Buch lesen: «Am Anfang war der Mord»
Inhaltsverzeichnis
Wenn Krimi und Bibel sich treffen – Einleitung
Am Anfang stand ein Mord – Kain und Abel
Kriminelles aus den besten Familien
Betrug an Bruder und Vater – Jakob, Isaak und Esau
Verwandte hinters Licht geführt – Jakob, Laban und Rahel
Mordanschlag und Menschenhandel – Josef und seine Brüder
Was Könige auf dem Kerbholz haben
Putschversuch mit Massenmord – Abimelech und die Männer von Sichem
Erpressung von Schutzgeld – David, Abigajil und Nabal
Von sexueller Nötigung zum Mord – David, Batseba und Urija
Vergewaltigung und Hochverrat – Amnon, Tamar und Abschalom
Das perfekte Justizverbrechen – Ahab, Isebel und Nabot
Kleinkriminalität mit großen Folgen
Der erste Mundraub der Weltgeschichte – Adam und Eva
Diebstahl an Gottes Eigentum – Achan und Josua
Betrug aus Habgier – Gehasi und Elischa
Unterschlagung und Betriebsschädigung – Ein reicher Mann und sein Verwalter
Sabotageakt im Weizenfeld – Ein Gutsherr und sein geheimnisvoller Widersacher
Skrupellose Anschläge, schutzlose Opfer
Vergewaltigung mit grausamer Rache – Dina und Sichem
Erpressung und Verleumdung – Susanna und die falschen Richter
Raubüberfall mit Körperverletzung – Ein Verbrechen auf offener Straße
Gemeinschaftlich begangener Mord – Die bösen Weinbergspächter
Mordanschlag auf einen Gefangenen – Eine Verschwörung gegen Paulus
Verbrechen von Staats wegen
Königlich befohlener Massenmord – Der Pharao und die Israeliten in Ägypten
Politische Verfolgung eines Oppositionellen – Jeremia und die Minister Zidkijas
Verfolgung aus religiösen Gründen – Nebukadnezzar und seine jüdischen Provinzaufseher
Ein staatlich geplanter Genozid – Xerxes, Haman und Ester
Organisiertes Massaker an Säuglingen – Der Kindermord des Herodes
Leser, übernehmen Sie! – Der Fall Jesus
Gottes Krimirolle – Nachwort
Impressum
Wenn Krimi und Bibel sich treffen
Einleitung
Warum mögen wir Krimis? Was reizt uns an Büchern oder Filmen, in denen Untaten begangen und Verbrechen verfolgt werden? Warum betrachten wir das, was uns in Wirklichkeit eher abschreckt oder Angst macht, mit größter Faszination, wenn es uns zwischen zwei Buchdeckeln oder auf dem Bildschirm begegnet?
Der Reiz von Krimis für Menschen jeden Alters und aus allen gesellschaftlichen Gruppen hat viele Gründe. Zu den wichtigsten gehört natürlich die Spannung. Wir fragen uns: Wer ist der Täter? Wie ging die Tat vonstatten? Wird er – oder seltener: wird sie – geschnappt? Wir rätseln mit, wenn es um die Aufklärung des Falles geht, und fiebern mit bei der abschließenden Verfolgungsjagd. Wir selbst jagen die Täter vom Lesesessel oder vom Wohnzimmersofa aus und lassen nicht locker, bis sie hinter Schloss und Riegel sind.
Spannend muss ein Krimi also sein, aber Spannung ist nicht alles. Von einem guten Krimi erwarten wir nicht nur, dass er uns auf die Folter spannt, sondern auch, dass er uns Einblick in das Denken und Fühlen interessanter Personen vermittelt. Von den Menschen, denen wir begegnen, wollen wir mehr erfahren, als was sie tun, um ein Verbrechen zu vertuschen oder aufzuklären. Wir wollen sie als Charaktere kennen lernen, mit ihren Meinungen, Motiven und Marotten. Gute Krimis sind deshalb immer auch Psychogramme. Sie zeichnen Menschen mit ihren Stärken und Schwächen, beschreiben nicht nur, was sie tun, sondern lassen auch erkennen, was sie dazu bringt. Das gilt für die Seite der Kriminellen ebenso wie für die der Kriminalisten. Hier wie dort erlauben Krimis einen Blick in das Innere von Menschen, die – jeweils auf ihrem Gebiet – zu Außergewöhnlichem fähig sind.
Nicht weniger als das Innere der dargestellten Personen erkunden Krimis das Innere von sozialen Beziehungen. Lesend oder zuschauend erleben wir, wie zwischenmenschliche Konflikte zu Verbrechen führen oder kriminelle Untaten aus gesellschaftlichen Missverhältnissen erwachsen. Ebenso wichtig ist das Soziale bei der Aufklärung und Ahndung von Verbrechen. Wenn Kommissar(in) und Tatverdächtige(r) sich gegenübersitzen, geht es immer auch um ihr zwischenmenschliches Verhältnis, wenn sich die Zellentür hinter einem Überführten schließt, immer auch um ein gesellschaftliches Interesse. Nicht von ungefähr entwickeln sich gute Krimis deshalb oft zu kleinen Sozialstudien.
Schließlich gehört zum besonderen Reiz von Krimis, dass sie uns entlasten. Das scheint zunächst der fesselnden Wirkung während der Lektüre zu widersprechen, gilt aber nichtsdestotrotz. Denn zum einen müssen am Ende ja nicht wir vor den Richter treten, selbst wenn wir im Geiste mit von der Partie waren. Zum anderen enden Kriminalgeschichten in der Regel mit der Aufklärung des Falles und gönnen uns damit das Gefühl, dass die chaotische Welt, in der wir leben, doch noch durchschaut und die Störungen ihres Gleichgewichts wieder in Ordnung gebracht werden können. Auch wenn dafür besonders scharfsinnige Kommissare und außergewöhnlich tatkräftige Ermittlerinnen nötig sind, scheint letztlich doch garantiert, dass Aufrichtigkeit siegt und dem Unrecht Einhalt geboten wird. So sehr Krimis durch ihre spannende Handlung den Pulsschlag in die Höhe treiben, so sehr tragen sie mit dieser Wirkung zugleich zur Stabilisierung unseres Gefühlshaushaltes bei. Die Aufputschwirkung bei der Lektüre entlädt sich in einem erleichterten Aufatmen, wenn wir den Buchdeckel zuklappen oder den Fernseher ausknipsen.
Spannung, psychologische und soziologische Tiefenschärfe sowie moralische Sinnstiftung – die Kriminalgeschichten der Bibel haben in diesen Punkten nicht weniger zu bieten als die Krimis unserer Tage. Auch wenn nicht jede von ihnen alle diese Ansprüche gleichermaßen erfüllt, lohnt sich ihre Lektüre auch mehr als 2000 Jahre nach ihrer Entstehung. Allein die große Anzahl biblischer Geschichten, in denen Verbrechen begangen und aufgeklärt werden, müsste Krimifreunde aufmerken lassen. Die vorliegende Auswahl von 25 Texten deckt das Feld noch keineswegs vollständig ab. Vom kleinen Eigentumsdelikt bis hin zum staatlich geplanten Massenmord reicht die Bandbreite der erzählten Vergehen, von Gier über Eifersucht und Hass bis zum politischen Kalkül die Liste der Tatmotive. Könige finden sich ebenso unter den Tätern wie Straßenräuber, schutzlose Frauen gehören genauso zu den Opfern wie eifrige Propheten. Streckenweise liest sich die Bibel fast wie eine Kriminalgeschichte der Menschheit.
Um Tathergang und Identität des Täters machen die biblischen Geschichten im Unterschied zu vielen Krimis unserer Tage meist kein Geheimnis. Oft sehen wir selber lesend zu, wie das Verbrechen begangen wird. Die kriminalistische Spannung der Erzählungen speist sich dann vor allem aus der Frage, ob und wie der Täter entdeckt und durch wen er zur Rechenschaft gezogen wird. In zahlreichen Fällen nimmt Gott selbst oder ein von ihm Beauftragter die Ermittlungen auf. Vielfältig und ausgefallen sind die Methoden, die dabei zum Einsatz kommen. Die für den Krimi typische Höchstleistung des Kommissars steigert sich teilweise bis in den Bereich des Wunderbaren.
Woher kommt das »kriminalistische« Engagement Gottes, das diese Geschichten erkennen lassen? Nach dem Zeugnis der Bibel entspringt es vor allem seinem Gerechtigkeitssinn. Gott fühlt sich durch das von Menschen begangene Unrecht persönlich herausgefordert und zum Eingreifen gedrängt. Denn schließlich ist jedes Verbrechen auch ein Aufstand gegen den, der den Menschen das Leben geschenkt und ihnen Regeln für ein friedliches und gerechtes Zusammenleben gegeben hat. Die kriminelle Untat bedeutet deshalb immer auch ein Vergehen gegen Gott. Im Kern spiegelt sich somit in jedem Kriminalfall jener erste Fall wider, der die Menschen das Paradies gekostet hat: der Sündenfall.
Um seiner selbst willen wie um der Opfer willen kann Gott das Unrecht nicht einfach ignorieren. Dennoch werden in der Bibel nicht alle Verbrechen sofort durch ihn gesühnt. Manchmal wird der Täter gar nicht ermittelt, manchmal verzichtet Gott bewusst auf die Strafverfolgung und lässt den Dingen ihren Lauf. Das hängt dann meist mit seinen weiter gehenden Plänen zusammen. Trotzdem ist es in den Kriminalgeschichten der Bibel Gott, der in allem kriminellen Chaos die Aufrechterhaltung von Ordnung verbürgt und sichert. Er kommt noch dem raffiniertesten Verbrecher auf die Schliche, vor seinem plötzlichen Zugriff ist kein Täter sicher. Damit stärkt die Bibel im Unterschied zu vielen heutigen Krimis das Vertrauen in einen endlichen Sieg des Guten und der Gerechtigkeit nicht einfach durch den glücklichen Ausgang ihrer Kriminalgeschichten, sondern indem sie mit diesen Geschichten auf die Macht und das heilschaffende Wirken Gottes verweist. Dies gilt auch dort, wo sich Gottes Handeln nicht unmittelbar in der Ahndung eines Verbrechens zeigt, sondern wo er dem Bösen Raum und Zeit lässt. Auch mit diesen Geschichten will die Bibel letztlich das Vertrauen stärken, dass Gott die Welt trotz aller menschlichen Untaten nicht im Stich lässt, sondern den endzeitlichen Sieg des Guten und der Gerechtigkeit garantiert.
Der Graben, der uns wegen Veränderungen in gesellschaftlichen Verhältnissen, religiösen Bräuchen, moralischen Vorstellungen und rechtlichen Bestimmungen von den biblischen Kriminalgeschichten trennt, ist also kleiner, als es zunächst scheinen mag. Nicht nur, dass sie uns als spannende Krimis unmittelbar ansprechen; als Erzählungen von Schuld und Sühne, von menschlichem Vergehen und göttlicher Gerechtigkeit behandeln sie auch Grundfragen unseres Daseins. Zum einfacheren Verständnis können einige Hintergrundinformationen hilfreich sein, die jeweils innerhalb der kurzen Einleitungen zu den folgenden Bibeltexten gegeben werden. Wenn durch sie das unmittelbare Verstehen der Situation erleichtert ist, können Handlung, Personal und Pointen ihren Reiz umso direkter entfalten. Der theologische Gehalt der Geschichten erlaubt es dann, dass man beim Lesen nicht nur einem Verbrechen, sondern zugleich sich selbst auf die Spur kommt, dass man nicht nur einen Fall löst, sondern auch den eigenen Fall entdeckt. Deshalb können Menschen, die als Leserinnen oder Leser von Kriminalgeschichten zwangsläufig auf der Suche nach Klarheit und Sinn sind, in diesen Geschichten auch Sinn und Orientierung für ihr eigenes Leben finden.
Am Anfang stand ein Mord
Kain und Abel
Am Anfang der Menschheitsgeschichte steht nach dem Zeugnis der Bibel ein Mord; schlimmer noch: ein Brudermord. Kain erschlägt seinen Bruder Abel. Wie es dazu kommt, wird nur mit ganz wenigen Sätzen erzählt. Am Motiv bleibt trotzdem kein Zweifel: Eifersucht. Obwohl die Tat zunächst wie eine Handlung im Affekt aussieht, ist sie in Wahrheit ein genau geplantes Verbrechen. Kain lockt Abel gezielt an einen Ort, wo er ihn ohne Zeugen umbringen kann. Damit geht es in diesem Fall nicht nur um Totschlag, sondern um Mord, vorsätzlich und mit Bedacht ausgeführt.
Dass in der Bibel schon das erste Bruderpaar der Menschheit auf diese Weise ein Opfer der Gewalt wird, lässt tief blicken. Es zeigt, dass der Mensch von Anfang an und also von seiner Natur her in der Gefahr steht, das Zusammenleben mit seinem Nächsten gewaltsam zu stören und zu zerstören. Diese Gefahr hängt wie ein Schwert am seidenen Faden über jeder menschlichen Beziehung, weil der Mensch zum Bösen fähig ist und es nicht immer schafft, der Verführung zum Verbrechen zu widerstehen. Untaten wie den von Kain verübten Brudermord will die Geschichte damit keineswegs entschuldigen. Sie will sie vielmehr als eine menschliche Realität vor Augen führen, mit der man rechnen und auf die man reagieren muss.
Wie der Fortgang der Geschichte zeigt, gilt das auch für Gott. Auch er muss sich mit diesem Verbrechen auseinandersetzen, auch seine Reaktion ist gefragt. Nach dem Verschwinden Abels tritt er als Ermittler auf den Plan und löst den Fall im Handumdrehen. Im Anschluss an ein extrem kurzes Verhör sagt er dem Täter den Mord auf den Kopf zu.
Die Geschichte von Kain und Abel ist also eine Art Kurzkrimi, in dem Tatmotiv, Tatvorbereitung, Tatausführung, Täterverfolgung und Täterermittlung nur in äußerster Knappheit geschildert werden, die aber zugleich im Brudermord als »Urverbrechen« der Menschheit die ganze Geschichte menschlicher Kriminalität zusammenfasst. Dass Gott in diesem Fall selbst die Strafverfolgung übernimmt, ist keineswegs ein Zufall. Als Schöpfer allen Lebens ist er vielmehr durch den Mord an Abel direkt mit getroffen, denn das Leben, das er Abel geschenkt hatte, wurde durch Kain mutwillig ausgelöscht.
Selbst noch in seiner Strafe für Kain erweist sich Gott als Anwalt des Lebens – nicht nur, weil er diesem sein Leben belässt, sondern auch, weil er ihn zusätzlich durch ein besonderes Zeichen vor der Tötung durch andere bewahrt. Ohne den Schutz einer Gemeinschaft hätte diese ihm sonst sofort gedroht. Nicht Rache und Vergeltung sind also der Maßstab für Gottes Strafe, sondern der Schutz des Lebens, selbst noch des Mörders.
Aus heutiger Sicht mag man vielleicht das Recht auch dieser Strafe noch in Frage stellen und mildernde Umstände für Kain geltend machen. Immerhin ist er selbst das Opfer einer verletzenden Ungleichbehandlung durch Gott geworden. Warum reagierte Gott auch so unterschiedlich auf die Opfer der beiden Brüder? – Die biblische Geschichte gibt auf diese Frage keine Antwort. Sie lässt sie aber auch nicht als Ausrede für Kain gelten. Ihr geht es um das Faktum des Verbrechens. Dieses darf nicht folgenlos bleiben, und deshalb schaltet sich Gott selbst in den Fall ein, nachdem er Kain zuvor schon gewarnt hatte. Die Geschichte als ganze zeigt: Auch wenn Gottes Warnungen fruchtlos bleiben, auch wenn es dem Menschen nicht gelingt, Herr über die Sünde zu sein, bleibt Gott doch der Herr des menschlichen Lebens, für das er noch über den Tod hinaus eintritt. (1.Mose/Genesis 4,1-16)
Adam schlief mit seiner Frau Eva, und sie wurde schwanger. Sie brachte einen Sohn zur Welt und sagte: »Mit Hilfe des HERRN habe ich einen Mann hervorgebracht.« Darum nannte sie ihn Kain.
Später bekam sie einen zweiten Sohn, den nannte sie Abel. Abel wurde ein Hirt, Kain ein Bauer.
Einmal brachte Kain von seinem Ernteertrag dem HERRN ein Opfer. Auch Abel brachte ihm ein Opfer; er nahm dafür die besten von den erstgeborenen Lämmern seiner Herde. Der HERR blickte freundlich auf Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer schaute er nicht an.
Da stieg der Zorn in Kain hoch und er blickte finster zu Boden. Der HERR fragte ihn: »Warum bist du so zornig? Warum starrst du auf den Boden? Wenn du Gutes im Sinn hast, kannst du den Kopf frei erheben; aber wenn du Böses planst, lauert die Sünde vor der Tür deines Herzens und will dich verschlingen. Du musst Herr über sie sein!«
Kain aber sagte zu seinem Bruder Abel: »Komm und sieh dir einmal meine Felder an!«
Und als sie draußen waren, fiel er über seinen Bruder her und schlug ihn tot.
Der HERR fragte Kain: »Wo ist dein Bruder Abel?«
»Was weiß ich?«, antwortete Kain. »Bin ich vielleicht der Hüter meines Bruders?«
»Weh, was hast du getan?«, sagte der HERR. »Hörst du nicht, wie das Blut deines Bruders von der Erde zu mir schreit? Du hast den Acker mit dem Blut deines Bruders getränkt, deshalb stehst du unter einem Fluch und musst das fruchtbare Ackerland verlassen. Wenn du künftig den Acker bearbeitest, wird er dir den Ertrag verweigern. Als heimatloser Flüchtling musst du auf der Erde umherirren.«
Kain sagte zum HERRN: »Die Strafe ist zu hart, das überlebe ich nicht! Du vertreibst mich vom fruchtbaren Land und aus deiner schützenden Nähe. Als heimatloser Flüchtling muss ich umherirren. Ich bin vogelfrei, jeder kann mich ungestraft töten.«
Der HERR antwortete: »Nein, sondern ich bestimme: Wenn dich einer tötet, müssen dafür sieben Menschen aus seiner Familie sterben.«
Und er machte an Kain ein Zeichen, damit jeder wusste: Kain steht unter dem Schutz des HERRN. Dann musste Kain aus der Nähe des HERRN weggehen. Er wohnte östlich von Eden im Land Nod.
Kriminelles aus den besten Familien
Vor dem Hintergrund der Kain-und-Abel-Geschichte trägt jeder Mord eines Menschen an einem anderen die Züge eines Brudermordes. Dennoch fällt das Verbrechen innerhalb der eigenen Familie auch in der Bibel aus allen Untaten heraus. Dass Menschen, die in täglicher Gemeinschaft zusammenleben, einander befeinden, betrügen und sogar Gewalt gegeneinander anwenden, war zu biblischer Zeit ebenso wenig eine Seltenheit wie heute. Doch auch damals schon galten Verbrechen im Familienkreis als besonders gravierend. Sie missachteten die Bande, die durch gemeinsame Abstammung und tägliches Zusammenleben begründet werden, und verstießen gegen das Gebot einer umfassenden Solidarität gegenüber den eigenen Familienangehörigen.
Auffallend ist an den Geschichten der hebräischen Bibel, des christlichen Alten Testaments, dass sie Untaten gegenüber Geschwistern, Eltern und Verwandten nicht nur irgendwelchen Fremden zur Last legen, sondern von entsprechenden Fällen auch in den Familien der Urahnen des Volkes Israel erzählen. Gegen jede Tendenz zur Beschönigung und Idealisierung wird hier festgehalten, dass auch die Menschen, auf die man die eigene Abstammung zurückführt, anfällig für Betrug und Verbrechen waren. Das gilt für den Erzvater Jakob ebenso wie für dessen Söhne. Und auch die Frauen spielen in diesem Zusammenhang eine nicht unbedeutende Rolle.
Betrug an Bruder und Vater
Jakob, Isaak und Esau
Das erste Buch der Bibel hängt an die Erzählungen aus der Urgeschichte der Menschheit, zu denen die Geschichte von Kain und Abel gehört, die Anfangsgeschichte des von Gott erwählten Volkes, des Volkes Israel an. Hier tauchen die berühmten Ahnherren und Ahnfrauen auf, von Abraham und Sara über Isaak und Rebekka bis hin zu Jakob, Rahel und Lea. Im Mittelpunkt der Erzählungen steht die Erwählung dieser Personen durch Gott. Damit geht es indirekt zugleich um das besondere Gottesverhältnis des Volkes Israel, das sich auf diese Erzeltern zurückführt.
Beim Übergang von der zweiten zur dritten Generation der Urahnen Israels kommt es zu einem Konflikt, der kriminelle Ausmaße annimmt. Jakob, der jüngere Sohn Isaaks, macht seinem älteren Bruder Esau das Erstgeburtsrecht und damit den väterlichen Segen streitig. Mit diesem Segen wird aber zugleich der Segen Gottes weitergegeben, den Jakobs Großvater Abraham und sein Vater Isaak von Gott selbst erhielten. Beim Streit um diesen Segen geht es also auch darum, welcher der beiden Söhne und damit wer von den Nachkommen künftig auf die besondere Zuwendung Gottes zählen kann. Indirekt spiegelt sich in der Geschichte von Jakob und Esau die Rivalität der beiden Nachbarvölker Israel und Edom wider, die in der Bibel auf die beiden Erzväter zurückgeführt werden.
Das sich nun abspielende Kriminaldrama hat zwei Akte. Im ersten Akt nutzt Jakob eine Notsituation seines Bruders Esau aus, um diesem sein Erstgeburtsrecht abzuhandeln; doch damit hat er noch nicht den Segen. Den erschleicht er sich später mit Hilfe seiner Mutter Rebekka, die als Anstifterin und Drahtzieherin im Hintergrund ihren Lieblingssohn auf die Idee eines raffinierten Betruges bringt. Obwohl Isaak Verdacht schöpft und einigen detektivischen Spürsinn aufwendet, um die Situation zu durchschauen, kann sich Jakob den väterlichen Segen ergaunern. Esau, der zu spät merkt, was gespielt wird, hat das Nachsehen, da nach damaligem Verständnis der Segen mit dem Akt des Aussprechens wirksam wird und weder zurückgenommen noch einer anderen Person erneut zugesprochen werden kann. Er sinnt deshalb auf Rache, der Jakob nur durch eine von Rebekka geplante Flucht entgehen kann.
Die biblische Geschichte stellt die Handlung Jakobs ohne alle Beschönigung als das dar, was sie ist: ein verwerflicher Betrug, der mit Hinterlist und Heimtücke ausgeführt wird. Mit der Berufung auf die angebliche Hilfe Gottes treibt Jakob sein falsches Spiel auf die Spitze. Dennoch ahndet Gott in diesem Fall das Vergehen nicht, sondern lässt den Dingen ihren Lauf. Die Bibel erklärt dies damit, dass das Ergebnis des Betrugs in Gottes Heilsplan passt, in dem ohnehin Jakob der von Gott auserwählte der beiden Brüder war. Die Tat selbst wird dadurch allerdings nicht gerechtfertigt. Das zeigt sich unter anderem daran, dass Jakob selbst Gewissensbisse wegen seines Betrugs plagen und er seinem Bruder kaum noch einmal unter die Augen zu treten wagt. Erst die Großherzigkeit, mit der Esau Jakob bei einer späteren Begegnung selbst verzeiht, bringt die Sache wieder in Ordnung. (1.Mose/Genesis 25,27-34; 27,1-45)
Isaaks Kinder wuchsen heran. Esau wurde ein Jäger, der am liebsten in der Steppe umherstreifte. Jakob wurde ein häuslicher, ruhiger Mensch, der bei den Zelten blieb. Ihr Vater, der gerne Wild aß, hatte eine Vorliebe für Esau; Jakob aber war der Liebling der Mutter.
Als Esau einmal erschöpft nach Hause kam, hatte Jakob gerade Linsen gekocht.
»Gib mir schnell etwas von dem roten Zeug da, dem roten«, rief Esau, »ich bin ganz erschöpft!«
Daher bekam Esau den Beinamen Edom.
Jakob sagte: »Nur wenn du mir vorher dein Erstgeburtsrecht abtrittst!«
»Ich sterbe vor Hunger«, erwiderte Esau, »was nützt mir da mein Erstgeburtsrecht!«
»Das musst du mir zuvor schwören!«, sagte Jakob.
Esau schwor es ihm und verkaufte so sein Erstgeburtsrecht an seinen Bruder. Dann gab ihm Jakob eine Schüssel gekochte Linsen und ein Stück Brot. Als Esau gegessen und getrunken hatte, stand er auf und ging weg. Sein Erstgeburtsrecht war ihm ganz gleichgültig.
Isaak war alt geworden und konnte nicht mehr sehen. Da rief er eines Tages seinen älteren Sohn Esau zu sich und sagte: »Mein Sohn!«
»Ja, Vater?«, erwiderte Esau.
Isaak sagte: »Ich bin alt und weiß nicht, wie lange ich noch lebe. Deshalb nimm Pfeil und Bogen, jage ein Stück Wild und bereite mir ein leckeres Gericht, wie ich es gern habe. Ich will mich stärken, damit ich dich segnen kann, bevor ich sterbe.«
Rebekka hatte das Gespräch mit angehört. Als Esau gegangen war, um für seinen Vater das Wild zu jagen, sagte sie zu Jakob: »Ich habe gehört, wie dein Vater zu deinem Bruder Esau sagte: ›Jage mir ein Stück Wild und bereite mir ein leckeres Gericht! Ich will mich stärken und dich segnen, bevor ich sterbe.‹ Darum hör auf mich, mein Sohn, und tu, was ich dir sage: Hol mir von der Herde zwei schöne Ziegenböckchen! Ich werde daraus ein leckeres Gericht bereiten, wie es dein Vater gern hat. Das bringst du ihm dann, damit er dich vor seinem Tod segnet.«
»Aber Esaus Haut ist behaart und meine ist glatt«, erwiderte Jakob. »Wenn mich nun mein Vater betastet, merkt er den Betrug, und statt mich zu segnen, verflucht er mich.«
Doch seine Mutter beruhigte ihn: »Der Fluch soll auf mich fallen, mein Sohn! Tu, was ich dir gesagt habe, und bring mir die Böckchen!«
Jakob holte sie, und seine Mutter bereitete ein Gericht zu, wie sein Vater es gern hatte. Darauf holte Rebekka das Festgewand Esaus, ihres Älteren, das sie bei sich aufbewahrte, und zog es ihrem jüngeren Sohn Jakob an. Die Felle der Böckchen legte sie ihm um die Handgelenke und um den glatten Hals. Dann gab sie ihm das leckere Fleischgericht und dazu Brot, das sie frisch gebacken hatte.
Jakob ging zu Isaak ins Zelt und sagte: »Mein Vater!«
»Ja«, sagte Isaak; »welcher von meinen Söhnen bist du?«
»Esau, dein Erstgeborener«, antwortete Jakob. »Ich habe deinen Wunsch erfüllt. Setz dich auf und iss von meinem Wild, damit du mich segnen kannst.«
»Wie hast du so schnell etwas gefunden, mein Sohn?«, fragte Isaak.
Jakob erwiderte: »Der HERR, dein Gott, hat es mir über den Weg laufen lassen.«
»Tritt näher«, sagte Isaak, »ich will fühlen, ob du wirklich mein Sohn Esau bist.«
Jakob trat zu seinem Vater. Der betastete ihn und sagte: »Die Stimme ist Jakobs Stimme, aber die Hände sind Esaus Hände.«
Er erkannte Jakob nicht, weil seine Hände behaart waren wie die seines Bruders. Darum wollte er ihn segnen. Aber noch einmal fragte Isaak: »Bist du wirklich mein Sohn Esau?«
Jakob antwortete: »Ja, der bin ich.«
»Dann bring mir das Gericht!«, sagte Isaak. »Ich will von dem Wild meines Sohnes essen und ihn dann segnen.«
Jakob gab ihm das Gericht und sein Vater aß, dann reichte er ihm Wein und er trank. Darauf sagte Isaak: »Komm her, mein Sohn, und küsse mich!«
Jakob trat heran und küsste ihn. Isaak roch den Duft seiner Kleider, da sprach er das Segenswort: »Mein Sohn, du duftest kräftig wie die Flur, wenn sie der HERR mit seinem Regen tränkt. Gott gebe dir den Tau vom Himmel und mache deine Felder fruchtbar, damit sie Korn und Wein in Fülle tragen! Nationen sollen sich vor dir verneigen, und Völker sollen deine Diener werden. Du wirst der Herrscher deiner Brüder sein, sie müssen sich in Ehrfurcht vor dir beugen. Wer dich verflucht, den soll das Unglück treffen; doch wer dir wohl will, soll gesegnet sein!«
So segnete Isaak seinen Sohn Jakob. Kaum aber war er damit fertig und kaum war Jakob aus dem Zelt gegangen, da kam auch schon sein Bruder Esau von der Jagd zurück. Auch er bereitete ein leckeres Gericht, brachte es zu seinem Vater und sagte: »Mein Vater, setz dich auf und iss von meinem Wild, damit du mich segnen kannst!«
»Wer bist denn du?«, fragte Isaak. »Dein Sohn Esau, dein Erstgeborener«, war die Antwort.
Da begann Isaak vor Schreck heftig zu zittern. »Wer?«, rief er. »Wer war dann der, der soeben von mir ging? Er hat ein Wild gejagt und es mir gebracht, und ich habe davon gegessen, bevor du kamst. Ich habe ihn gesegnet und kann es nicht mehr ändern – er wird gesegnet bleiben!«
Esau schrie laut auf, als er das hörte, voll Schmerz und Bitterkeit. »Vater«, rief er, »segne mich auch!«
Aber Isaak erwiderte: »Dein Bruder ist gekommen und hat dich mit List um deinen Segen gebracht.«
»Zu Recht trägt er den Namen Jakob«, sagte Esau. »Schon zum zweiten Mal hat er mich betrogen: Erst nahm er mir das Erstgeburtsrecht und jetzt auch noch den Segen. Hast du denn keinen Segen mehr für mich übrig?«
Isaak antwortete: »Ich habe ihn zum Herrscher über dich gemacht; alle seine Brüder müssen ihm dienen. Mit Korn und Wein habe ich ihn reichlich versehen. Was bleibt mir da noch für dich, mein Sohn?«
Esau sagte: »Hast du nur den einen Segen, Vater? Segne mich auch!«
Und er begann laut zu weinen.
Da sagte Isaak: »Weit weg von guten Feldern wirst du wohnen, kein Tau vom Himmel wird dein Land befeuchten, ernähren musst du dich mit deinem Schwert! Du wirst der Sklave deines Bruders sein; doch eines Tages stehst du auf und wehrst dich und wirfst sein Joch von deinen Schultern ab!«
Esau konnte es Jakob nicht vergessen, dass er ihn um den väterlichen Segen gebracht hatte. Er dachte: »Mein Vater lebt nicht mehr lange. Wenn die Trauerzeit vorüber ist, werde ich meinen Bruder Jakob umbringen.«
Rebekka wurde zugetragen, dass ihr älterer Sohn Esau solche Reden führte. Da ließ sie Jakob, den jüngeren Sohn, rufen und sagte zu ihm: »Dein Bruder Esau will sich an dir rächen und dich umbringen. Darum hör auf mich, mein Sohn! Flieh nach Haran zu meinem Bruder Laban! Bleib einige Zeit dort, bis sich der Zorn deines Bruders gelegt hat – bis er dir nicht mehr so böse ist und nicht mehr daran denkt, was du ihm angetan hast. Ich werde dir Nachricht schicken, wenn du wieder zurückkehren kannst. Ich will euch doch nicht beide an einem Tag verlieren!«