die Gegenwart der beiden Frauen. »Eine Frage noch, Lena. Verkehren bei euch die Schreiber des Rates? Kennst du welche von ihnen?«

»Manchmal, zwei oder drei.«

»Kennst du einen Christian Streichling?«

»Verzeiht, der Name sagt mir nichts. Anni?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf.

»Soll ich etwas herausfinden?«

Maxilius winkte ab. »Schon gut. Ich lasse euch jetzt zurückbringen. Wie seid ihr überhaupt hergekommen? Die Straßen sind nicht sicher.«

»Wir waren in Begleitung.«

Maxilius’ Augen verengten sich. »Dieser Böhme?« Als Lena nickte, stieß er ein lang gezogenes Knurren aus, sagte aber nichts weiter. »Stefan!«, brüllte er so laut, dass Anni ihn bewundernd ansah. Der Junge erschien prompt. »Sorg dafür, dass Sergeant Spielvogel die Frauen zu Reilings Hof zurückbringt.« Er kritzelte ein paar Worte auf die Rückseite einer zerknitterten Flugschrift. »Und gib ihm das. Beeil dich!«

III

Matthias schnaufte kurzatmig durch den immer noch warmen Nachmittag. Die Uhr am Glockenturm der Heiliggeistkirche zeigte zehn nach vier. Er hob den Arm, um sich den Schweiß abzuwischen, besann sich aber im letzten Moment und tupfte die Stirn mit einem bestickten Leinentuch ab. Der rötlich-blonde Bart, der sein Gesicht umrahmte, sah stattlich aus, juckte allerdings elendiglich. Aus alter Gewohnheit strich er über seine Kleidung, um Mehlstaub abzustreifen, dann öffnete er das Portal und betrat das Innere des Gotteshauses. Im Hauptschiff knieten Gläubige und beteten stumm und in sich versunken. Matthias befürchtete, dass er zu spät gekommen war, doch da hörte er von der linken Empore Stimmen. Sie klangen zu laut und zu fordernd für diesen heiligen Ort, trotzdem war Matthias erleichtert. Möglichst leise, um die Betenden nicht zu stören, erklomm er die steinerne Wendeltreppe. Auf der Galerie hielt er inne und schaute beklommen die endlose Reihe der Schreibpulte entlang. Es kam ihm jedes Mal seltsam, fast falsch vor, dass unten ein Gotteshaus, so wie er es kannte, zum Beten einlud und oben eine Bibliothek beherbergt war, der man einen unschätzbaren Wert nachsagte. Matthias hielt nicht viel von Büchern. Dank dem großen Doktor Luther konnte er das Wort Gottes in seiner Muttersprache lesen, aber Bücher in dieser Menge erfüllten ihn mit Unbehagen. Nur das Licht, das schräg in die Galerie fiel, passte in sein Bild von Göttlichkeit.

Sein Name wurde gerufen, und Matthias beeilte sich, zu der Gruppe aufzuschließen. Er rief sich die Worte ins Gedächtnis, die er sich zu Hause zurechtgelegt und auf dem Weg wieder und wieder geprobt hatte. Trotzdem drohte ihm die Stimme wegzubleiben. Er wagte kaum zu hoffen, dass er seinem ehrgeizigen Ziel, in den Rat aufzusteigen, trotz Hirschs Niedertracht wirklich näherkommen sollte. Es musste einfach gelingen, allein Sophies wegen!

Er verbeugte sich respektvoll.

»Meister Abele, tretet näher. Wir haben bereits auf Euch gewartet.«

Matthias’ Herz setzte einen Schlag aus, denn er glaubte, einen Tadel aus den freundlichen Worten des Oberen Rates herauszuhören. »Verzeiht die Verspätung, Herr Harting, aber ich habe ein Geschäft zu führen.«

»Und dennoch bewerbt Ihr Euch um einen Platz im Rat«, warf Hirsch spitz ein. »Doch das ist heute nicht unser Thema.«

Matthias errötete, teils vor Verlegenheit, teils vor Zorn. »Ich …« Er erinnerte sich an Sophies Ermahnungen und biss sich auf die Lippe. »Wenn es nicht um meine Ernennung geht, warum bin ich dann hier?«

»Nicht so hitzig, junger Mann.« Harting trat einen Schritt näher. Sein Stock machte hallende Geräusche. »Wir hatten eigentlich gedacht, dass Ihr uns helfen könnt.«

»Natürlich«, stotterte Matthias. »Wenn ich kann.«

Philipp Roden, der zweite Vertreter des kurfürstlichen Rates, stellte sich neben seinen Amtsbruder. Er war ein gut aussehender Mann. Der blütenweiße Kragen war verschwenderisch mit Spitze verziert, sein blonder Bart nach der neuesten Mode gestutzt. Matthias hatte gehört, dass er große Auftritte liebte. Er ließ den Arm kreisen, um die ganze Empore mit einer Geste zu umfassen. »Was Ihr hier seht, Meister Abele, ist der Stolz der Pfalz. Die größten Gelehrten und Künstler haben an der Erschaffung dieser Sammlung mitgewirkt. Unsere gnädige Kurfürstin selbst, die Tochter eines Königs, hat nichts Vergleichbares auf ihrer Insel. Denkt Ihr nicht, dass es unsere Pflicht ist, diese Schätze vor den gierigen Händen der Katholikenbrut zu schützen?«

»Natürlich«, war alles, was Matthias hervorbrachte.

»Natürlich«, wiederholte Roden zufrieden. »Und dabei sollt Ihr uns helfen.«

»Ich?«

»Es ist unsere Aufgabe, diese Stadt zu verteidigen. Und diese Verteidigung verschlingt viel Geld. Unsummen.« Roden gestikulierte heftig. Wie gebannt betrachtete Matthias das Blitzen des schweren Ringes, den er über dem Handschuh am Ringfinger trug. »Ein ehrenwerter Bürger, der von sich sagt, dass er der Stadt dienen möchte, könnte mit einem Darlehen einen wichtigen Beitrag leisten. Selbstverständlich würden wir so einen Dienst nicht vergessen. Es könnte sogar bis zu den Ohren des Kurfürsten dringen, wenn Ihr versteht, Meister Abele.«

Matthias schluckte. Er sah Hirsch an, der missmutig auf seine Stiefel blickte. »Ihr meint …«

»Denkt einfach über unsere Bitte nach«, warf Harting ein. Nach Rodens glitzerndem Auftritt wirkte er streng und zurückhaltend. Umso mehr überraschte Matthias die nächste Frage. »Wie geht es eigentlich Eurer Frau?«

»Sophie? Sie …« Matthias zögerte, und plötzlich kam ihm das ernste Gesicht mit den scharfen Falten, die von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln verliefen, gütig vor. »Sie trauert«, entgegnete er schlicht. »Der Tod unseres Kindes geht ihr sehr nahe.«

»Gottes Wege sind unerforschlich, aber oft nicht leicht zu tragen«, sagte der alte Mann leise. »Ich kannte ihren Vater gut. Bitte richtet ihr meine Grüße aus.«

Matthias verneigte sich. Harting hatte sich bereits abgewandt, als er noch einmal Matthias’ Aufmerksamkeit auf sich zog. »Ein Gedanke: Wenn es meinen verehrten Kollegen nicht gelingt, diesen Streichling oder einen adäquaten Ersatz zu finden, warum fragt Ihr nicht Eure Frau. Ich weiß, dass sie ihrem Vater die Bücher geführt hat. Sie hat eine schöne Schrift und für eine Frau eine bemerkenswerte Disziplin. Meint Ihr, sie wäre bereit, uns zu helfen?«

Matthias runzelte die Stirn. Er war nicht der Einzige, Roden starrte seinen Amtskollegen offen an, Hirsch und die beiden anderen Herren scharrten unruhig mit den Füßen, doch Harting blieb unbeeindruckt. »Lasst Euch nicht aufhalten, Meister Abele. Wie Ihr sagtet, Euer Geschäft braucht Euch. Und uns ist daran gelegen, dass es floriert. Ich wünsche Euch einen guten Tag.«

Matthias verbeugte sich zum dritten Mal. Blind für seine Mitmenschen und seine Umgebung verließ er die Empore, bis er endlich im Sonnenschein stand und freier atmete.

Jakob löste sich aus dem Schatten einer Säule. Er musste nur die Hand ausstrecken, um Matthias zu berühren. Beinahe hätte er es getan, doch im letzten Moment schreckte er zurück. Ihm war bewusst, dass sich ein Wiedersehen mit seinem alten Freund nicht ewig würde hinauszögern lassen, aber noch fühlte er sich nicht bereit dazu.

Matthias ein Stadtrat! Jakob lächelte und zuckte zusammen, als der Schorf an seiner Lippe spannte. Er fragte sich, was Maxilius damit bezweckt hatte, ihn ohne Bewachung in der Garnison zurückzulassen. Er musste gewusst haben, dass er einen Weg finden würde zu entwischen – und dass er ihn nutzen würde. Vielleicht lauerte Karius ihm bereits auf, um zu Ende zu bringen, was dieser Jiří verhindert hatte. Oder der Stadtkommandant wollte, dass er seinen Schatten abschüttelte. Jakob schob die fruchtlosen Gedanken von sich und legte den Kopf in den Nacken. Die Heiliggeistkirche mochte inzwischen ein ketzerisches Bauwerk sein, dennoch war sie wunderschön. Eine Weile verlor er sich in dem prachtvollen Anblick, ehe er den Weg einschlug, auf dem Matthias ihm eben entgegengekommen war. Er setzte den Fuß auf die unterste Treppenstufe, als er Männerstimmen hörte. Jakob wich erneut zurück. Es waren die Heidelberger Räte, und er legte nicht den geringsten Wert darauf, von ihnen gesehen zu werden. Selbst wenn sie sich nicht an seine Züge erinnerten, seine Blessuren waren wahrhaft einmalig. Mit gesenktem Kopf belauschte er das hitzig geführte Gespräch.

 

»Ihr denkt doch nicht wirklich daran, einer Frau diese wichtige Aufgabe anzuvertrauen? Was versteht ein Weib von der Arbeit eines Schreibers? Darüber hinaus geht es um Staatsgeschäfte. Und überhaupt, irgendein Schreiber nützt uns nichts!«

»Das ist mir bewusst, werter Philipp.«

»Dann verstehe ich nicht, wie Ihr dieses Weibsbild …«

»Ihr werdet von Sophie Hagen mit mehr Respekt reden, Hirsch! Egal, welchen Ärger Ihr mit ihrem Mann haben mögt …«

Die Worte verklangen. Jakob widerstand der Versuchung, den Räten zu folgen. Langsamer erklomm er die ausladende Wendeltreppe und angesichts der Bücher verblasste Sophies Bild vor seinem inneren Auge. Wie im Traum nahm er die schiere Menge kostbarer Manuskripte in sich auf. Es mussten Tausende sein, eine Welt an Wissen und Kunst, die sich vor seinen Augen eröffnete. Wahllos blieb er vor einem der Regale stehen und las andächtig die Titel auf den Buchrücken. Er streckte den Finger aus und berührte Leder und Gold.

»Kann ich Euch helfen?«

Schuldbewusst ließ Jakob die Hand sinken und drehte sich um.

Der Mann ihm gegenüber schrak zurück. Er trug eine schwarze Robe mit weißer Halskrause, darüber schwebte ein knochiges Gesicht mit schmalen Augen. »Was wollt Ihr?«, fragte er eine Spur schärfer.

Jakob hob den Blick über den Kopf des Mannes und sah sich um. »Diese Bibliothek ist unbeschreiblich.«

»Das ist sie, aber Ihr seht nicht aus wie ein Mann, der die Bücher liebt.«

Verlegen zog Jakob die Hutkrempe tiefer. »Auch ein Bücherliebhaber kann in Situationen geraten, in denen Worte nicht helfen«, verteidigte er sich. »Ihr seid der Bibliothekar? Ich beneide Euch!«

Ein widerwilliges Lächeln kräuselte die Lippen des Mannes. »Aemilius Schostacius. Oder einfach Emil Schostak. Mit wem habe ich das Vergnügen?«

Jakob rang mit sich. »Jakob Liebig«, stellte er sich schließlich vor. Aufmerksam beobachtete er die Reaktion seines Gegenübers.

Der Bibliothekar legte den Finger an die Nase. »Liebig. Mir ist, als sollte ich den Namen kennen. Liebig …«

Jakob seufzte und starrte auf einen Lichtstreifen, in dem feine Staubpartikel tanzten. »Ich bin der Katholik.«

»Der Katholik, aha.« Schostak schmunzelte. »Ich weiß ja nicht viel von der Welt, aber ich dachte immer, es gäbe mehr als einen Katholiken auf Gottes schöner Erde. Nun, da habe ich mich wohl getäuscht.«

Jakob fühlte, wie ihm die Hitze in die Wangen stieg. »Ich …«

Schostak wedelte mit einer knochigen Hand. »Es wird mir schon einfallen. Und wenn nicht, dann ist es nicht wichtig. Ihr seid also ein katholischer Bücherfreund. Ich bin der Bibliothekar. Gott zum Gruß.«

»Darf ich mir ein Buch ausleihen?«, fragte Jakob und versuchte, sich seine Verwirrung nicht anmerken zu lassen.

Der Bibliothekar schüttelte entschieden den Kopf. »Nur ausgewählte Personen dürfen Bücher mitnehmen, alle anderen müssen hier lesen. Das sind die Regeln. Sie gelten für alle gleichermaßen. Studenten, Professoren, Katholiken. Und Räte.«

»Räte gehören also nicht zu den Auserwählten?«, meinte Jakob und nickte zu der Wendeltreppe hinüber.

Der Bibliothekar lächelte unergründlich, aber seine Augen blieben kalt. »In letzter Zeit erfreuen sich meine Schützlinge eines gesteigerten Interesses. Doch das bedeutet nicht, dass ich dieses Interesse gutheiße. Euch kann ich nicht einschätzen. Eines Eurer Augen ist das eines wahren Liebenden«, er ließ den langen Zeigefinger vor Jakobs rechtem Auge schweben, »das andere ist herzlos und gierig.« Der Finger kam Jakob so nahe, dass der gelbliche Nagel vor seinem Blick verschwamm.

Jakob wich zurück. »Fürchtet Ihr, all diese Werke könnten über Nacht abhandenkommen?«, scherzte er.

Der Bibliothekar tippte sich wieder an die Nase. »Wer weiß. Es gibt böse Mächte und böse Menschen. Im Übrigen liebe ich jeden meiner Schützlinge. Es ist egal, ob alle verschwinden oder nur einer.«

»Da habt Ihr sicher recht«, pflichtete Jakob bei. »Doch da ich nicht daran glaube, dass der Teufel sich für diese Bibliothek interessiert, bleiben die Menschen. Und nein, unbemerkt wird niemand diese Bücher stehlen können. Glaubt Ihr denn wirklich, die Bibliothek ist in Gefahr?«

»Und Ihr?«

Jakob zuckte mit den Schultern. »In Zeiten wie diesen wäre es vermessen, an Sicherheit zu glauben. Sogar hier in Heidelberg werden Menschen getötet. Wisst Ihr zufällig etwas darüber?«

Schostak schloss vorsichtig ein Buch, das aufgeschlagen auf einem der Pulte lag. Seine Handfläche ruhte sekundenlang auf dem prachtvollen Einband. »Mord interessiert mich herzlich wenig.«

»Dann sagt Euch der Name Kuno nichts?«

»Aber doch!«

Jakob blinzelte überrascht.

»Der Regensburger Bischof Kuno der II. lebte zu Zeiten Friedrich Barbarossas. Ob er allerdings ermordet wurde, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls ist er tot.«

Jakob verwandelte sein Auflachen in ein angemesseneres Husten. »Ich danke Euch für diese Auskunft.«

»Es freut mich, wenn ich Euch weiterhelfen konnte«, entgegnete der Bibliothekar höflich. »Wenn Ihr mich nun entschuldigen wollt, ich habe zu tun. Bücher sind unschuldig, Menschen nicht.« Behutsam hob er das Manuskript von dem Pult und trug es davon.

Noch einmal blickte Jakob verlangend die Empore entlang, doch er wollte Maxilius nicht über Gebühr reizen. In die Garnison wagte er nicht zurückzukehren, aber wenn er zu Pfarrer Hermeskeil ging, konnte er vielleicht den schlimmsten Sturm abwenden.

Während Jakob die Hauptstraße entlangschlenderte, schwelgte er immer noch in der Pracht der Bibliothek. Der Gedanke, dass diesen Schätzen etwas geschehen könnte, war unerträglich. Am Mitteltor, das die Altstadt von der Vorstadt trennte, spürte er erstmals, dass er verfolgt wurde. Er drehte sich um, sicher, dass Karius’ höhnische Fratze hinter ihm auftauchen würde, doch es waren nur einige harmlos erscheinende Spaziergänger. Jakob ging schneller. Nie war ihm so bewusst gewesen, dass er als Katholik unter Protestanten nicht sicher war. Gerne hätte er sich eingeredet, dass es umgekehrt anders gewesen wäre, aber er hatte Beweis genug, dass dem nicht so war. Er schauderte und rettete sich in die Erinnerung an die Bücher.

Die tief stehende Abendsonne schien ihm direkt ins Gesicht, als er den Herrengarten erreichte. Zu Hermeskeils Haus war es nicht mehr weit. Er schirmte die Augen ab, um sich zu orientieren, als ein Stein an seinem Kopf vorbeiflog und auf dem Pflaster landete.

Eine Kinderstimme krakeelte: »Wir kriegen dich, Katholik. Renn! Sonst fressen dich die Würmer.«

Ein Teil von Jakob wollte nichts lieber als rennen, doch er blieb stehen und drehte sich um. Seinen Fehler erkannte er, als hinter der Horde zerlumpter Kinder zwei kräftige Männer mit Knüppeln auftauchten. Sie hatten die Hüte tief in die Gesichter gezogen.

Auf der anderen Straßenseite tuschelten gut gekleidete Passanten, aber niemand griff ein. Jakob bezweifelte zwar, dass sie sich an einer Straßenschlacht oder einem Mord beteiligen würden, trotzdem setzte er seinen Weg so schnell fort, wie er konnte, ohne würdelos zu erscheinen. Beleidigungen der Kinder verfolgten ihn. Die beiden Männer blieben stumm.

Hermeskeils Wirtschafterin öffnete auf sein heftiges Klopfen. Sie starrte Jakob giftig an, als der die Tür krachend hinter sich schloss und mit dem Rücken dagegen sank.

»Guten Abend«, brachte er hervor. »Ich danke Gott, wieder hier zu sein.«