Ein fast perfekter Sommer in St. Agnes

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„Über vierzig Jahre lang habe ich hier mit meiner Frau gelebt“, erzählte Mister Winter, als sie über die breite geschwungene Treppe zum Erdgeschoss hinuntergingen, das mit Schachbrettfliesen ausgelegt war. Möbeltechnisch war das Haus beinahe ausgeräumt. Nur die Küche war vollwertig ausgestattet, in zwei Schlafzimmern standen Betten und im Wohnzimmer ein rotes Sofa. „Aber nach ihrem Tod erinnert mich zu viel an sie.“ Jack fasste nach dem Geländer und dachte an Carol. „Wissen Sie, ich habe Beth sehr geliebt.“

„Ich bedauere Ihren Verlust, Mister Winter.“

Der alte Mann blieb unten am Treppenabsatz stehen. Auch Jack und Leni hielten ein.

„Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass Sie ehrlich sind“, sagte Mister Winter.

„Ich habe keine Ahnung, was Sie meinen.“ Jacks unangenehmes Gefühl verstärkte sich.

„Doch, die haben Sie.“

„Tut mir leid, Sie sprechen in Rätseln.“

„Dagegen sind Sie wie ein offenes Buch für mich. Meine alten Geschichten interessieren Sie nicht die Bohne, habe ich recht?“ Der alte Mann schien die Beobachtungsgabe eines Luchses zu haben. Dabei hatte Jack gedacht, dass er leichtes Spiel hätte. „Nun, junger Mann, soll ich Ihnen alles aus der Nase ziehen? Oder warten wir darauf, dass sie wie bei Pinocchio wächst?“ Als hätte er Jack gerade ein Lob ausgesprochen, legte er ihm die Hand auf die Schulter. Sein unter dem Hut hervorquellendes Haar glänzte silbern im hereinfallenden Tageslicht wie sein Bart. Altersflecken prägten sein Gesicht und die Hände, die etwas zitterten. Wie der Mund, wenn er sprach. Die blauen Augen wirkten trüb, als hätte sich ein Schleier darübergelegt. Die Haut war faltig und zeugte von einem bewegten Leben. „Was haben Sie wirklich mit meinem Zuhause vor? Wollen Sie es umbauen und so verändern, dass man es nicht mehr wiedererkennt?“

„Wo denken Sie hin?“, log Jack. „Ich möchte alles so belassen wie es ist. Meine Tochter und ich werden uns hier bestimmt sehr wohlfühlen, denn ehrlich gesagt habe ich schon lange nach einem Sommerhaus wie diesem gesucht.“ Herrgott, dieser Mann brachte ihn langsam aber sicher in die Bredouille.

„Wo ist Ihre Frau, wenn ich mir die Neugier erlauben darf?“ Mister Winter zog die Hand von Jacks Schulter, der zu seiner Tochter schaute, die mit gesenktem Kopf dastand.

„Carol starb bei Lenis Geburt“, antwortete er leise. Meinetwegen, hämmerte es in seinem Inneren und er versuchte die Bilder zu verdrängen. Bilder, die ihm jede Nacht den Schlaf raubten und ihn auch untertags häufig verfolgten.

„Dann versprechen Sie mir in Carols Namen, dass Sie diese Villa in Ehren halten werden.“

Jack war wie vom Donner gerührt. „Lassen Sie meine Frau aus dem Spiel.“

„Das geht nicht.“ Mister Winter sah ihm streng in die Augen. „In diesen Mauern steckt ein halbes Leben. Eines voller Liebe und Vertrauen. Auch ein erfülltes. Meine zwei Mädchen sind hier aufgewachsen und haben im Garten geheiratet. Jede Einzelne. Weil sie den Zauber dieses Hauses nie vergessen haben. Egal, wohin das Leben sie geführt hat. Deshalb war es auch ihr Wunsch, dass ich es nur an jemandem verkaufe, der diese Liebe spüren kann. Als Sie Ihre Frau erwähnten, tat ich es. Aber Sie haben dieses Gefühl mit ihr begraben.“ Nun wurde sein Blick beschwörend. „Holen Sie es sich zurück, bevor Sie ein unglücklicher alter Mann werden.“

Hatten sich denn alle gegen ihn verschworen?

„Damit sind Sie bei Dad an der falschen Adresse.“, mischte sich Leni ein, wofür sie Jacks zornigen Blick erntete. „Was denn?“, schob sie zu allem Überfluss nach. Das war es dann wohl mit dem Geschäft!

Mister Winter lachte jedoch, was Jack überrascht zur Kenntnis nahm. „Ihre Tochter gefällt mir“, stellte er schließlich fest, nachdem er sich wieder beruhigt hatte. „Sie erinnert mich an meine Frau. Die ließ sich auch nie etwas sagen und hat mich in die unmöglichsten Situationen gebracht.“

„Wem sagen Sie das.“ Jack lächelte. Noch schienen die Felle nicht endgültig davongeschwommen zu sein.

„Steht Ihnen übrigens gut.“

„Was?“

„Wenn Sie lächeln. Das sollten Sie öfter tun. Wie alt sind Sie? Ende dreißig?“

„Ich bin vor einem Monat vierzig geworden.“ Jacks persönliche Grenze war schon bei Weitem überschritten. Andererseits, was tat man nicht alles für ein gutes Geschäft?

„Dann haben Sie genügend Zeit, um das Glück wiederzufinden“, meinte Mister Winter mit einem gespannten Schmunzeln. „Ich verkaufe Ihnen die Villa.“

Nun war Jack perplex. „Sind Sie sicher?“

„Ja, das bin ich. Weil ich fest daran glaube, dass Sie hierherkommen mussten, damit Ihr Herz wieder auftaut. Und das wird es, Mister Flatley. Ein Sommer in St. Agnes kann vieles verändern. Ich weiß, wovon ich spreche. Allerdings möchte ich im Vertrag, den Sie mir vorab geschickt haben, eine Passage hinzufügen.“

„Die da wäre?“ Jack schwante Böses.

„Sie müssen meine Putzfrau übernehmen. Das Mädchen ist eine Perle und hat es nicht leicht.“

„Ich brauche keine Putzfrau.“

„Irrtum. Das tun Sie. Sonst ist der Deal gestorben.“

„Eine Putzfrau ist doch super, Dad“, stellte sich Leni auf die Seite von Mister Winter und tauschte einen Blick mit ihm, als hätten sie die absurde Forderung gemeinsam von langer Hand geplant.

„Nun? Sind wir im Geschäft?“

Jack nickte widerwillig. „Meinetwegen. Ich füge die mündliche Vereinbarung händisch im Vorvertrag hinzu. Alles weitere machen unsere Anwälte.“

„Schön.“ Mister Winter grinste und zeigte eine Reihe gelber Zähne. „Es wird Ihnen in St. Agnes gefallen, mein Junge.“ Die vertraute Anrede berührte Jack. Aber nur kurz. Hier ging es um ein Geschäft. Nicht mehr und nicht weniger.

„Davon gehe ich aus“, murmelte Jack und schlug ein, als ihm Mister Winter die Hand entgegenstreckte.

„Dann lassen Sie uns unterzeichnen.“ Er drückte Jacks Hand, bevor er sie losließ. „Ich muss nämlich dringend zum Flughafen, ehe ich es mir anders überlege.“

„Wohin fliegen Sie?“, fragte Leni, die beinahe traurig klang. Dabei kannten sich die beiden kaum. Jack indes hatte eine leise Ahnung. Mister Winter verkörperte einen Großvater, wie man ihn sich vermutlich in Lenis Alter vorstellte. Gemütlich, bedächtig, gütig – vom Äußeren her ähnelte er Carols Dad Robert, den Leni viel zu selten zu Gesicht bekam, obwohl sie sehr an ihm hing. Doch bisher hatte Jack den Kontakt eher unterbunden, als ihn zu fördern. Auch auf den Rat seines Vaters hin, der das genaue Gegenteil war. Sogar in der Freizeit trug er Anzüge, war penibel, ordentlich und achtete auf gute Umgangsformen.

„Nach Berlin“, gab Mister Winter bereitwillig Auskunft, während sich Leni das Handy in die ausgebeulte Hosentasche schob. „Dorthin, wo ich aufgewachsen bin. Sozusagen eine letzte Reise in die Vergangenheit und zu meinen Wurzeln. Ein Gedanke, mit dem ich schon lange spiele. Bisher schreckte ich jedoch davor zurück. Angst vor der eigenen Courage nennt man das wohl. Manchmal sollte man aber über den eigenen Schatten springen und neue Wege gehen.“ Beim letzten Satz hatte er Jack angesehen, der sich fragte, ob sich Michael und der alte Mann hinter seinem Rücken ausgetauscht hatten. Allerdings verwarf er den Gedanken gleich wieder, weil er völlig abwegig war. Ferner war es sein Leben und das ging keinen von beiden etwas an!

Eine halbe Stunde später war Jack mit Leni alleine in der Villa und hatte sämtliche Anspielungen des alten Mannes wieder vergessen. Besser gesagt wurden sie von der Freude über das gelungene Geschäft verdrängt. Dem Wermutstropfen mit dem Passus maß Jack nicht allzu viel Bedeutung bei. Solche Schönheitsfehler konnte man ausmerzen, sein Dad fand immer Möglichkeiten. Das war bisher so gewesen und das würde auch in diesem Fall nicht anders sein. Außerdem war ein Abriss der beste Grund, um jemandem zu kündigen. Noch dazu hieß die Putzfrau Annie Murphy. Wenn es nicht zwei Frauen mit diesem Namen in St. Agnes gab, musste es sich um die Besitzerin des Geschäftshauses handeln, auf das er ein Auge geworfen hatte. Ohne diesen Job würde sie womöglich in finanzielle Schieflage geraten, was seinen Plänen mehr als entgegenkam. Tja, scheinbar hatten es Frauen namens Annie in Cornwall nicht leicht.

Ein Glas Champagner wäre jetzt genau das Richtige, denn das Schicksal meinte es gut mit ihm und während Jack einer Annie geholfen hatte, würde er der anderen den Gnadenstoß versetzen.

„Daddy?“ Leni zog ihn am Hemdärmel. Jack blieb vor der Küchentür stehen. „Hörst du mir eigentlich zu?“

„Natürlich“, schwindelte er.

„Dann bekomme ich wirklich eine YouTube-Ausstattung mit allem Drum und Dran?“ Ihre blauen Augen schimmerten feucht, als hätte er bereits zugesagt. Hatte er? „Oh, das wird klasse. Ich werde richtig durchstarten und zur einflussreichsten Influenza werden, die diese Welt je gesehen hat.“

„Noch ist das letzte Wort darüber nicht gesprochen“, wand sich Jack, der seiner Tochter kaum etwas abschlagen konnte. In diesem Fall lag die Sache jedoch etwas anders. Leni steckte mitten in der Pubertät und entwickelte sich langsam zur Frau. Auf der anderen Seite konnte sie ziemlich kindlich sein und war gesprächig wie eine Plaudertasche. Deswegen war abzusehen, dass sie alles über YouTube in die weite Welt hinausposaunen würde. Selbst ihre Auseinandersetzungen, die sich in der letzten Zeit häuften. Sogar dieses Geschäftsgespräch wäre nicht vor ihrem Plappermäulchen sicher. Von Bildern in Bikinis und Miniröcken ganz zu schweigen.

„Bitte!“ Leni zog ihren berühmt-berüchtigten Schmollmund. „Meine besten Freunde haben auch einen eigenen Kanal.“

„Welche Freunde meinst du? Die auf Facebook?“

„Ich habe schon über fünfhundert.“ Wie stolz sie aussah.

Jack ging in die Küche, die im Kolonialstil eingerichtet und mit den neuesten Geräten ausgestattet war. Sogar einen High-Tech-Induktionsherd gab es. Doch das war nichts gegen den antiken Holzherd, der den Mittelpunkt bildete. An der Wand darüber hingen ein paar Suppenkellen in verschiedenen Größen, ein Pfannenwender und ein Edelstahlsieb. Der abgewohnte Walnusstisch nahe den Fenstern bot Platz für mindestens zehn Personen. Die alten Dunkelholzstühle wiesen schöne Schnitzereien auf. Jacks Blick fiel auf jenen am oberen Ende, auf dem Mister Winter vorhin gesessen hatte. Ob das in den letzten vierzig Jahren sein Platz gewesen war?

 

„Die Lampen sind cool.“ Leni schaute zur Decke hinauf, während sie am Tisch vorbeiging. „Sie sehen aus wie Laternen.“

Auch Jack riskierte einen Blick. An einer Silberstange hingen drei Lampen herunter. Ganz hübsch, aber nicht sein Geschmack. Genauso wenig wie die Vorhänge mit dem Blumenmuster oder das violette Radio auf dem Fensterbrett. „Um darauf zurückzukommen: Facebook-Freunde sind keine richtigen Freunde, Leni.“

„Woher willst du das wissen, Dad? Du hast ja nicht einmal ein Profil.“

„Und trotzdem lebe ich noch“, blieb er bei seinem Standpunkt, denn diese Debatte hatten sie schon unzählige Male gehabt. „Als ich jung war, haben wir uns nicht in einer virtuellen Welt getroffen, sondern in der realen. Und wenn wir etwas gemocht haben, wurde es nicht geliked, sondern dem anderen gesagt. Ich wünschte, du könntest diese Zeit erleben, als es noch um echte Emotionen ging! Um wahre Freundschaften, die diese Bezeichnung auch verdient haben.“

„Echte Emotionen? Wahre Freundschaften? Ich sehe dich nur arbeiten, Dad.“

„Werd ja nicht frech!“

„Ich sag doch bloß“, mokierte sich Leni und setzte sich auf die marmorne Arbeitsfläche.

Jack blickte ermahnend zu seiner Tochter. „Außerdem hast du ständig dein Handy im Kopf. Das muss ein Ende haben, sonst werde ich es beschlagnahmen. Immerhin lassen deine schulischen Leistungen sehr zu wünschen übrig.“

Trotzig reckte sie das Kinn. „Steve Jobs hat es ohne Collegeabschluss geschafft. Mark Zuckerberg verließ angeblich Harvard und Präsident Lincoln soll die Schule kaum von innen gesehen haben. Dennoch haben alle Karriere gemacht.“

„Was sicherlich Respekt verdient. Allerdings ist das bestimmt nicht die Regel. Eine gute Ausbildung kann dir sämtliche Türen öffnen. Vor allem brauchst du sie jedoch, wenn du in meine Fußstapfen treten willst.“

„NB. Ich habe andere Zukunftspläne, Dad.“

„Du fängst jetzt nicht wieder mit der Schauspielschule an.“

„Und wenn?“ Herausfordernd blickte sie ihn an.

„Brotlose Kunst, mehr ist das nicht. Wovon willst du später einmal leben, wenn du keine Engagements hast? Von der Hand in den Mund?“

„Du könntest mich unterstützen, statt mir ständig alles madig zu reden.“

„Was meinst du konkret mit Unterstützung? Dass ich dir eine Wohnung bezahlen soll? Ein Auto, Essen und Kleidung? Hör mal, Leni, nur weil du einen reichen Vater hast, solltest du nicht davon ausgehen, dass du den goldenen Löffel bis ans Lebensende im Mund behalten wirst. Ich will Leistung sehen, dann können wir darüber sprechen, ob ich dir eventuell eine monatliche Finanzspritze zubillige.“ Jack hatte das Gefühl eines Déjà-vus. Ein ähnliches Gespräch hatte er selbst vor vielen Jahren mit dem Vater geführt. Nicht nur einmal. Allerdings war er älter gewesen als Leni, hatte aber wie sie plötzlich alles hinterfragt.

„Dein Geld brauche ich nicht, Dad. Ich schaffe es auch ohne dich.“

Ob sich sein Vater damals genau so hilflos gefühlt hatte? „Übrigens will Senta in ein paar Tagen nachkommen“, wechselte Jack das Thema, obwohl er im selben Moment wusste, dass er damit vom Regen in die Traufe sprang. Doch Senta gehörte nun mal zu ihrem Leben dazu.

Lenis Miene zog sich zusammen, als hätte sie in eine saure Zitrone gebissen. „Muss das sein? Ich dachte, dass nur wir beide Zeit in England verbringen.“

„Das tun wir ja, aber irgendwann solltest du den Unterricht wieder aufnehmen.“ Senta war Lenis Privatlehrerin. Eine attraktive Frau, die irgendwann zu seiner Lebensgefährtin wurde. „Obendrein weiß sie genau, was junge Mädchen mögen und ihr habt die Möglichkeit, euch auf andere Art und Weise kennenzulernen.“

„Ich mag Senta nicht.“ Eine Aussage, die er ständig von seiner Tochter hörte.

„Weil du ihr keine Chance gibst.“ Jack warf einen Blick aus dem Fenster. Am Horizont zogen Wolken heran. „Bei den vielen Kindermädchen, die ich für dich engagiert habe, hast du dich genauso bockig verhalten.“

„Die waren alle doof.“

„Natürlich sind wieder nur die anderen schuld.“ Warum gab es keine Gebrauchsanweisung für jedes Kind? „Wir sollten versuchen, uns irgendwie zu arrangieren“, verlegte er sich auf die sanftmütige Tour. „Immerhin werden Senta und ich bald heiraten.“ Jack klopfte an die Wand neben dem Fenster. Die Bausubstanz war gut. Kaum zu Ende gedacht, schüttelte er den Kopf. Und wenn in den Wänden riesige Löcher klaffen würden, konnte es ihm egal sein.

„Du beschließt zu heiraten und ich soll es stillschweigend akzeptieren. Wie ich mich dabei fühle, interessiert dich überhaupt nicht“, fauchte Leni.

„Du bist bald erwachsen und wirst deine eigenen Wege gehen. Senta ist eine wunderbare Frau. Gönnst du mir das Glück denn nicht?“

„Glück? Sie hat es nur auf dein Geld abgesehen!“

„Junge Dame, mäßige deinen Ton! Außerdem frage ich mich, wie du auf diese bösartige Unterstellung kommst.“

„Weil … weil …“ Leni hüpfte herunter und schaute ihn grimmig an. „Ach, vergiss es. Du würdest mir ohnehin nicht glauben. Wie immer.“

„So redest du nicht mit mir, verstanden? Schließlich bin ich dein Vater und kein kleiner Junge.“

„Du tust ja auch ständig so, als wäre ich noch ein kleines Kind.“

„Das bist du, wie man unschwer an deinem Verhalten erkennen kann.“

„Bestimmt nicht, denn einem Kind könntest du vielleicht weismachen, dass du dieses Haus behalten willst. Mir jedoch nicht. Wieso hast du den netten alten Mann angelogen? Du willst die Villa bestimmt abreißen, wie alle Häuser, die du kaufst.“

„Na und? Was spricht dagegen?“

„Die Geschichte, die Mister Winter erzählt hat. Und dass er dir wünscht, dass du wieder glücklich wirst. Er hat es nicht verdient, dass du ihn so hintergehst. So wie es viele nicht verdient haben, dass du ihnen etwas vormachst.“

„Du musst noch viel lernen, Leni. Vor allem, dass das Leben kein Märchen ist, sondern hart und schwierig sein kann. Wir müssen alle zusehen, wo wir bleiben.“

„Ich kann diesen Spruch nicht mehr hören und wenn ich mir überlege, wie du und Großvater Geschäfte macht, könnte ich kotzen.“ Kaum ausgesprochen lief sie aus der Küche.

„Du bist undankbar“, rief er ihr hinterher und ärgerte sich maßlos. Was glaubte seine Tochter denn, für wen er so hart schuftete? Immerhin führte sie ein gutes Leben und konnte sich vor Geschenken kaum retten, die schließlich nicht auf Bäumen wuchsen. Aber statt sich zu freuen, machte sie ihm das Leben schwer und verleidete ihm sogar die Beziehung mit Senta. Dabei bemühte sich seine Verlobte sehr um Leni, die ihr hingegen nur die kalte Schulter zeigte. Hoffentlich änderte sich das nach der Hochzeit. Immerhin waren sie dann eine Familie und würden zusammenleben. Allerdings wäre es vielleicht besser, wenn sie Leni nicht mehr unterrichtete, womit sie zumindest eine Konfliktsituation weniger am Hals hätten …

„Du liebe Zeit, da ist aber einiges los in Ihrem Leben“, drang Roses Stimme zu Annie durch, in die langsam wieder Leben kam. Sie saß mit den Frauen an einem runden Tisch, auf dem ein geklöppeltes Set lag. Darauf stand eine Glaskugel, vor Rose eine Porzellantasse mit hellblauem Blumenmuster, in die sie mit geweiteten Augen hineinstarrte, als würde Frankenstein darin seine Runden laufen. Besser konnte man ein Klischee nicht bedienen.

Ohnehin wirkte das Geschäft, als hätte man es gemäß der Serie Buffy – im Bann der Dämonen eingerichtet. Ein Regal mit alten verstaubten Büchern nahm eine ganze Wandseite ein. Überall brannten rote Kerzen und es roch nach einem seltsamen Kraut. Bilder mit okkulten Zeichnungen lagen verstreut herum und auf einer großen Truhe Kapuzenumhänge sowie einige Hüte. Auf einer Biedermeierkommode wurde eine geöffnete Schatulle zur Schau gestellt, in der sich ein antiker Revolver befand. Daneben stand ein Glas mit Silberkugeln und nahe dem Eingang lehnte ein Holzpfahl. Dass die Wände und der Bodenbelag in grellem Pink gehalten waren, setzte dem Ganzen die Krone auf.

„Suchen Sie Dracula? Oder Barbie?“, konnte Annie nicht umhin zu fragen, die sich ärgerte, dass sie sich von Minnie zu dieser Frau schleifen ließ.

„Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, als wir uns vorstellen können.“ Rose wollte ebenfalls nicht recht in das Bild des Geschäftes passen. Die Gute sah aus wie ein Marilyn Monroe-Verschnitt mit ihrem blonden kinnlangen Haar, das sich an den Spitzen lockte. Natürlich hatte sie das obligatorische Muttermal nahe den Lippen, das jedoch echt wirkte. Ihr Mund war rot wie das Kleid mit den weißen Längsstreifen, das vom Schnitt her an die Sixties erinnerte. Ohne Frage, sie hatte die Figur einer Zwanzigjährigen, die faltige Haut hingegen zeigte, dass diese Filmdiva längst in die Jahre gekommen war. „Sie sollten Ihren Horizont erweitern, junge Dame.“

So wurde Annie von Mrs. Wilde früher auch angesehen, wenn sie eine schlechte Note geschrieben hatte. „Nicht jeder kann mit solchen Dingen etwas anfangen.“

Minnie – die immer noch Annies Shortbread hielt – schaute Rose nachsichtig lächelnd an. „Die kleine Maus ist etwas neben der Spur.“

„Ich bin keine kleine Maus“, wehrte sich Annie.

„Gewiss, Schätzchen“, ließ Rose verlauten und schaute wieder in die Tasse. „Ich sehe tiefe Verletzungen.“

„Hat nicht jeder von uns Narben?“, zerstreute Annie diese Aussage postwendend.

„Natürlich. Aber Ihre sind frisch wie Fallobst.“

„Fallobst ist nicht frisch. Deshalb fällt es ja auch herunter.“ Sehnsüchtig blickte Annie zum Ausgang. Auf dem Glas prangte ein Schild. Geöffnet für alle Wunder dieser Welt. Für die Kehrseite fiel ihr spontan etwas ein: Geschlossen – weil es keine Wunder gibt.

„Hör ihr einfach zu“, bat Minnie, die das Shortbread auspackte und herzhaft hineinbiss.

„Das ist mein …“

„Schschsch!“ Rose legte sich den Zeigefinger an den schimmernden Mund. „Ich spüre eine fremde Energie im Raum.“ Plötzlich hob sie den Blick und musterte Annie, als würde sie sie zum ersten Mal sehen. „Ich kann ein Auto erkennen … es sieht lädiert aus.“

„Unser Alfa ist im Dorf bekannt wie ein bunter Hund“, gab Annie patzig von sich. „Und noch haben wir ihn nicht bestattet. Also kann er nicht im Jenseits sein.“

„Eine Energie zu spüren hat nichts mit den Welten zu tun, meine Teure. Außerdem meinte ich nicht Ihre Schrottkarre. Eher eine … Limousine. Eine weiße und da …“ Sie grinste auf einmal, als hätte sie soeben einen muskelbepackten Engel gesehen, während Annie an Flatley denken musste. Aber das konnte nur Zufall sein … „Was für ein Prachtbursche! Der erinnert mich an jemanden …“

„George Clooney?“, hakte Minnie kauend nach. Rose schüttelte den Kopf. „Kirk Douglas? John Wayne?“ Abermals schüttelte Rose den Kopf. „Dann fällt mir nur noch George Clarke ein, du weißt schon, der aus der Sendung Restauration-Man.“ Wie aufs Stichwort lehnten sich die Freundinnen aufseufzend zurück und erinnerten Annie stark an verliebte Teenager. „Von ihm würde ich mich gerne restaurieren lassen“, entschlüpfte es Minnie, die sich ordnend durch das dauergewellte Haar fuhr.

„Was du nicht nötig hast, meine Liebe.“ Wohlwollend wurde sie von Rose betrachtet, die ohnehin in höheren Sphären schwebte. Wie es aussah, trafen sich die beiden Mädels jedoch gerade auf derselben Ebene. Das wurde Annie allmählich zu bunt. Sie hatte andere Sorgen als sich dieses Gelaber anzuhören. Die gesamten Hiobsbotschaften des Tages mussten erst einmal verdaut werden. Allein – und nicht mit den Geistern, die sie nie gerufen hatte.

„Jedenfalls“, bemüßigte sich Rose weiterzureden, während sich Minnie den letzten Bissen in den Mund schob, „sehe ich Schnapsflaschen. Ihr Vater?“

„Was ebenfalls kein Geheimnis ist.“ Annie hätte am liebsten laut gelacht, wäre der Anlass nicht so traurig gewesen.

„Das wird sich alles fügen, junge Dame. Insbesondere werden Sie eine alte Liebe bald vergessen, denn ich sehe einen neuen Mann in ihrem Leben, wer immer dieser Adonis sein mag.“

 

„Von Männern habe ich die Schnauze voll.“

„Jetzt vielleicht. Dennoch wird er Ihr Herz im Sturm erobern.“

„Tatsächlich?“, flüsterte Minnie erstaunt. „Du weichst aber ziemlich von unserem Drehbuch ab … und bisher hast du kein Wort zu ihrer Mutter gesagt.“

„Was soll ich tun, wenn ich sie nicht sehen kann …“

Annie schaute von einer zur anderen. „Was wird das hier?“, rief sie aus, „ein abgekartetes Spiel? Habt ihr euch vorher überlegt, welche Geschichte ihr mir auftischt?“

„Du solltest dich mit deiner Mom aussöhnen“, wisperte Minnie und sank tiefer in den Stuhl.

„Sagt wer?“, erkundigte sich Annie mit säuerlichem Ton.

„Jeremy.“

„Steckt mein Onkel etwa mit euch unter einer Decke?“ Annie sprang vom Sessel auf und nahm ihre Tasche. „Sagt jetzt nicht, dass Jeremy diesen faulen Zauber unterstützt.“

„Ihr Onkel ist oft bei mir“, ergriff Rose das Wort, „sogar ein Mann Gottes braucht hin und wieder weltlichen Beistand.“

„Weltlichen Beistand, dass ich nicht lache! Aber schön. Nun weiß ich wenigstens, dass mein Onkel ein Geheimnisträger wie ein Nudelsieb ist. Das mit der weißen Limousine und diesem Typen habt ihr vermutlich ebenfalls von ihm.“

„Mit Jeremy habe ich nur über deine Mom gesprochen, wenn du es genau wissen willst“, erwiderte Minnie etwas verschnupft. „Was Rose vorhin meinte, ist mir schleierhaft.“ Es war grotesk, denn plötzlich grinste sie ihre okkulte Freundin an. „Du kannst tatsächlich im Kaffeesatz lesen. Scheinbar gibt es diesen Typen und die Limo.“

Rose verschränkte mit undefinierbarem Lächeln die Arme vor der Brust. „Und wie es den gibt. Jetzt weiß ich auch, an wen er mich erinnert. An einen Schauspieler. Scott …“ Sie blickte Annie in die Augen, die erstarrte. „Eastwood. Ein Sahneschnittchen, das Sie sich nicht entgehen lassen sollten, meine Liebe.“

„Diesen Unfug werde ich mir nicht länger anhören“, schimpfte Annie und eilte zum Ausgang. Nie wieder würde sie einen Fuß in dieses Geschäft setzen. Nie wieder!

Wie von Furien gehetzt öffnete sie die Tür, stürmte über die drei Steinstufen hinunter und wandte sich um, als sie plötzlich gegen ein junges Mädchen prallte.

„Aua! Können Sie nicht aufpassen?“, wurde Annie in der nächsten Sekunde angepflaumt.

„Entschuldige, ich habe dich nicht gesehen.“ Annie trat einen Schritt zurück und schaute dem Mädchen mit schlechtem Gewissen dabei zu, wie es sich an der Schulter rieb. „Habe ich dir wehgetan?“

„Nicht mehr als mein Dad.“ Auf einmal hatte die Kleine Tränen in den Augen.

„Hat er dich geschlagen?“, griff Annie zum Naheliegenden.

„Nein, so etwas würde Dad nie tun.“ Das Mädchen stopfte die Hände in die Hosentaschen. In ihren grellen Latzhosen war sie eine ziemlich auffällige Erscheinung. „Dazu müsste er mich erst wahrnehmen. Aber mein Vater kennt nur seine Arbeit.“

„Das tut mir leid.“ Wie es aussah, traf sich in St. Agnes derzeit das Schicksal jedweder Art. Als ob es alle dazu ermuntern würde, hierherzukommen, um sich seinen Teil abzuholen. Jedenfalls hatte sie das Mädchen nie zuvor gesehen. „Wie heißt du?“

„Leni.“

„Ein hübscher Name.“

Das Mädchen lächelte vage. „Danke. Und Sie?“

„Annie.“

„Auch ganz okay.“

Annie konnte sich nicht helfen, die Kleine kam ihr bekannt vor. „Bist du von zuhause weggelaufen?“

„Nein, ich mache nur einen Spaziergang.“

„Worüber deine Eltern informiert sind?“ Sie war bestimmt kaum älter als zwölf oder dreizehn Jahre.

Leni senkte den Blick. „Es wird nicht weiter auffallen, dass ich weg bin. Außerdem wollte ich in Ruhe telefonieren. Muss mein Dad nicht unbedingt mitkriegen.“

„Ein Junge?“ Annie dachte unweigerlich an Roger. Dieser Arsch!

„Nein“, entgegnete Leni und zog ein goldenes Handy aus der Hosentasche. Ein ähnliches hatte der Angeber von heute Morgen auch gehabt. „Ich schätze, der Mann ist bereits über siebzig oder so.“

„Du liebe Zeit, mit einem so alten Mann solltest du dich besser nicht einlassen.“

Jetzt grinste die Kleine. „Nicht, was Sie denken. Ich bin auf einer geheimen Mission. Und nun muss ich weiter, sonst fliegt er ab, ohne dass ich ihn warnen konnte.“ Schon lief Leni an ihr vorbei. Annie schaute ihr kopfschüttelnd nach, bis sie an der Ecke verschwunden war. Dann eilte sie ebenfalls weiter, denn sie wollte dorthin, wo sie einst so glücklich war.