Die Waffen nieder

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Kaum aber waren die Gerichte aufgestellt, so wurde die Tafel wieder abgeräumt, eine Arbeit, welche – gleichfalls als Zeichen der Demut – die Erzherzöge verrichteten. Hiernach ward die Tafel hinausgetragen, die eigentliche Effektszene des Stückes (was die Franzosen »le clou de la pièce« nennen) – die Fußwaschung – begann. Freilich nur eine Scheinwaschung, wie das Mahl nur ein Scheinmahl gewesen. Auf dem Boden knieend, streifte der Kaiser mit einem Tuch über die Füße der Greise hinweg, nachdem der ihm assistierende Priester aus einer Kanne scheinbar Wasser darübergegossen, und so rutschte er vom ersten bis zum zwölften Pfründner, während die Kaiserin – die man sonst nur so majestätisch hochaufgerichtet zu sehen bekommt – in derselben demütigen Stellung, in welcher sie ihre gewohnte Anmut übrigens nicht verliert, die gleiche Prozedur an den zwölf Pfründnerinnen vornahm. Die begleitende Musik, oder, wenn man will, den erklärenden Chor, bildete das gleichzeitig vom Hofburgpfarrer vorgelesene Evangelium des Tages.

Gern hätte ich auf einige Augenblicke mitempfinden mögen, was in dem Geiste dieser Alten vorging, während sie so dasaßen, in der seltsamen Tracht, von einer glänzenden Menge angegafft, den Landesvater, die Landesmutter – Ihre Majestäten – zu ihren Füßen ... Wahrscheinlich wäre es gar keine klare Empfindung gewesen, die ich danach gefühlt hätte, wenn mir der gewünschte momentane Bewußtseinstausch gewährt worden wäre, sondern ein verwirrter, geblendeter Halbtraum, ein zugleich frohes und peinliches, verlegenes und feierliches Gefühl, ein vollständiges Stillstehen der Gedanken in den ohnehin unwissenden und altersschwachen armen Köpfen. Das einzige Wirkliche und Faßbare an der Sache mochte den guten Alten nur die Aussicht auf das rotseidene Beutelchen mit den dreißig Silberstücken sein, welches jedem von Allerhöchster Hand umgehängt ward, und auf den Korb voll Speisen, welchen man ihnen auf die Heimfahrt mitgibt.

Die ganze Zeremonie war schnell zu Ende und gleich darauf leerte sich der Saal. Zuerst zog sich der Hof zurück; hierauf entfernten sich alle anderen Mitbeteiligten, und zugleich auch das Publikum von Estrade und Galerie.

»Schön war's, schon war's!« flüsterte Rosa mit einem tiefen Atemzug.

Ich antwortete nichts. Eigentlich hatte ich keine Ursache, die Verwirrung und Gedankenarmut der Festgreise zu bemitleiden, war mir doch selber das Verständnis der eben stattgehabten Feier ein ziemlich verschwommenes, und hatte ich nur noch den einen Gedanken im Sinn: »Wird er uns am Ausgang er warten?«

Doch wir gelangten nicht so schnell zum Ausgang, als ich gewollt hätte. Zuerst hieß es doch, mit fast sämtlichen Estradezuschauern, welche gleichzeitig mit uns ihre Plätze verließen, Hände schütteln und ein paar Phrasen tauschen. Man blieb da im Stiegenhause in einer großen Gruppe stehen und es gab einen förmlichen Morgenraout. »Grüß' dich, Toni.« – »Bonjour, Martha.« – »Ach, Sie auch da, Gräfin?« – »Bist du für den Ostersonntag schon vergeben?« – »Guten Tag, Durchlaucht, vergessen Sie nicht, daß wir Sie morgen abend zu einer kleinen Tanzerei erwarten.« – »Warst du gestern bei den Dominikanern in der Predigt?« – »Nein, ich war im Sacré cœur, wo meine Töchter eine Retraite machen.« – »Die nächste Probe zu unserer Wohltätigkeitsvorstellung ist Dienstag um zwölf Uhr, lieber Baron, seien Sie ja pünktlich.« – »Die Kaiserin hat wieder superb ausgesehen.« – »Hast du bemerkt, Lori, wie der Erzherzog Ludwig Viktor immer zu der Götter-Fanny herüberschielte?« – »Madame, j'ai l'honneur de vous présenter mes hommages.« – »Ah,c'est vous, marquis ... charmée.« – »I wish you good morning, Lord Chesterfield« – »Oh, how are you? Awfully fine women, your Empress.« – »Haben Sie schon eine Loge gesichert für die Vorstellung der Adelina Patti? Ein ganz wunderbarer aufgehender Stern ...« – »Die Nachricht von der Verlobung des Ferdi Drontheim mit der Bankierstochter soll sich also doch bestätigen – es ist ein Skandal!«

Und so schwirrte es hin und her. Ein unbefangener Horcher hätte diesen Gesprächen wohl kaum angemerkt, daß sie der Nachstimmung einer eben verrichteten Demutsandacht entsprangen.

Endlich traten wir vor das Tor hinaus, wo unsere Wagen warteten und eine Menge Volk versammelt war. Diese Leute, wollten wenigstens diejenigen sehen, welche so glücklich waren, den Allerhöchsten Hof gesehen zu haben: sie konnten dann ihrerseits als diejenigen, welche die Gesehenhabenden gesehen hatten, wieder minder Bevorzugten sich sehen lassen.

Kaum waren wir hinausgetreten, so stand Tilling vor mir. Er verneigte sich.

»Ich muß Ihnen noch danken, Gräfin Dotzky, für den herrlichen Kranz.«

Ich reichte ihm die Hand – aber konnte kein Wort sprechen.

Unser Wagen war vorgefahren; wir mußten einsteigen und Rosa drängte auch vorwärts; Tilling führte die Hand an die Mütze und wollte zurücktreten. Da machte ich eine heftige Anstrengung und sagte mit einer Stimme, die mir selber ganz fremd klang:

»Sonntag zwischen zwei und drei werde ich zu Hause sein.«

Er verneigte sich stumm und wir stiegen ein.

»Du mußt dich erkältet haben, Martha,« bemerkte meine Schwester, als wir davonfuhren: »Deine Aufforderung klang furchtbar heiser. Und warum hast du mir diesen schwermütigen Stabsoffizier nicht vorgestellt? Ich habe noch selten ein weniger aufheiterndes Gesicht gesehen.«

* * *

Am bestimmten Tage und zur bestimmten Stunde ließ sich Tilling bei mir anmelden. Vorher hatte ich in die roten Hefte folgende Eintragung gemacht:

»Ich ahne, daß der heutige Tag über mein Schicksal entscheiden wird. Mir ist so feierlich und bang, so süß erwartungsvoll zu Mute. Diese Stimmung muß ich in diesen Blättern fixieren, damit, wenn ich einst nach langen Jahren darin blättere, ich mir recht lebhaft die Stunde ins Gedächtnis zurückrufen könne, welcher ich jetzt so bewegt entgegensehe. Vielleicht kommt es ganz anders, als ich denke – vielleicht auch genau so ... jedenfalls wird es mich einst interessieren, zu sehen, wie weit Voraussicht und Wirklichkeit sich deckten. – – –

Der Erwartete liebt mich – das bewies mir sein am Sterbelager der Mutter geschriebener Brief; er ist wiedergeliebt – das muß ihm das Röslein im Totenkranz verraten haben ... Und nun kommen wir zusammen – ohne Zeugen – im Innersten bewegt – er trostbedürftig – ich vom Wunsche zu trösten durchdrungen: ich glaube, es wird gar nicht viel Worte geben ... Tränen in unserer beiden Augen, zitternd vereinte Hände – und wir werden uns verstanden haben ... Zwei liebende, zwei glückliche Menschen – ernsthaft, weihevoll, leidenschaftlich, andächtig glücklich – während in der Gesellschaft die Sache gleichgültig und trocken etwa so verkündet wird! »Wissen Sie schon? die Martha Dotzky hat sich mit Tilling verlobt – eine miserable Partie.« ... Es ist zwei Uhr und fünf Minuten – jetzt kann er jeden Augenblick eintreten. – Die Glocke... dieses Herzklopfen, dieses Zittern, ich fühle, daß – –«

So weit war ich gekommen. Die letzte Zeile ist mit beinahe unleserlichen Buchstaben gekritzelt, ein Zeichen, daß »dieses Herzklopfen, dieses Zittern« keine bloße rhetorische Figur war. Voraussicht und Wirklichkeit deckten sich nicht. Tilling verhielt sich während seines halbstündigen Besuches ganz zurückhaltend und kalt. Er bat mich um Verzeihung für die Kühnheit, welche er gehabt, an mich zu schreiben; er möge dieses Beiseitesetzen der Etikette der Unzurechnungsfähigkeit zugute halten, welche einen Menschen in so schmerzlichen Augenblicken befallen kann. Dann erzählte er mir noch einiges von den letzten Tagen und aus dem Leben seiner Mutter; aber von dem, was ich erwartet hatte – kein Wort. Und so wurde auch ich immer zurückhaltender und kälter. Als er sich zum Gehen erhob, machte ich keinen Versuch, ihn zu halten, und forderte ihn auch nicht auf, wiederzukommen.

Und als er draußen war, stürzte ich wieder zu den noch offen liegenden roten Heften hin und schrieb den unterbrochenen Satz weiter:

»Ich fühle, daß – alles aus ist ... daß ich mich schmählich getäuscht habe, daß er mich nicht liebt und jetzt auch glauben wird, daß er mir ebenso gleichgültig ist, wie ich ihm. Beinahe abstoßend habe ich mich benommen. Ich fühle – er kommt nie wieder. Und doch enthält die Welt keinen zweiten Menschen für mich! So gut, so edel, so geistvoll ist keiner mehr – und so lieb wie ich dich gehabt hätte, Friedrich, so lieb hat dich keine andere, deine Prinzessin – zu der du zurückgekehrt zu sein scheinst,– schon gewiß nicht. Mein Sohn Rudolf, du sollst mein Trost und mein Halt sein. Fortan will ich von Frauenliebe nichts mehr wissen; nur die Mutterliebe soll mir Herz und Leben ausfüllen ... Wenn es mir gelingt, einen solchen Mann aus dir zu bilden, wie jener einer ist – wenn ich einst von dir so beweint werde, Rudolf, wie jener seine Mutter beweint, so werde ich mein Ziel erreicht haben.«

Eigentlich eine törichte Einrichtung, das Tagebuchschreiben. Diese stets wechselnden, zerfließenden und neu erstehenden Wünsche, Vorsätze und Anschauungen, welche den Lauf des Seelenlebens bilden, durch aufgeschriebene Worte verewigen zu wollen, das ist ein verfehltes Beginnen und bringt dem älteren nachlesenden Ich die immerhin beschämende Erkenntnis der eigenen Veränderlichkeit. Hier standen nun auf demselben Blatte und unter demselben Datum zwei so grundverschiedene Stimmungen verzeichnet: zuerst die zuversichtlichste Hoffnung – daneben die vollständigste Entsagung und die nächsten Blätter sollen doch wieder ganz Neues berichten ...

Der Ostermontag war vom herrlichsten Frühlingswetter begünstigt und die an diesem Tage hergekommenermaßen stattfindende Praterfahrt – eine Art Vorfeier des großen Ersten-Mai-Korso, fiel besonders glänzend aus. Ich weiß noch, wie dieser Glanz, diese Fest- und Lenzwonne, die mich da umgab, mit der Traurigkeit kontrastierte, welche mein Gemüt erfüllte. Und doch – ich hätte meine Traurigkeit nicht hergeben wollen – nicht wieder so heiteren, dabei aber leeren Herzens sein, wie vor etwa zwei Monaten, als ich Tilling noch nicht kannte. Denn wenn meine Liebe auch allem Anschein nach eine unglückliche war, so war es doch Liebe – das heißt eine Steigerung der Lebensintensität: dieses warme, zärtliche Gefühl, welches mein Herz schwellte, so oft das teure Bild mir vor das innere Auge trat – ich hätte es nimmer missen mögen. Daß ich den Gegenstand meiner Träume hier im Prater, mitten im Gewühl weiblicher Fröhlichkeit zu Gesicht bekommen würde, erwartete ich nicht. Und doch: als ich einmal zerstreut die Blicke nach der Reitallee schweifen ließ, sah ich von weitem, die Allee in unserer Richtung herabgaloppierend, einen Offizier, in welchem ich sogleich – obschon mein kurzsichtiges Auge ihn nur undeutlich ausnahm –, Tilling erkannte. Als er nun in die Nähe kam und, zu uns herübersalutierend, sich mit unserem Wagen kreuzte, da erwiderte ich seinen Gruß nicht nur mit einem Kopfnicken, sondern mit lebhaftem Winken. Im selben Augenblick war ich gewahr, daß ich da etwas Unpassendes und Ungerechtfertigtes getan.

 

»Wem hast du solche Zeichen gemacht?« fragte meine Schwester Lilli: »War es etwa Papa? ... Ah, ich sehe,« fügte sie hinzu, »da spaziert ja eben der unvermeidliche Konrad – dem galt deine Handverrenkung?«

Dieses rechtzeitige Erscheinen des »unvermeidlichen Konrad« kam mir sehr gelegen. Ich war dem treuen Vetter dankbar dafür und betätigte diese Dankbarkeit sofort

»Schau, Lilli,« sagte ich, »er ist doch ein lieber Mensch und gewiß nur wieder deinetwegen hier – du solltest dich seiner erbarmen, du solltest ihm gut sein.... O, wenn du wüßtest, wie süß es ist, jemanden lieb zu haben, du würdest dein Herz nicht so verschließen. Geh, mach ihn glücklich, den guten Menschen.«

Lilli schaute mich erstaunt an. »Wenn er mir aber gleichgültig ist, Martha?«

»So liebst du vielleicht einen anderen?«

Sie schüttelte den Kopf: »Nein, niemand.«

»O du Arme!«

Wir fuhren noch zwei- oder dreimal die Allee auf und nieder. Aber denjenigen, nach welchem meine Blicke jetzt spähend umhersuchten, sah ich kein zweites Mal. Er hatte den Prater wieder verlassen.

Einige Tage später, um die Nachmittagsstunde, trat Tilling bei mir ein. Er traf mich jedoch nicht allein. Mein Vater und Tante Marie waren auf Besuch gekommen, und außerdem befanden sich noch Rosa und Lilli, Konrad Althaus und Minister »Allerdings« in meinem Salon.

Ich hatte Mühe, einen Überraschungsschrei zu unterdrücken: der Besuch kam mir so unerwartet und so freudig erregend zugleich. Aber mit der Freude war es bald vorüber, als Tilling, nachdem er die Anwesenden begrüßt und sich auf meine Einladung mir gegenüber niedergesetzt hatte, in kaltem Tone sagte:

»Ich bin gekommen, Ihnen meine Abschiedsaufwartung zu machen, Gräfin. Ich verlasse in den nächsten Tagen Wien.«

»Auf lange?« »Und wohin?« »Und warum?« »Und wieso?« fragten gleichzeitig und lebhaft die anderen, während ich stumm blieb.

»Vielleicht auf immer. – Nach Ungarn. – Zu einem anderen Regiment versetzen lassen. – Aus Vorliebe für die Magyaren,« gab Tilling nach den verschiedenen Seiten Bescheid.

Indessen hatte ich mich gefaßt. »Das war ein rascher Entschluß,« sagte ich möglichst ruhig. »Was hat Ihnen denn unser Wien zu leid getan, daß Sie es auf so gewaltsame Weise verlassen?«

»Es ist mir zu lebhaft und zu lustig. Ich bin in einer Stimmung, welche die Sehnsucht nach einsamer Pußta mit sich bringt.«

»Ach was,« meinte Konrad, »je trüber die Stimmung, desto mehr soll man Zerstreuung suchen. Ein Abend im Karltheater wirkt jedenfalls erfrischender als tagelange beschauliche Einsamkeit.«

»Das beste, um Sie aufzurütteln, lieber Tilling,« sagte mein Vater, »wäre wohl ein frischer, fröhlicher Krieg – aber leider ist jetzt gar keine Aussicht dazu vorhanden; der Friede droht sich unabsehbar auszudehnen.«

»Was das doch für sonderbare Wortzusammensetzungen sind,« konnte ich mich nicht enthalten zu bemerken: »Krieg und – fröhlich; Friede und – drohen.«

»Allerdings,« bestätigte der Minister, »der politische Horizont zeigt vor der Hand noch keinen schwarzen Punkt; doch es steigen Wetterwolken mitunter ganz unerwartet rasch auf – und die Chance ist niemals ausgeschlossen, daß eine – wenn auch geringfügige – Differenz einen Krieg zum Ausbruch bringt. Das sage ich Ihnen zum Trost, Herr Oberstleutnant. Was mich anbelangt, der ich kraft meines Amtes die inneren Angelegenheiten meines Landes zu verwalten habe, so müssen meine Wünsche allerdings nur nach möglichst langer Erhaltung des Friedens gerichtet sein; denn dieser allein ist geeignet, die in meinem Ressort liegenden Interessen zu fördern; doch hindert dies mich nicht, die berechtigten Wünsche derer anzuerkennen, welche vom militärischen Standpunkt allerdings –«

»Gestatten Sie mir, Exzellenz,« unterbrach Tilling, »für meine Person gegen die Zumutung mich zu verwahren, daß ich einen Krieg herbeiwünsche. Und auch gegen die Unterstellung zu protestieren, als dürfe der militärische Standpunkt ein anderer sein als der menschliche. Wir sind da, um, wenn der Feind das Land bedroht, dasselbe zu schützen, gerade so wie die Feuerwehr da ist, um, wenn ein Brand ausbricht, denselben zu löschen. Damit ist weder der Soldat berechtigt, einen Krieg, noch der Feuerwehrmann, einen Brand herbeizuwünschen. Beides bedeutet Unglück, schweres Unglück, und als Mensch darf keiner am Unglück seiner Mitmenschen sich erfreuen.«

»Du guter, teurer Mann!« redete ich im stillen den Sprecher an. Dieser fuhr fort:

»Ich weiß wohl, daß die Gelegenheit zu persönlicher Auszeichnung dem einen nur bei Feuersbrünsten, dem anderen nur bei Feldzügen geboten wird; aber wie kleinherzig und enggeißig muß ein Mensch nicht sein, damit sein selbstisches Interesse ihm so riesig erscheine, daß es ihm den Ausblick auf das allgemeine Weh verrammelt. Oder wie hart und grausam, wenn er es dennoch sieht und als solches mitempfindet. Der Friede ist die höchste Wohltat – oder vielmehr die Abwesenheit der höchsten Übeltat, – er ist, wie Sie selber sagten, der einzige Zustand, in welchem die Interessen der Bevölkerung gefördert werden können, und Sie wollten einem ganzen großen Bruchteil dieser Bevölkerung – dieser Armee – das Recht zuerkennen, den gedeihlichen Zustand wegzuwünschen und den verderblichen zu ersehnen? Diesen »berechtigten« Wunsch großziehen, bis er zur Forderung anwächst, und dann vielleicht sogar erfüllen? Krieg führen, damit die Armee doch beschäftigt und befriedigt werde – Häuser anzünden, damit die Löschmannschaft sich bewähren und Lob ernten könne?«

»Ihr Vergleich hinkt, lieber Oberstleutnant,« entgegnete mein Vater, indem er gegen seine Gewohnheit Tilling mit seinem militärischen Titel ansprach, vielleicht um ihn zu ermahnen, daß seine Gesinnungen mit seiner Charge nicht übereinstimmten.– »Feuersbrünste bringen nur Schaden, während Kriege dem Lande Macht und Größe zuführen können. Wie anders haben sich denn die Staaten gebildet und ausgebreitet, als durch siegreiche Feldzüge? Der persönliche Ehrgeiz ist wohl nicht das einzige, was dem Soldaten Freude am Kriege macht, vor allem ist es der nationale, der vaterländische Stolz, der da seine köstliche Nahrung findet; – mit einem Wort, der Patriotismus–«

»Nämlich die Liebe zur Heimat!« fiel Tilling ein. »Ich begreife nicht, warum gerade wir Militärs machen, als hätten wir dieses, den meisten Menschen natürliche Gefühl allein in Pacht. Jeder liebt die Scholle, auf der er aufgewachsen; jeder wünscht die Hebung und den Wohlstand der eigenen Landsleute; aber Glück und Ruhm sind durch ganz andere Mittel zu erreichen, als durch den Krieg; stolz kann man auf ganz andere Leistungen sein, als auf Waffentaten; ich bin zum Beispiel auf unseren Anastasius Grün stolzer, als auf diesen oder jenen Generalissimus.«

»Wie kann man einen Dichter mit einem Feldherrn nur vergleichen!« rief mein Vater. »Das frage ich auch. Der unblutige Lorbeer ist weitaus der schönere.«

»Aber lieber Baron,« sagte nun meine Tante, »so habe ich noch keinen Soldaten sprechen hören. Wo bleibt da die Kampfbegeisterung, wo das kriegerische Feuer?«

»Das sind mir keine unbekannten Gefühle, meine Gnädige. Von solchen beseelt, bin ich als neunzehnjähriger Junge zum erstenmal zu Felde gezogen. Als ich aber die Wirklichkeit des Gemetzels gesehen, nachdem ich Zeuge der dabei entfesselten Bestialität gewesen, da war es mit meinem Enthusiasmus vorbei, und in die nachfolgenden Schlachten ging ich schon nicht mehr mit Lust, sondern mit Ergebung.«

»Hören Sie, Tilling, ich habe mehr Kampagnen mitgemacht als Sie und auch Schauderszenen genug gesehen, aber mich hat der Eifer nicht verlassen. Als ich im Jahre 49 schon als ältlicher Mann mit Radetzky marschierte, war's mit demselben Jubel wie das erste Mal.«

»Entschuldigen Sie, Exzellenz – aber Sie gehören einer älteren Generation an, einer Generation, in welcher der kriegerische Geist noch viel lebendiger war, als in der unseren, und in welcher das Weltmitleid, das nach Abschaffung alles Elends begehrt und jetzt in immer größere Kreise dringt, noch sehr unbekannt war.«

»Was hilft's? Elend muß es immer geben – das läßt sich nicht abschaffen, ebensowenig wie der Krieg.« ...

»Sehen Sie, Graf Althaus, mit diesen Worten kennzeichnen Sie den einstigen, jetzt schon sehr erschütterten Standpunkt, auf welchem sich die Vergangenheit allen sozialen Übeln gegenüber verhielt, nämlich den Standpunkt der Resignation, mit der man das Unvermeidliche, das Naturnotwendige bedachtet. Wenn aber einmal beim Anblick eines großen Elends die zweifelnde Frage »Mußte es sein?« ins Herz gedrungen ist, so kann das Herz nicht mehr kalt bleiben, und es steigt neben dem Mitleid zugleich eine Art Reue auf – keine, persönliche Reue, sondern – wie soll ich sagen? – ein Vorwurf des Zeitgewissens.«

Mein Vater zuckte die Achseln. »Das ist mir zu hoch,« sagte er. »Ich kann Sie nur versichern, daß nicht nur wir Großväter mit Stolz und Freude an die durchgemachten Feldzüge zurückdenken, sondern daß auch die meisten von den Jungen und Jüngsten, wenn befragt, ob sie gern in den Krieg zögen, lebhaft antworten würden: Ja gern – sehr gern.«

»Die Jüngsten – gewiß. Die haben noch den in der Schule eingepflanzten Enthusiasmus im Herzen. Und von den anderen antworten viele dieses »Gern!«, weil es nach allgemeinen Begriffen als männlich und tapfer erscheint, das aufrichtige »Nicht gern« aber gar zu leicht als Furcht gedeutet werden könnte.«

»Ach,« sagte Lilli mit einem kleinen Schauder, »ich würde mich auch fürchten ... Das muß ja entsetzlich sein, wenn so von allen Seiten die Kugeln fliegen, wenn jeden Augenblick der Tod droht –«

»So etwas klingt aus Ihrem Mädchenmunde ganz natürlich,« entgegnet« Tilling, »aber wir müssen den Selbsterhaltungstrieb verleugnen ... Soldaten müssen auch das Mitleid, den Mitschmerz für den auf Freund und Feind hereinbrechenden Riesenjammer verleugnen, denn nächst der Furcht wird uns jede Sentimentalität, jede Rührseligkeit am meisten verübelt.«

»Nur im Krieg, lieber Tilling,« sagte mein, Vater, »nur im Krieg, im Privatleben haben wir, Gott sei Dank, auch weiche Herzen.«

»Ja, ich weiß: das ist so eine Art Verzauberung. Nach der Kriegserklärung heißt es plötzlich von allen Schrecknissen: »Es gilt nicht.« Kinder lassen manchmal diese Konvention in ihren Spielen walten. »Wenn ich dies oder jenes tue, so gilt es nicht,« hört man sie sagen. Und im Kriegsspiel herrschen auch solche unausgesprochene Übereinkommen: Totschlag gilt nicht mehr als Totschlag, Raub ist nicht Raub – sondern Requisition, brennende Dörfer stellen keine Brandunglücke, sondern »genommene Positionen« vor. Von allen Satzungen des Gesetzbuchs, des Katechismus, der Sittlichkeit heißt es da – solange die Partie dauert – »Es gilt nicht.« Wenn aber manchmal der Spieleifer nachläßt, wenn das verabredete »Gilt nicht« für einen Moment aus dem Bewußtsein schwindet und man die umgebenden Szenen in ihrer Wirklichkeit erfaßt und dies abgrundtiefe Unglück, das Massenverbrechen als geltend begreift, da wollte man nur noch eins, um sich aus dem unerträglichen Weh dieser Einsicht zu retten: – tot sein.«

»Eigentlich, es ist wahr,« bemerkte Tante Marie nachdenklich, »Sätze wie: Du sollst nicht töten – sollst nicht stehlen – liebe deinen Nächsten wie dich selbst – verzeihe deinen Feinden –«

»Gilt nicht,« wiederholte Tilling. »Und diejenigen, deren Beruf es wäre diese Sätze zu lehren, sind die ersten, welche unsere Waffen segnen und des Himmels Segen auf unsere Schlachtarbeit herabflehen.«

 

»Und mit Recht,« sagte mein Vater. »Schon der Gott der Bibel war der Gott der Schlachten, der Herr der Heerscharen ... Er ist es, der uns befiehlt, das Schwert zu führen, er ist es –«

»Als dessen Willen die Menschen immer dasjenige dekretieren,« unterbrach Tilling, »was sie getan sehen wollen – und dem sie zumuten, ewige Gesetze der Liebe erlassen zu haben, welche er, – wenn die Kinder das große Haßspiel aufführen –, durch göttliches »Gilt nicht« aufhebt. Genau so roh, genau so inkonsequent, genau so kindisch wie der Mensch, ist der jeweilig von ihm dargestellte Gott. Und jetzt, Gräfin,« fügte er hinzu, indem er aufstand, »verzeihen Sie mir, daß ich eine so unerquickliche Diskussion heraufbeschworen habe, und lassen Sie mich Abschied nehmen.«

Stürmische Empfindungen durchbebten mich. Alles, was er eben gesprochen, hatte mir den teuren Mann noch teurer gemacht ... Und jetzt sollte ich von ihm scheiden – vielleicht auf Nimmerwiedersehen? So vor anderen Leuten ein kaltes Abschiedswort mit ihm wechseln und damit alles zu Ende sein lassen? ... Es war nicht möglich: ich hätte, wenn die Türe sich hinter ihm geschlossen, in Schluchzen ausbrechen müssen. Das durfte nicht sein. Ich stand auf: »Einen Augenblick, Baron Tilling,« sagte ich ... »ich muß Ihnen doch noch jene Photographie zeigen, von der wir neulich gesprochen.«

Er schaute mich erstaunt an, denn es war zwischen uns niemals von einer Photographie die Rede gewesen. Dennoch folgte er mir in die andere Ecke des Salons, wo auf einem Tische verschiedene Albums lagen und – wo man sich außer Gehörweite der anderen befand.

Ich schlug ein Album auf und Tilling beugte sich darüber. Indessen sprach ich halblaut und zitternd zu ihm: »So lasse ich Sie nicht fort ... Ich will, ich muß mit Ihnen reden.«

»Wie Sie wünschen, Gräfin – ich höre.«

»Nein, nicht jetzt. Sie müssen wiederkommen ... morgen, um diese Stunde!«

Er schien zu zögern.

»Ich befehle es ... bei dem Andenken Ihrer Mutter, um welche ich mit Ihnen geweint –«

»O Martha!«

Der so ausgesprochene Name durchzuckte mich wie ein Glücksstrahl.

»Also morgen,« wiederholte ich, ihm in die Augen schauend.

»Um dieselbe Stunde.«

Wir waren einig. Ich kehrte zu den anderen zurück und Tilling, nachdem er noch meine Hand an seine Lippen geführt und die übrigen mit einer Verbeugung begrüßt hatte, ging zur Türe hinaus.

»Ein sonderbarer Mensch,« bemerkte mein Vater kopfschüttelnd. »Was er da alles gesagt hat, würde höheren Ortes kaum Beifall finden.«

* * *

Als am folgenden Tage die bestimmte Stunde schlug, gab ich, wie anläßlich seines ersten Besuches, Befehl, niemand anderen als Tilling vorzulassen. Ich sah der kommenden Unterhaltung mit gemischten Gefühlen leidenschaftlichen Bangens, süßer Ungeduld und – einiger Verlegenheit entgegen. Was ich eigentlich ihm sagen wollte, das wußte ich nicht genau – darüber wollte ich gar nicht nachdenken. ... Wenn Tilling etwa die Frage an mich stellte: »Nun denn, Gräfin, was haben Sie mir mitzuteilen – was wünschen Sie von mir?« so konnte ich doch nicht die Wahrheit antworten, nämlich: »Ich habe »Ihnen mitzuteilen, daß, ich Sie liebe; ich wünsche, daß – Du bleibst.« – Aber in so trockener Form würde er mich wohl nicht verhören und wir würden uns schon verstehen, ohne solche kategorische Fragen und Antworten. Die Hauptsache war: ihn noch einmal sehen – und wenn schon geschieden sein mußte, so doch nicht ohne vorher ein herzliches Wort gesprochen, ein inniges Lebewohl getauscht zu haben. Bei dem blos gedachten Worte Lebewohl füllten sich meine Augen mit Tränen. –

In diesem Augenblick trat der Erwartete ein. »Ich gehorche Ihrem Befehle, Gräfin und – was ist Ihnen?« unterbrach er sich. »Sie haben geweint? Sie weinen noch?«

»Ich? ... nein ... es war der Rauch – im Nebenzimmer, der Kamin ... Setzen Sie sich, Tilling ... Ich bin froh, daß Sie gekommen sind –«

»Und ich glücklich, daß Sie mir befohlen haben zu kommen – erinnern Sie sich? im Namen meiner Mutter befohlen ... Auf das hin habe ich mir vorgenommen, Ihnen alles zu sagen, was mir auf dem Herzen liegt. Ich –«

»Nun – warum halten. Sie inne?«

»Das Sprechen wird mir schwerer noch, als ich glaubte.«

»Sie zeigten mir doch so viel Vertrauen – in jener schmerzlichen Nacht, wo Sie an einem Sterbebette wachten. – Wie kommt es, daß Sie jetzt so alles Vertrauen wieder verloren haben?«

»In jener feierlichen Stunde war ich aus mir selber herausgetreten – seither hat mich wieder meine gewohnte Schüchternheit erfaßt. Ich sehe ein, daß ich damals mein Recht überschritten – und um es nicht wieder zu überschreiten, hatte ich Ihre Nähe geflohen.«

»In der Tat ja: Sie scheinen mich zu meiden. Warum?«

»Warum? Weil – weil ich Sie anbete.«

Ich antwortete nichts, und um meine Bewegung zu verbergen, wandte ich den Kopf ab. Auch Tilling war verstummt. Endlich faßte ich mich wieder und brach das Schweigen: »Und warum wollen Sie Wien verlassen?« fragte ich.

»Aus demselben Grunde.«

»Können Sie Ihren Entschluß nicht mehr rückgängig machen?«

»Ich könnte wohl – noch ist die Versetzung nicht entschieden.«

»Dann bleiben Sie.« Er faßte meine Hand – »Martha!« Es war zum zweitenmal, daß er mich bei meinem Namen nannte Diese beiden Silben hatten einen berauschenden Klang für mich ... Darauf mußte ich etwas erwidern, was ihm ebenso süß klänge – auch zwei Silben, in welchen alles lag, was mir das Herz schwellte, und meinen Blick zu ihm erhebend sagt ich leise: »Friedrich!«

In diesem Augenblicke öffnete sich die Tür und mein Vater kam herein.

»Ah, da bist du ja! Der Bediente sagte, du wärest nicht zu Hause ... ich aber antwortete, daß ich auf dich warten wollte ... Guten Tag, Tilling! Nach Ihrem gestrigen Abschied bin ich sehr überrascht, Sie hier zu finden –«

»Meine Abreise ist wieder aufgehoben, Exzellenz, und da kam ich –«

»Meiner Tochter eine Antrittsvisite machen? Schön. Und jetzt wisse, was mich zu dir führt, Martha. Es ist eine Familienangelegenheit ....«

Tilling stand auf:

»Dann störe ich vielleicht?«

»Meine Mitteilung hat ja keine solche Eile.« –

Ich wünschte Papa samt seiner Familienangelegenheit zu den Antipoden. Ungelegener hätte mir keine Unterbrechung kommen können. Tilling blieb jetzt nichts anderes übrig, als zu gehen. Aber nach dem, was eben zwischen uns vorgefallen, bedeutete Entfernung keine Trennung: Unsere Gedanken, unsere Herzen blieben beieinander.

»Wann seh' ich Sie wieder?« fragte er leise, als er mir zum Abschied die Hand küßte.

»Morgen um neun Uhr früh im Prater, zu Pferd,« antwortete ich rasch im selben Tone.

Mein Vater grüßte den Fortgehenden ziemlich kalt, und nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen:

»Was soll das bedeuten?« fragte er mit strenger Miene. »Du lassest dich verleugnen – und ich finde dich in tête-à-tête mit diesem Herrn?«

Ich wurde rot – halb in Zorn, halb in Verlegenheit.

»Was ist die Familienangelegenheit, welche du –«

»Das ist sie. Ich wollte deinen Courmacher nur entfernen, um dir meine Meinung sagen zu können .... Und ich betrachte es als eine für unsere Familie sehr wichtige Angelegenheit, daß du, Gräfin Dotzky, geborene Althaus, deinen Ruf nicht etwa verscherzest.«

»Lieber Vater, der sicherste Wächter meines Rufes und meiner Ehre ist mir in der Person des kleinen Rudolf Dotzky gegeben, und was die väterliche Autorität des Grafen Althaus anbelangt, so lasse mich in aller Ehrerbietung dich erinnern, daß ich in meiner Eigenschaft als selbständige Witwe derselben entwachsen bin. Ich beabsichtige nicht, mir einen Liebhaber zu nehmen, denn das ist's, was du zu vermuten scheinst; aber wenn ich mich entschließen wollte, wieder zu heiraten, so behalte ich mir vor, ganz frei nach meinem Herzen zu wählen.«

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