Die Waffen nieder

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Zweites Buch. Friedenszeit.

Vier Jahre später. Meine beiden – nunmehr siebzehn- und achtzehnjährigen Schwestern – sollten bei Hofe vorgestellt werden. Aus diesem Anlaß entschloß auch ich mich, wieder »in die Welt« zu gehen.

Die verstrichene Zeit hatte ihr Werk getan und meinen Schmerz allmählich gelindert. Die Verzweiflung wandelte sich in Trauer, die Trauer in Wehmut, die Wehmut in Gleichgültigkeit und diese endlich in erneute Lebensfreudigkeit. Ich erwachte eines schönen Morgens zum Bewußtsein, daß ich eigentlich in einer beneidenswerten, glücksverheißenden Lage mich befand: dreiundzwanzig Jahre alt, schön, reich, hochgestellt, frei, Mutter eines allerliebsten Knaben, Glied einer liebenden Familie – waren das nicht Bedingungen genug, um des Lebens froh zu werden?

Das kurze Jahr meines Ehelebens lag hinter mir wie ein Traum. Ja – ich war in meinen schönen Husaren sterblich verliebt gewesen; ja – mein zärtlicher Mann hatte mich sehr glücklich gemacht! ja – die Trennung hatte mir großen Kummer, sein Verlust wilden Schmerz bereitet – aber das war vorbei, vorbei. So innig mit meinem ganzen Seelenleben verwachsen, daß ich eine Zerreißung nicht hätte überleben, nicht verschmerzen können, war ja meine Liebe nicht gewesen: dazu hatte unser Zusammensein zu kurz gedauert. Wir hatten uns angebetet, wie ein paar feurige Verliebte; aber Herz in Herz, Geist in Geist aufgegangen, in gegenseitiger Hochachtung und Freundschaft fest verbunden, wie dies manche Eheleute nach langen Jahren geteilter Leiden und Freuden sind – das waren wir beide nicht gewesen. Auch ich war ja sein Höchstes, sein Unentbehrlichstes nicht; wäre er sonst so frohgemut und ohne zwingende Pflicht – sein Regiment hat niemals ausrücken müssen – fort von mir? Zudem war ich in den vier Jahren allmählich eine andere geworden; mein geistiger Gesichtskreis hatte sich in vielem erweitert; ich war in den Besitz von Kenntnissen und Anschauungen gelangt, von welchen ich zur Zeit meiner Verheiratung keine Ahnung gehabt und von welchen auch Arno – das wußte ich jetzt zu beurteilen – sich keinen Begriff gemacht und so hätte er meinem jetzigen Seelenleben – wäre er auferstanden – in mancher Richtung fremd gegenüber gestanden.

Wieso diese Wandlung mit mir geschehen? Das ist so gekommen:

Ein Jahr meiner Witwenschaft war verstrichen, die Verzweiflung – erste Phase – in Trauer übergegangen. Aber noch in eine sehr tiefe, blutende Trauer. Von einer Wiederanknüpfung geselliger Verbindungen, wollte ich durchaus nichts wissen. Ich meinte, fortan müsse mein Leben nur noch mit der Erziehung meines Sohnes Rudolf ausgefüllt sein.

Nie mehr nannte ich das Kind »Ruru« oder »Korporal«; die Babyspielereien des verliebten Elternpaares waren dahin; der Kleine war mein ›Sohn Rudolf‹ geworden, meines ganzen Strebens, Hoffens, Liebens geheiligter Mittelpunkt. Um ihm einstens eine gute Lehrerin sein – oder doch, um seinen Studien folgen und ihm eine Geisteskameradin werden zu können, wollte ich selber so viel Wissen als möglich mir aneignen; zudem war Lesen die einzige Zerstreuung, die ich mir erlaubte – so vertiefte ich mich denn von neuem in die Schätze unserer Schloßbibliothek. Namentlich drängte es mich, mein einstiges Lieblingsstudium – die Geschichte – wieder aufzunehmen. In der letzten Zeit, als der Krieg von meinen Zeitgenossen und von mir selber so viele Opfer gefordert hatte, war mein früherer Enthusiasmus stark abgekühlt worden, und ich wünschte denselben durch entsprechende Lektüre wieder anzufachen. Und in der Tat, es gewährte mir manchmal einen gewissen Trost, wenn ich ein paar Seiten Schlachtenberichte mit den daran geknüpften Heldenverherrlichungen gelesen, zu denken, daß der Tod meines armen Mannes und mein eigenes Witwenleid als Parzellen in einem ähnlichen großen, geschichtlichen Vorgang enthalten waren, ich sage »manchmal« – nicht immer. So ganz und gar konnte ich mich doch nicht mehr in jene Stimmungen meiner Mädchenzeit zurückversetzen, wo ich es der Jungfrau von Orleans hätte gleich tun mögen. Vieles, vieles in den gelesenen überschwenglichen Ruhmestiraden, welche die Schlachtenberichte begleiteten, klang mir falsch und hohl, wenn ich mir zugleich die Schrecken der Schlacht vergegenwärtigte – so falsch und hohl, wie eine als Preis für eine echte Perle erhaltene Blechmünze. Die Perle Leben – ist die wohl ehrlich bezahlt mit den Blechphrasen der geschichtlichen Nachrufe? ...

Bald hatte ich den Vorrat der in unserer Bücherei vorhandenen historischen Werke erschöpft. Ich bat unseren Buchhändler, er möge mir ein neues Geschichtswerk zur Ansicht schicken. Er schickte Thomas Buckles History of Civilisation. »Das Werk ist nicht vollendet,« schrieb der Buchhändler, »aber die beifolgenden zwei, als Einleitung dienenden Bände bilden an und für sich ein abgeschlossenes Ganzes und ihr Erscheinen hat sowohl in England, als in der übrigen gebildeten Welt großes Aufsehen erregt; der Verfasser, so sagt man, habe damit den Grundstein zu einer neuen Auffassung der Geschichte gelegt.«

In der Tat ja: ganz neu. Mir war, nachdem ich diese zwei Bände gelesen und wieder gelesen, wie jemand zu Mute, der zeitlebens in einem engen Talkessel gewohnt und zum erstenmal auf eine der umgebenden Bergspitzen hinaufgeführt worden, von wo ein ausgestrecktes Stück Land zu sehen ist, mit Bauten und Gärten bedeckt, von endlosem Meere begrenzt. Ich will nicht behaupten, daß ich – die Zwanzigjährige, welcher die bekannte oberflächliche höhere Töchtererziehung zuteil geworden – das Buch in seiner ganzen Tragweite verstand, oder – um obiges Bild beizubehalten – daß ich die Erhabenheit der Monumentalbauten und die Größe des Ozeans erfaßte, die vor meinen, überraschten Blicken lagen; aber ich war geblendet, war überwältigt; ich sah, daß es jenseits meines engen Heimattales eine weite, weite Welt gab, von der ich bisher niemals Kunde erhalten. Erst, als ich das Buch nach fünfzehn oder zwanzig Jahren wieder las, und nachdem ich andere im selben Geist verfaßte Werke studiert hatte, konnte ich mir vielleicht anmaßen, zu sagen, daß ich es verstehe. Doch eins wurde mir auch schon damals klar: die Geschichte der Menschheit wird nicht – wie dies die alte Auffassung war – durch die Könige und Staatsmänner, durch die Kriege und Traktate bestimmt, welche der Ehrgeiz der einen und die Schlauheit der anderen ins Leben rufen, sondern durch die allmähliche Entwicklung der Intelligenz. Die Hof- und Schlachtenchroniken, welche in den Historienbüchern aneinander gereiht sind, stellen einzelne Erscheinungen der jeweiligen Kulturzustände vor, nicht aber deren bewegende Ursachen. Von der althergebrachten Bewunderung, mit welcher andere Geschichtsschreiber die Lebensläufe gewaltiger Eroberer und Länderverwüster zu erzählen pflegen, konnte ich im Buckle gar nichts finden. Im Gegenteil, er führt den Nachweis, daß das Ansehen des Kriegerstandes im umgekehrten Verhältnis zu der Kulturhöhe eines Volkes steht: – je tiefer in der barbarischen Vergangenheit zurück, desto häufiger die gegenseitige Bekriegung und desto enger die Grenzen des Friedens: Provinz gegen Provinz, Stadt gegen Stadt, Familie gegen Familie. Er betont, daß im Fortschritt der Gesellschaft, mehr noch als der Krieg selber, die Liebe zum Kriege im Schwinden begriffen sei. Das war mir aus der Seele gesprochen. Sogar in meinem kurzen Innenleben war diese Verminderung vor sich gegangen; und wenn ich oft diese Regung als etwas Feiges, Unwürdiges unterdrückt hatte, glaubend, daß ich allein mich solchen Frevels schuldig mache, so erkannte ich jetzt, daß dies bei mir nur der schwache Widerhall des Zeitgeistes war; daß Gelehrte und Denker, wie dieser englische Geschichtsschreiber, daß unzählige Menschen mit ihm die einstige Kriegsvergötterung verloren hatten, welche – wie sie eine Phase meiner Kindheit gewesen – in diesem Buche auch als eine Phase aus der Kindheit der Gesellschaft dargestellt war. Somit hatte ich in Buckles Geschichtswerke eigentlich das Gegenteil von dem gefunden, was ich gesucht. Dennoch empfand ich diesen Fund als einen Gewinn – ich fühlte mich dadurch gehoben, geklärt, beruhigt. Einmal versuchte ich mit meinem Vater über diese neugewonnenen Gesichtspunkte zu reden – aber vergebens. Auf den Berg hinauf wollte er mir nicht folgen – das heißt, er wollte das Buch nicht lesen – also war es aussichtslos, mit ihm von Dingen zu reden, die man nur von dort oben aus wahrnehmen konnte.

Nun folgte das Jahr – zweite Phase –, da die Trauer in Melancholie übergegangen war. Jetzt las und studierte ich noch fleißiger. Das erste Werk Buckles hatte mir Geschmack am Nachdenken gegeben und die Freuden eines erweiterten Weltausblicks kosten gemacht. Davon wollte ich nun noch immer mehr und mehr genießen, und so ließ ich diesem Buche noch viele andere, im gleichen Geist verfaßte, folgen. Und das Interesse, die Genüsse, welche ich in diesen Studien fand, trugen dazu bei, die dritte Phase eintreten – nämlich die Melancholie schwinden zu machen. Als aber die letzte Wandlung mit mir vorging, das ist, als die Lebenslust von neuem erwachte, da wollten mir auf einmal die Bücher nicht mehr genügen; da sah ich auf einmal ein, daß Ethnographie und Anthropologie und vergleichende Mythologie und sonstige -logien und -graphien unmöglich meine Sehnsucht stillen konnten; daß für eine junge Frau in meiner Lage das Leben noch ganz andere Glücksblüten bereit hielt, nach welchen ich nur die Hand auszustrecken brauchte ... Und so kam es, daß ich im Winter 1863 mich anbot, meine jüngeren Schwestern selber in die Welt einzuführen und meine Salons der Wiener Gesellschaft öffnete.

* * *

Martha Gräfin Dotzky, eine reiche, junge Witwe. Unter diesem vielversprechenden Namen stand ich auf dem Personenverzeichnis der »große Welt«-Komödie. Und ich muß sagen, die Rolle sagte mir zu. Es ist kein geringes Vergnügen, von allen Seiten Huldigungen zu empfangen, von der ganzen Gesellschaft gefeiert, verwöhnt, mit Auszeichnungen überschüttet zu werden. Es ist kein geringer Genuß, nach beinahe vierjähriger Weltabgeschiedenheit plötzlich in einen Strudel von allerlei Vergnügungen zu gelangen; interessante, bedeutende Menschen kennen zu lernen, an fast jedem Tage ein glänzendes Fest mitzumachen – und dabei sich selber als den Mittelpunkt allgemeiner Aufmerksamkeit zu fühlen.

 

Wir drei Schwestern hatten den Spitznamen »die Göttinnen vom Berge Iba« bekommen und die Erisäpfel lassen sich nicht zählen, welche die verschiedenen jungen Parisse unter uns verteilten; ich natürlich – in meiner oben erwähnten Theaterzettelwürde »reiche, junge Witwe« war gewöhnlich die Bevorzugte. Es galt übrigens in meiner Familie – und auch ein klein wenig in meinem eigenen Bewußtsein – als ausgemachte Sache, daß ich mich wieder vermählen würde. Tante Marie pflegte in ihren Homilien nicht mehr auf den Verklärten anzuspielen, der »dort oben meiner harrte«, denn wenn ich in den kurzen Erdenjahren, die mich vom Grabe trennten, mir einen zweiten Gatten angeeignet – eine von Tante Marie selber gewünschte Eventualität –, so war dadurch die Gemütlichkeit des himmlischen Wiedersehens mit dem ersten stark beeinträchtigt.

Alle um mich herum schienen Arnos Existenz vergessen zu haben – nur ich nicht. Obwohl die Zeit meinen Schmerz um ihn geheilt hatte – sein Bild hatte sie nicht verlöscht. Man kann aufhören, um seine Toten zu trauern – die Trauer hängt auch nicht vom Willen ab – aber vergessen soll man sie nicht. Ich betrachtete dieses von meiner Umgebung geübte Totschweigen eines Verstorbenen als eine zweite nachträgliche Tötung und vermied es, den Armen auch totzudenken. Ich hatte es mir zur Aufgabe gemacht, täglich zum kleinen Rudolf von seinem Vater zu sprechen, und in seinem Abendgebet mußte das Kind stets sagen: »Gott, laß mich gut und brav sein, meinem geliebten Vater Arno zu Liebe!«

Meine Schwestern und ich »amüsierten« uns köstlich – ich gewiß nicht minder als sie. Es war ja sozusagen auch mein Debüt in der Welt. Das erste Mal war ich als Braut und Neuvermählte eingeführt worden; da hatten sich selbstverständlich alle Kurmacher von mir ferngehalten, und was ist des »Welt«-Lebens höchster Reiz, wenn nicht die Kurmacher? Aber sonderbar! So sehr es mir behagte, von einer Schar von Anbetern umgeben zu sein, keiner von ihnen machte einen tieferen Eindruck auf mich. Es lag eine Schranke zwischen ihnen und mir, die schier unübersteiglich war. Und diese Schranke hatte sich durch die drei Jahre meines einsamen Studierens und Denkens aufgerichtet. Alle diese glänzenden jungen Herren, deren Lebensinteressen in Sport, Spiel, Ballett, Hofklatsch und, wenn es hoch ging, in Berufsehrgeiz (die meisten waren Militärs) gipfelten, die hatten von den Dingen, die ich in meinen Büchern von ferne erschaut und an denen mein Geist sich gelabt, auch nicht die entfernteste Idee. Jene Sprache, von der ich freilich auch nur Anfangsgründe kennen gelernt, von der ich aber wußte, daß in ihr durch die Männer der Wissenschaft die höchsten Fragen beraten und einst gelöst werden; jene Sprache war ihnen nicht nur »spanisch«, sondern – patagonisch.

Unter dieser Kategorie junger Leute würde ich mir keinen Gatten wählen – das stand fest. Überhaupt hatte ich keine Eile, meine Freiheit, die mir so wohl gefiel, wieder aufzugeben. Ich wußte meine seinwollenden Freier so in Entfernung zu halten, daß keiner einen Antrag wagte und daß auch niemand in der Gesellschaft das kompromittierende Wort von mir sagen konnte: »Sie läßt sich den Hof machen.« Mein Sohn Rudolf sollte einst auf seine Mutter stolz sein dürfen – keinen Hauch des Verdachts auf dem blanken Spiegel ihres guten Rufes vorfinden. Wenn jedoch der Fall einträte, daß mein Herz von neuem in Liebe erglühte – es konnte nur für einen Würdigen sein –, dann war ich ja geneigt, das Anrecht, welches meine Jugend noch auf irdisches Glück besaß, geltend zu machen und eine zweite Ehe einzugehen.

Unterdessen – von Liebe und Glück abgesehen – war ich recht guter Dinge. Der Tanz, das Theater, der Putz: an alledem fand ich ein lebhaftes Vergnügen. Dabei vernachlässigte ich weder meinen kleinen Rudolf noch meine eigene Ausbildung. Nicht, daß ich mich in gründliche Fachstudien vertiefte; aber über die Bewegung der Geister erhielt ich mich stets auf dem Laufenden, indem ich mir die hervorragendsten neuen Erscheinungen der Weltliteratur anschaffte und regelmäßig sämtliche Artikel, auch die wissenschaftlichen, der Revue des deux Mondes und ähnlicher Zeitschriften aufmerksam las. Diese Beschäftigung hatte freilich zur Folge, daß die vorerwähnte Schranke, welche mein Seelenleben von der mich umgebenden Junge-Herrenwelt abschloß, immer höher wurde – aber das war schon recht so. Gern hätte ich in meinen Salon einige Persönlichkeiten aus der Literaten- und Gelehrtenwelt zugezogen, allein dies war in der Mitte, in der ich mich bewegte, nicht recht tunlich. Bürgerliche Elemente werden der österreichischen sogenannten »Sozietät« nicht beigemischt. Namentlich damals; seither hat sich dieser ausschließliche Geist etwas geändert und es ist Mode geworden, einzelnen Vertretern der Kunst und Wissenschaft seine Salons zu öffnen. Zu der Zeit, von der ich spreche, war dies jedoch nicht der Fall; was nicht hoffähig war – das heißt was nicht sechzehn Ahnen aufzuweisen hatte – war von vornherein ausgeschlossen. Unsere gewohnte Gesellschaft wäre ganz unangenehm überrascht gewesen, bei mir unadelige Leute anzutreffen, und hätte nicht den rechten Ton gefunden, mit solchen zu verkehren. Und diese selber hätten meinen mit »Komtesseln« und Sportsmen, mit alten Generälen und alten Stiftsdamen gefüllten Salon schon gar unerträglich langweilig gefunden. Welchen Anteil konnten Männer von Geist und Wissen, Schriftsteller und Künstler, an den ewig gleichen Erörterungen nehmen: bei wem gestern getanzt worden und bei wem morgen getanzt wird – ob bei Schwarzenberg, bei Pallavicini oder bei Hof – welche Passionen Baronin Pacher einflößt, welche Partie Komteß Palffy ausgeschlagen, wieviel Herrschaften Fürst Croy besitzt, was die junge Almasy für eine »Geborene« sei, ob eine Festetics oder eine Wenkheim, und ob die Wenkheim, deren Mutter eine Khevenmüller gewesen usw. usw. Das war nämlich so der Stoff der meisten um mich herum geführten Unterhaltungen. Auch die geistvollen und unterrichteten Leute, von welchen doch gar manche in unseren Kreisen sich fanden – Staatsmänner und dergleichen – glaubten sich verpflichtet, wenn sie mit uns – tanzender Jugend – verkehrten, denselben frivolen und inhaltslosen Ton anzuschlagen. Wie gerne hätte ich oft nach einem Diner mich in die Ecke begeben, wo ein paar unserer vielgereisten Diplomaten, beredten Reichsräten, oder sonstige bedeutende Männer über bedeutende Fragen ihre Meinung austauschten – aber das war nicht tunlich; ich mußte schon bei den anderen jungen Frauen bleiben und die Toiletten besprechen, die wir für den nächsten großen Ball vorbereiteten. Und hätte ich mich auch in jene Gruppe eingedrängt, sogleich würden die eben geführten Gespräche über Nationalökonomie, über Byrons Poesie, über Theorien von Strauß und Renan verstummt sein und es würde geheißen haben: »Ach, Gräfin Dotzky! ... gestern auf dem Damen-Picknick haben Sie bezaubernd ausgesehen ... und Sie gehen doch morgen zum Empfang bei der russischen Botschaft?«

* * *

»Erlaube, liebe Martha,« sagte mein Vetter Konrad Althaus, »daß ich dir Oberstleutnant Baron Tilling vorstelle.«

Ich neigte den Kopf. Der Vorstellende entfernte sich und der Vorgestellte blieb stumm. Ich faßte dies als eine Aufforderung zum Tanze auf und erhob mich von meinem Sitz – mit gerundet aufgehobenem linken Arm, bereit, ihn auf Baron Tillings Schulter zu lehnen.

»Verzeihen Sie, Gräfin,« sagte jener mit einem flüchtigen Lächeln, das blitzend weiße Zähne aufdeckte, »ich kann nicht tanzen.«

»Ah so – desto besser,« antwortete ich, mich wieder setzend. »Ich hatte mich ohnehin hierher zurückgezogen, um ein wenig auszuruhen.«

»Und ich hatte mir die Ehre erbeten, Ihnen vorgestellt zu werden, gnädige Gräfin, um Ihnen eine Mitteilung zu machen.«

Ich blickte erstaunt auf. Der Baron machte ein sehr ernstes Gesicht. Er war überhaupt ein ernsthaft aussehender Mann – nicht mehr jung, etwa vierzig, mit einigen Silberfäden an den Schläfen – im ganzen eine vornehme, sympathische Erscheinung. Ich hatte mir angewöhnt, jeden Neuvorgestellten auf die Frage hin prüfend anzusehen: Bist du ein Freier? – würde ich dich nehmen? Beide Fragen beantwortete ich mir in diesem Falle mit einem schnellen »Nein«. Es fehlte dem Betreffenden durchaus der verbindlich-anbetende Ausdruck, welchen alle jene anzunehmen pflegen, die sich den Frauen mit sogenannten »Absichten« nahen; – und die andere Frage fand schon durch seine Uniform verneinende Erledigung. Ein zweites Mal würde ich keinem Soldaten die Hand reichen – das hatte ich mir fest vorgenommen. Nicht nur aus dem Grunde, um kein zweites Mal der schrecklichen Angst ausgesetzt zu werden, den Gatten ins Feld ziehen zu sehen, sondern well ich seither über den Krieg im allgemeinen zu Ansichten gelangt war, in welchen ich unmöglich mit einem Krieger hätte übereinstimmen können.

Oberstleutnant von Tilling machte von meiner Aufforderung, sich neben mich zu setzen, keinen Gebrauch.

»Ich will Sie nicht lange belästigen, Gräfin. Was ich Ihnen mitzuteilen habe, paßt nicht in ein Ballfest. Ich wollte mir nur die Erlaubnis erbitten, mich in Ihrem Hause einzufinden; können Sie mir gnädigst einen Tag und eine Stunde bestimmen, wann ich Sie sprechen darf?«

»Ich empfange an Sonnabenden zwischen zwei und vier.«

»Dann gleicht an Sonnabenden zwischen zwei und vier Ihr Haus vermutlich einem Bienenstock, wo die Honigträger aus- und einfliegen –«

»Und ich als Königin in der Zelle sitze, meinen Sie – das ist ein recht hübsches Kompliment.«

»Komplimente mache ich nie – ebensowenig als Honig, und so behagt mir die sonnabendliche Schwarmstunde durchaus nicht; ich muß Sie allein sprechen.«

»Sie reizen meine Neugier. Sagen wir also morgen Dienstag, um die gleiche Stunde; ich werde für Sie und sonst niemand zu Hause sein.«

Er dankte mit einer Verbeugung und ging.

Eine Weile später kam mein Vetter Althaus vorbei. Ich rief ihn zu mir, ließ ihn an meiner Seite Platz nehmen und verlangte Auskunft über Baron Tilling.

»Gefällt er dir? Hat er dir solch tiefen Eindruck gemacht, daß du dich gar so angelegentlich erkundigst? Er ist zu haben – das heißt er ist noch ledig. Darum soll er aber doch nicht frei sein ... Man munkelt, daß eine sehr hohe Dame (Althaus nannte eine Prinzessin aus regierendem Hause) ihn durch zarte Bande an sich fesselt – deshalb heirate er nicht. Sein Regiment ist erst seit kurzer Zeit hierher versetzt worden, daher hat man ihn noch nicht viel in der Gesellschaft gesehen – auch ist er, glaube ich, ein Feind von Bällen und dergleichen. Ich habe ihn im adeligen Kasino kennen gelernt, wo er täglich ein paar Stunden verbringt, aber gewöhnlich im Lesezimmer in die Zeitungen, oder mit unseren besten Schachspielern in eine Partie vertieft. Ich war erstaunt, ihn hier zu treffen – da jedoch die Hausfrau seine Cousine ist, so erklärt sich seine kurze Erscheinung auf dem Ball – er ist auch schon wieder weg. Nachdem er sich von dir empfohlen, sah ich ihn fortgehen.«

»Hast du ihn noch mehreren anderen Damen vorgestellt?«

»Nein, nur dir. Aber darum mußt du dir nicht einbilden, daß du es ihm von weitem angetan, und er deshalb verlangte, dich kennen zu lernen: – »Können Sie mir nicht sagen, fragte er mich, ob eine gewisse Gräfin Dotzky, geborene Althaus – vermutlich mit Ihnen verwandt – hier anwesend ist? Ich muß mit derselben sprechen.« – »Ja, antwortete ich, auf dich zeigend – dort in jener Ecke auf dem Sofa – im blauen Kleide.« – »Ah, die? Seien Sie so gut, stellen Sie mich vor.« – Was ich denn bereitwilligst tat, ohne zu ahnen, daß ich dich dadurch um deine Ruhe bringen würde.«

»So sprich doch keinen Unsinn, Konrad – meine Ruhe ist nicht so leicht zu untergraben. Tilling? was ist das für eine Familie? – ich höre den Namen zum erstenmal.«

»Aha, du gibst nicht nach ... Ist das ein Glücksmensch! Ich habe mich durch volle drei Monate, mit Aufwand aller meiner Bezauberungskräfte, in deine Gunst einzuschleichen versucht – vergebens. Und dieser kalte Oberstleutnant – denn er ist kalt und gefühllos, laß dir das gesagt sein – kam, sah und siegte. – Was ›Tilling‹ für eine Familie sei, fragtest du? Ich glaube preußischen Ursprungs – doch war schon sein Vater in österreichische Dienste getreten – seine Mutter ist auch Preußin – du mußt seinen norddeutschen Akzent bemerkt haben.«

»Ja, er spricht ein wunderschönes Deutsch.«

 

»Natürlich – alles ist wunderschön an ihm.« Althaus stand auf. »Jetzt habe ich gerade genug. Erlaube, daß ich dich deinen Träumen überlasse; ich will versuchen, mich mit Damen zu unterhalten, welche –«

»Dich wunderschön finden. Solche gibt es wohl genug.«

Ich verließ den Ball zu früher Stunde. Meine Schwestern konnten unter dem Schutze Tante Maries noch bleiben und mich hielt nichts zurück. Die Lust am Tanzen war mir vergangen, ich fühlte mich ermüdet und sehnte mich nach Einsamkeit. Warum ... Es scheint doch so – da ich noch um Mitternacht die roten Hefte mit Eintragung der oben angeführten Gespräche bereicherte und Betrachtungen daran knüpfte, wie folgt: »Ein interessanter Mensch, dieser Tilling – Die hohe Frau, die ihn liebt, denkt jetzt wahrscheinlich an ihn ... oder vielleicht kniet er in diesem Augenblick zu ihren Füßen und sie ist nicht so allein – allein – wie ich. Ach, jemand so recht innig lieben zu können ... es müßte nicht eben Tilling sein – ich kenne ihn ja nicht ... Nicht um Tilling beneide ich die Prinzessin, aber um ihr Verliebtsein. Und je leidenschaftlicher, je wärmer sie ihm zugetan ist, desto mehr beneide ich sie.«

Mein erster Gedanke beim Erwachen war wieder – Tilling. Ja richtig: er hatte sich für diesen Tag behufs wichtiger Mitteilungen bei mir angesagt. So gespannt, wie auf diesen Besuch, hatte ich mich schon lange nicht gefühlt.

Um die bestimmte Stunde gab ich Befehl, daß mit Ausnahme des Erwarteten niemand vorgelassen werde. Meine Schwestern waren nicht zu Hause, Tante Marie, die unermüdliche garde-dame, hatte sie auf den Eislaufplatz begleitet.

Ich setzte mich in meinen kleinen Salon – mit einer hübschen Haustoilette von violettem Samt angetan (violett steht Blondinen bekanntlich vorteilhaft), nahm ein Buch zur Hand und wartete. Lang' habe ich nicht warten müssen: zehn Minuten nach zwei trat Freiherr von Tilling bei mir ein.

»Wie Sie sehen, Gräfin, habe ich von Ihrer Erlaubnis pünktlich Gebrauch gemacht,« sagte er mir die Hand küssend.

»Glücklicherweise,« antwortete ich lächelnd, indem ich ihm einen Platz anwies; »ich hätte sonst vor Ungeduld vergehen müssen, denn Sie haben mich wahrhaftig in große Spannung versetzt.«

»Dann will ich gleich, ohne lange Einleitung, sagen, was ich zu sagen habe. Daß ich es nicht schon gestern getan, geschah, um Ihre fröhliche Stimmung nicht zu trüben –«

»Sie erschrecken mich –«

»Mit einem Wort: Ich habe die Schlacht von Magenta mitgemacht –«

»Und Sie haben Arno sterben sehen!« schrie ich auf.

»So ist es. Ich bin in der Lage, Ihnen über seine letzten Augenblicke Bescheid zu geben.«

»Sprechen Sie,« sagte ich bebend.

»Zittern Sie nicht, Gräfin. Wenn diese letzten Augenblicke so schrecklich gewesen wären, wie bei so manchen anderen Kameraden, so würde ich Ihnen sicher nicht davon gesprochen haben: es gibt nichts Traurigeres, als von einem teueren Toten zu erfahren, daß er qualvoll gestorben – das ist aber hier nicht der Fall.«

»Sie nehmen mir einen Stein vom Herzen. Erzählen Sie.«

»Ich werde Ihnen nicht die leere Phrase wiederholen, mit welcher man Soldatenhinterbliebene zu trösten pflegt: ›Er starb als Held,‹ denn ich weiß nicht recht, was man damit sagen will: – den wirklichen Trost kann ich Ihnen aber bieten: er starb, ohne an den Tod zu denken. Er war von allem Anfang überzeugt, daß ihm nichts geschehen werde. Wir waren viel zusammen und er erzählte mir oft von seinem Familienglück, zeigte mir das Bild seines schönen jungen Weibchens und das seines Kindes; er lud mich ein, wenn nur einmal die Kampagne aus sei, ihn in seiner Häuslichkeit zu besuchen. In dem Gemetzel von Magenta befand ich mich zufällig an seiner Seite. Ich erspare Ihnen die Schilderung der vorhergehenden Szenen – so etwas erzählt sich nicht. Männer, die kriegerischen Geistes sind, werden mitten im Pulverdampf und Kugelregen von so einem Taumel erfaßt, daß sie eigentlich nicht wissen, was um sie vorgeht. Dotzky war ein solcher Mann. Seine Augen sprühten, er zielte mit fester Hand; er war in vollem Kriegsrausch, das konnte ich – Nüchterner – sehen. Da kam ein Hohlgeschoß geflogen und fiel auf ein paar Schritte Entfernung vor uns nieder. Als das Ungetüm platzte, stürzten zehn Mann zusammen – darunter Dotzky. Es erhob sich ein Jammergeschrei unter den Unglücklichen – aber Dotzky schrie nicht: er war tot. Ich und noch ein paar Kameraden bückten uns zu den Getroffenen herab, um ihnen, wenn möglich, Hilfe zu bringen. – Es war aber nicht möglich. Sie rangen alle mit dem Tode, auf das greulichste zerrissen und zerfleischt, die Beute schrecklichster Schmerzen ... Nur Dotzky, zu dem ich mich zuerst auf den Boden gekniet, atmete nicht mehr; sein Herz stand still und aus der aufgerissenen Seite quoll das Blut in solchen Strömen, daß – wenn sein Zustand auch nur Ohnmacht und nicht der Tod gewesen wäre –, es nicht zu befürchten stand, daß er wieder zu sich komme –«

»Zu befürchten?« unterbrach ich weinend.

»Ja – denn wir mußten sie hilflos da liegen lassen: vor uns erklang wieder das mordgebietende »Hurra!« und hinter uns stürmten berittene Scharen heran, welche über diese Sterbenden hinwegsetzen würden – glücklich der Bewußtlose! Sein Gesicht hatte einen ganz ruhigen, schmerzlosen Ausdruck – und als wir, nachdem der Kampf vorüber war, unsere Toten und Verwundeten auflasen, fand ich ihn auf derselben Stelle in gleicher Lage und mit dem gleichen friedlichen Ausdruck. Das habe ich Ihnen sagen wollen, Gräfin. Freilich hätte ich das schon vor Jahren tun können und, da ich nicht mit Ihnen zusammentraf, an Sie schreiben – aber die Idee kam mir erst gestern, als mir meine Cousine sagte, sie erwarte unter ihren Gästen die schöne Witwe Arno Dotzkys. Verzeihen Sie, wenn ich schmerzliche Erinnerungen wachgerufen; ich glaube doch eine Pflicht erfüllt und Sie von peinlichen Zweifeln befreit zu haben.«

Er stand auf. Ich reichte ihm die Hand:

»Ich danke, Baron Tilling,« sagte ich, meine Tränen trocknend. »Sie haben mir in der Tat ein wertvolles Geschenk gemacht: die Beruhigung, daß das Ende meines teuren Mannes frei von Schmerz und Qual war .... Aber bleiben Sie noch ein wenig, ich bitte Sie .... Ich wollte Sie noch sprechen hören ... Vorhin, in Ihrer Ausdrucksweise, haben Sie einen Ton angeschlagen, der in meinem Gemüte eine gewisse Saite vibrieren gemacht – ohne Umschweife, Sie verabscheuen den Krieg?«

Tillings Gesicht verfinsterte sich:

»Verzeihen Sie, Gräfin,« sagte er, »wenn ich Ihnen über diesen Gegenstand nicht Rede stehe. Auch bedauere ich, mich nicht länger aufhalten zu können – ich werde erwartet.«

Jetzt nahm mein Gesicht einen kalten Ausdruck an: vermutlich erwartete ihn die Prinzessin – und der Gedanke war mir unangenehm.

»Da will ich Sie nicht zurückhalten, Herr Oberstleutnant,« entgegnete ich kalt.

Ohne nur die Erlaubnis zu erbitten, wiederkommen zu dürfen, verbeugte er sich und ging.

* * *

Fasching war zu Ende. Rosa und Lilli, meine Schwestern, hatten sich »ungeheuer amüsiert«. Jede verzeichnete ein halbes Dutzend Eroberungen; dennoch befand sich keine wünschenswerte Partie darunter und der »Rechte« war für keine erschienen. Desto besser: sie wollten gern noch ein paar Mädchenjahre genießen, ehe sie ins Ehejoch traten.

Und ich? In den roten Heften stehen meine Faschingseindrücke folgendermaßen notiert:

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