Buch lesen: «Liebes Leben»

Schriftart:


Bernhard und Magda Bauer:

Liebes Leben

Alle Rechte vorbehalten

© 2016 edition a, Wien

www.edition-a.at

Cover: JaeHee Lee

Gestaltung: Peter Chalupnik

Gesetzt in der Premiera

Gedruckt in Europa

2 3 4 5 – 19 18 17 16

Print-ISBN 978-3-99001-176-8

eBook-ISBN 978-3-99001-181-2

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Hinweis:

Aus Gründen der Übersichtlichkeit und Lesbarkeit, wurde beim Verfassen des vorliegenden Buches auf geschlechtsneutrale Formulierungen verzichtet.

Sofern es aus dem Kontext nicht anders hervorgeht, sind stets Frauen sowie Männer gleichermaßen gemeint und angesprochen.


»Wer sich nicht entwickeln will, wird eine Affäre haben, sich scheiden lassen oder in völlige Gleichgültigkeit verfallen und eine schlechte Beziehung führen.«

David Schnarch

Paar- und Sexualtherapeut


Zum Aufwärmen

Sonst bringt unsere Schwiegertochter sonntags Kuchen mit. Das hat sich so eingebürgert, weil sie gut backen kann. Doch diesmal kam mein Sohn allein. »Deine Eltern müssen etwas mit dir besprechen«, hatten wir ihm gesagt.

Kuchen zum Kaffee gab es trotzdem. Wir haben immer welchen in der Küche stehen. Marillenkuchen oder Topfenstrudel. Diesmal war es Ribiselkuchen. Ribiseln hatten zwar gerade keine Saison, aber wir hatten welche aus dem Garten tiefgefroren.

Mein Sohn ist fast 50. Er arbeitet für eine Bank und ist mit seinem Leben zufrieden. Er hatte nicht nachgefragt, als wir ihn zu uns gebeten hatten, und er hatte sich deshalb bestimmt keine Gedanken gemacht. Dieses »Deine Eltern müssen etwas mit dir besprechen« hatte er schließlich nicht zum ersten Mal von uns gehört. Es ging bei solchen Gelegenheiten immer um Dinge, die innerhalb der Familie zur Klärung anstanden, Hilfe beim Haus und Ähnliches.

Wir waren ziemlich nervös. Er hatte ja noch keine Ahnung. Wir hatten kein Problem damit gehabt, es allen unseren Freunden zu sagen. Wirklich nicht. Unser Standpunkt war: Wenn jemand ein Problem damit hatte, dann war es seines, nicht unseres. Wir hatten auch kein Problem damit gehabt, ein Buch darüber zu schreiben und es damit jedem zu sagen, der etwas darüber lesen will, also zum Beispiel Ihnen. Aber dem eigenen Kind? Unserem Sohn?

Wir saßen zu dritt im Wohnzimmer unseres Hauses am Laaerberg am Stadtrand von Wien, und er lobte den Kuchen. »Deine Eltern haben ein Buch geschrieben«, sagten wir, und noch ehe er über das Thema zu raten anfangen konnte, noch ehe er überhaupt die Stirn runzeln konnte, fügten wir hinzu: »Es geht darin um Sex.«

Wir erzählten ihm, dass seine Mutter, während sein Vater schon schlief, eines Tages etwas im Fernsehen gesehen hatte, etwas über Swingerklubs, und dass wir am nächsten Tag darüber sprachen, was Swingerklubs eigentlich seien, was dort geschehe, und dass es schon interessant sei, was Menschen so taten. Wir erzählten ihm, dass wir uns bei dieser Gelegenheit gewisse Abnützungserscheinungen in unserem eigenen Liebesleben eingestanden hatten, vorsichtig natürlich, dass damit alles angefangen hatte, und dass wir jetzt Dinge taten, über die wir uns früher nie gewagt hätten, nicht allein und schon gar nicht zu zweit.

»Das ist ja toll«, sagte er. Er strahlte richtig.

»Wirklich?«, fragten wir.

»Wirklich«, sagte er. »Ich bin stolz auf euch. Bloß eins müsst ihr verstehen: Ich würde das Buch sicher lesen, wenn es ein anderes Ehepaar geschrieben hätte, weil es mich interessieren würde. Aber bei meinen Eltern ist das etwas anderes. Das geht nicht.«

Wir lachten alle. Wir hatten uns die Sorgen, wie wir ihm das mit dem Sex und dem Buch beibringen könnten, umsonst gemacht.

Als wir diese Hürde einmal überwunden hatten, gab es keine weitere mehr. Es hätte ja auch keinen Sinn gehabt, und es wäre zudem auch gänzlich unmöglich gewesen, so ein Buch mit der privaten und in vielerlei Hinsicht provokanten Wahrheit über unser Liebesleben zu schreiben und dann den Mantel des Schweigens darüber zu breiten.

Jetzt halten also Sie dieses Buch in der Hand. Wir wissen nicht, warum Sie es lesen. Vielleicht haben Sie noch nie daran geglaubt, dass das Verlöschen der Leidenschaft in einer Ehe eine Art Naturgesetz und nur eine Frage der Zeit ist, und wollen sich darin bestätigt fühlen. Vielleicht hat Sie auch genau das bisher vom Heiraten abgehalten, und jetzt wollen Sie nachlesen, ob es sich doch auszahlen könnte. Vielleicht sind Sie jung und wollen wissen, wie es sein könnte, wenn Sie alt sind und trotzdem noch das Leben genießen wollen.

Vielleicht haben Sie auch einfach nur von unserem Buch gehört und sich gedacht, dass es lustig und jedenfalls ziemlich schräg sein könnte. Weil ihnen jemand ein paar Szenen daraus erzählt hat, zum Beispiel die, wie wir einen Callboy mit einem Abschlagshonorar wieder vor die Tür setzten, weil er so schrecklich hässlich war. Oder wie wir ständig auf unseren Grenzen beharren müssen, weil regelmäßig andere Paare, mit denen wir uns hätten verabreden können, für uns unangenehme Dinge wollen, Analverkehr zum Beispiel, oder andere, die eigentlich aufs WC gehören. Vielleicht wollen Sie auch nur lesen, wie wir es mit bald 70 schaffen, schon bei erotischen Frühstücksgesprächen Spannung aufzubauen.

Wir wissen wie gesagt nicht, warum Sie es lesen, aber wir wissen, warum wir es geschrieben haben. Weil wir glauben, dass das Schweigen über Themen wie jenes angeblich schicksalhafte Verglühen der Leidenschaft in der Ehe oder über die wahren Sehnsüchte und Wünsche der Ehepartner viel Schaden anrichtet. Denn eine Ehe muss sich entwickeln, im sozialen und emotionalen genau wie im sexuellen Bereich, oder sie scheitert. Wenn Stummheit herrscht, diese fatale stumme Einsamkeit zu zweit, kann eine Ehe nur scheitern.

Denn dieses Schweigen führt zur Suche nach Erfüllung anderswo, hinter dem Rücken des Partners oder der Partnerin, und das führt zum Bruch. Paare, die miteinander eine Chance hätten, können sie wegen dieses Schweigens nicht nützen. Ehen zerbrechen, Kinder verlieren einen Elternteil oder vielleicht auch Oma oder Opa, und das alles ist mit viel Schmerz verbunden.

Wir haben dieses Buch bestimmt nicht geschrieben, damit Sie das Gleiche tun, was wir tun. Denn jeder Mensch ist anders, und jeder Mensch kann sich nur selbst entdecken. Wir möchten Ihnen aber gerne helfen, die Klischees über Sex in der Ehe und Sex im Alter zu vergessen und den Mut zu fassen, alles noch einmal neu zu entdecken. Wir möchten Ihnen zeigen, dass es möglich ist, und dass das Leben dann, trotz aller Widrigkeiten, die wir dabei auch erlebt haben, noch einmal neu zu beginnen scheint.

Wir möchten Sie allerdings nicht zu dem Versuch verleiten, etwas in Ihrer Ehe oder Partnerschaft zu erzwingen. Vor allen anderen Dingen geht es beim Sex ums Reden. Selbst beim Reden lässt sich nichts erzwingen. Vielleicht ist Ihr Partner oder Ihre Partnerin zuerst überfordert, dann lassen Sie es besser und fangen bei einer anderen Gelegenheit noch einmal damit an.

Bedenken Sie dabei, dass auch ein »Nein« nicht unbedingt ein endgültiges sein muss. Vielleicht will Ihr Partner oder Ihre Partnerin noch einmal erobert werden, vielleicht fragt er oder sie sich auch, was Sie von ihm oder ihr denken würden, wenn er oder sie zu vielleicht abenteuerlichen neuen Wegen in Ihrem Liebesleben gleich Ja sagen würde. Wir Menschen sind so.

Es gibt zum Glück einen einfachen Weg, um das alles herauszufinden: nicht nur reden, sondern auch einmal zuhören.

Die Wege, die wir beide gegangen sind und weiterhin gehen werden, sind für uns manchmal abenteuerlich. Es geht aber nicht darum, zu weißhaarigen Sexmonstern zu werden. Wir sind das nicht und wollten es auch nie sein. Wir haben Sex, das ja. Wir haben regelmäßigen Sex. Wir haben mehr Sex als früher. Aber wir haben keinen Sex, wenn nicht alles passt. Wenn wir es nicht schaffen, erotische Spannung aufzubauen, dann geht nichts. Dann wird es ein Flop.

Doch wenn die richtige Grundstimmung da ist, dann reichen schon kleine Auslöser, die überall zu finden sind. Jüngst war es der erste Teil eines erotischen Zweiteilers, der spät am Abend im Fernsehen lief. Er war sehr animierend. Wir essen jetzt noch jeder ein Stück Kuchen, dann sehen wir uns den zweiten Teil an.

Bernhard

Das Kornfeld sah aus wie ein riesiges Bett. Genau was wir gesucht hatten. Magda und ich. Vermutlich mehr ich. Ich wollte sie. Irgendwie. Irgendwo. Wir waren zu Besuch bei ihren Eltern, und das Kornfeld war mir recht. Auch wenn es schon von Weitem nicht so bequem aussah, nicht nach dem »Bett im Kornfeld«, von dem später Jürgen Drews sang.

Ich nahm sie an der Hand. Sie ließ sich nicht führen. Sie ging gleichauf mit mir. In der gleichen Stimmung wie ich, glaube ich. Als wir dort waren, war alles egal. Ich breitete noch rasch meine Jacke aus.

Magda zog ihre Bluse aus. Die hellblaue, die ich so mochte. Ich sah ihre festen Brüste, nicht zu groß und nicht zu klein, der BH hatte etwas Griffiges zu halten. Magda war für mich die schönste Frau der Welt.

Halme stachen mich in den Unterarm. Es störte mich nicht. In manchen Situationen waren neben Dingen wie die Zeit und die Welt auch Banalitäten wie die Widrigkeiten der Natur nebensächlich. Wir bewegten uns in der Unendlichkeit des Augenblicks.

Ich beugte mich über Magda. Küsste ihre Brüste. Sie hatte ihr Höschen abgestrampelt. Öffnete ihre Beine. Ich war erregt, seit wir vom Haus ihrer Eltern weggegangen waren. Eigentlich schon seit wir das Haus betreten hatten. Seit ich Magda zum ersten Mal gesehen hatte.

Sie stöhnte. Es schien aus ihrem tiefsten Inneren zu kommen. Ich küsste sie. Ich liebte sie.

Sanft.

Heftig.

Sanft.


Heftig.

Heftiger.

Und heftiger.

Sie bog ihren Kopf zurück. Sie öffnete den Mund.

Die Natur um uns hielt den Atem an. So schien es mir. Insekten blieben flügelschlagend in der Luft stehen. Die Luft flirrte. Jetzt würde gleich etwas passieren.

Unser Atem ging noch schneller. Dann schlugen keine Flügel mehr. Ein Höhepunkt hob uns in die Höhe. Gemeinsam. Noch so ein Stöhnen. Von ganz tief innen.

Wir blieben noch eine Weile liegen. Die Halme stachen und kratzten. Jetzt merkten wir es. Es begann uns zu stören. Der Vulkanausbruch war vorbei, das Kornfeld endgültig kein Bett mehr.

Als wir zurück in das Haus ihrer Eltern kamen, dachten wir: Sie müssen es uns doch ansehen. Es muss uns doch ins Gesicht geschrieben sein. So etwas Großes konnte doch nicht ohne sichtbare äußere Spuren an uns vorübergegangen sein. Doch ihre Eltern redeten weiter die gleichen Dinge wie zuvor. Wir dachten: Unsere Welt ist groß, die aller anderen ist klein.

Warum fiel mir das alles ein? Jetzt? Am Altar? Kurz bevor wir uns das Ja-Wort geben würden?

Magda

Das Erste, was ich von ihm sah, waren seine weißen Handschuhe. Nicht den dunkelgrauen Anzug, das strahlend weiße Hemd, nicht die Manschettenknöpfe, die aufpolierten Schuhe, nicht einmal die weiße Fliege sah ich. Nur diese weißen Handschuhe. Die kenne ich gar nicht, dachte ich, als wäre mir der ganze Mann fremd. Seltsam, was man so denkt.

Ich raffte mein Kleid hoch, obwohl es da wenig zu raffen gab. Es war schlicht geschnitten mit ein paar Spitzen, eher konservativ. Ich ging auf die weißen Handschuhe zu, die sich mir entgegenstreckten, und auf einmal waren sie mir vertraut. So wie der ganze Mann.

Bernhard

Weiße Handschuhe aus Baumwolle. Das war so. Das trug man. Als Bräutigam. Und da stand ich jetzt. In der Kirche. Den Altar im Rücken. Dunkelgrauer Anzug. Blendend weißes Hemd. Manschettenknöpfe. Weiße Fliege. Die Schuhe poliert. Rechts gescheitelt die Haare. Was für eine Verwandlung. Vor ein paar Tagen noch war ich in der grünen Uniform des österreichischen Bundesheeres gesteckt. Ein Soldat ohne Sinn und Krieg. Aber vor keinem Gefecht hätte ich aufgeregter sein können als jetzt. Und hier. In der Kaasgrabenkirche in Wien-Grinzing. Vor meiner Hochzeit. Irgendwie hielt ich mich aufrecht auf meinen Zitterknien. Ich wartete auf meine Braut. Und auf Pater Beda, der ein dicker, gemütlicher Mann war. Eine joviale Tonne, die uns gleich trauen würde.

Ich heiratete also. Mit 20. Meine Magda. Diesen Traum von einer Frau, die im nächsten Moment auf mich zukommen würde. Ihr Kleid. Ohne viel Drumherum. So wie sie selbst. Was hat sie darunter an? Das fragte ich mich. Insgeheim. Da, mitten in der Kirche. Weiße Spitze? Schwarz? Oder sogar etwas Rotes? In ein paar Stunden würde ich es sehen. Aber ich hatte kein Gefühl für die Zeit. Es war eher ein Gefühl von Ewigkeit. Alles gehörte uns. Der Tag. Die Welt. Die Zukunft.

Vor vier Monaten hatten wir uns zum ersten Mal geküsst. Vier Monate waren keine lange Zeit, um daraus eine gemeinsame Zukunft zu entwickeln. Doch an uns beiden würde nicht zu zweifeln sein. So viel konnte ich sicher sagen. Ich hatte es im ersten Augenblick gewusst.

Sie ist es.

Sie wird es immer sein.

So wie man sich das vorstellt. Man sieht jemanden. Und von den Eingeweiden bis zum Haaransatz spürt man die Richtigkeit. So war das. Magda und ich. Das war etwas Haltbares. Von nun an. Von diesem Jahr an. 1966. Es war ein gutes Jahr. Bisher mein bestes.

Wir hatten uns den Juli ausgesucht. Alle wollten immer im Mai heiraten. Wonnemonat. Oder im Juni. Wir hatten den 1. Juli gewählt. Absichtlich. Weil es da wahrscheinlich war, dass die Sonne schien, hatte Magda gesagt. Sie hatte recht behalten. Der Himmel strahlte wie eine Verheißung. Sicher, schien er zu sagen, ihr geht ins Blaue, und doch ist es sonnenklar, wohin euer Weg euch führt. Warm war mir in dem dunkelgrauen Anzug.

Magda ließ auf sich warten. Zwei geschwungene Treppen führten herauf zum Portal. Deswegen war die neubarocke Kirche bei Hochzeitspaaren so beliebt. Sie hatte etwas Majestätisches. Magda wird sich auf der Treppe Zeit lassen, dachte ich. Von meinem Warteposten vor dem Altar konnte ich schlecht nach draußen sehen.

Ich schaute mich in der Kirche um. Etwa sechzig Gäste waren gekommen. Die Bänke waren gut besetzt. Familie. Freunde. Ihre links. Meine rechts. Die Damen herausgeputzt. Die meisten mit Hut. Auf den Zehenspitzen waren sie hereingetrippelt in ihren hohen Schuhen. Festlich gekleidet wie die Männer.

Sie alle sahen mich an. Alle mit unglaublich ernsten Gesichtern. Das Feierliche liegt ganz nah am Ernsten. Die getragene Stimmung war körperlich zu spüren. Du gibst ihr jetzt das Eheversprechen, stand in allen Mienen. Und ein großes ,Ui‘ gleich daneben. ,Ui‘ für ,Man-weiß-halt-nie-was-da-noch-kommen-wird‘.

Das hier ist der schönste Tag eures Lebens, stand dort auch. Was zwangsläufig hieß, dass alle folgenden Tage nicht mehr so schön sein würden. Ja, dachte ich, das mag ja so sein. Bei den anderen.

Ich versuchte, mich an den Ablauf der Zeremonie zu erinnern. Wir hatten ihn besprochen. Ein paar Mal sogar. Jetzt war alles weg. Ich hoffte, es würde so sein wie bei allem Unbekannten. Sobald es da ist, verschwindet die Angst. Das Flaue. Wieder spürte ich meine Zitterknie. Was ist, Bernhard, fragte ich mich, was soll denn flau sein an diesem Schritt?

Gerade war mir noch heiß gewesen in meinem Hochzeitsstaat. Jetzt fand ich es angenehm kühl in der Kirche. Etwas stickig. Vielleicht lag das nur an der Fliege. Oder am Hemdkragen. Ich sah zu meinen Eltern. Sie bewegten sich nicht. Minutenlang. Wie Wachsfiguren sahen sie zu, während ihr Sohn in ein neues Leben ging. Mein Bruder war mein Trauzeuge, Magdas Schwager der ihre. Es roch nach Weihrauch. Und den weißen Chrysanthemen. Pater Beda lugte aus der Sakristei. Ein Baby schrie. Dann verdunkelte sich der Kircheneingang. Magda erschien im Torbogen.

Magda

Im ersten Moment konnte ich nichts sehen. Ich stand zwischen dem Sonnenschein und dem Dunkel in der Kirche. Meine Augen mussten sich erst daran gewöhnen. Unwillkürlich rückte ich den Schleier zurecht. Vorsicht, dachte ich und ließ die Hand wieder sinken. An der Hochsteckfrisur hatten meine Freundinnen lange gearbeitet. Genauso wie am Krönchen. Es hatte gedauert, bis es richtig saß.

Langsam konnte ich etwas erkennen in dem dunklen Raum. Die Silhouetten bekamen Gesichter. Die Kühle legte sich angenehm auf meine Wangen, ein Gefühl von Gelassenheit gab sie mir nicht. Bei jedem Schritt hatte ich Angst zu fallen, bei jedem Atemzug rechnete ich damit, mein Kleid zu sprengen. Es war mir nicht zu eng. Ich hatte es absichtlich etwas weiter schneidern lassen. Diesen Platz brauchte ich jetzt auch. Ich dachte: Das müssen die Leute meinen, wenn sie sagen: »Das Herz geht mir auf.«

Pater Beda kam aus der Sakristei und watschelte hinter den Altar. Ich lächelte über seine Art zu gehen, konzentrierte mich aber gleich wieder. Ich wusste nicht genau, ob ich lächeln durfte vor der Hochzeit. Nachher ja, aber vorher? Ernst des Lebens und so. Ich hätte Pater Beda fragen sollen.

Ich hatte ihn aus dem Weinviertel mitgebracht, den Pater, aus meiner Heimatgemeinde. Ein bisschen hatte ich mich gefürchtet vor unserem ersten Treffen und war auf eine Predigt gefasst gewesen. Schwanger vor der Hochzeit. Aber er verlor kein Wort darüber. Er war keiner, der gerne mahnte, er aß lieber. Eigentlich hätte ich das von früher wissen müssen. Ich hatte ihm immer alles gebeichtet. Egal, was ich zu beichten hatte, er nickte und sagte gütig immer das Gleiche: »Ein Vaterunser, zwei Ave-Maria.« So schnell war ich meine Sünden los. Wer weiß, ob er überhaupt so genau zugehört hatte.

Mein Vater neben mir drückte leicht meinen Arm. Wir machten die ersten Schritte auf den Altar zu. Da waren ja die Karaseks. Vermögende Künstlerfamilie, so sahen sie auch aus, im Vergleich zu der bieder aufgeputzten Schar der anderen Gäste. So viel Glück hatten sie mir gewünscht, als sie es erfahren hatten. Ich, ihre Gesellschaftsdame, ging ins Eheleben. »Die Ehe ist eine Kunst«, hatten sie gesagt, und wir hatten mit Champagner angestoßen.

Ich hatte immer gern bei ihnen gewohnt, in ihrer Villa, für Kost und Logis und einen angemessenen Lohn. Ihr Haus in der Himmelstraße im Bezirk Döbling, unweit der Kirche, war ein Schmuckstück. Das Kaminzimmer, die Bücher, ein bisschen dunkel vielleicht, aber wunderschön. Und heute Nacht würden Bernhard und ich dort … Jetzt brauchte er nicht mehr durchs Fenster einzusteigen. Mein Mann. Ich würde mich erst daran gewöhnen müssen.

Mein Bernhard. Ich wusste noch ganz genau, wie wir uns vor vier Monaten in der Tenne zum ersten Mal begegnet waren. Die Bambis sangen. Melancholie im September. Das ist alles … was mir blieb … vor dir. Mir war der ganze Bernhard geblieben.

»Den will ich oder keinen«, sagte ich zu meiner Freundin.

Es gab sie also wirklich, die Liebe auf den ersten Blick. Er sah zu mir herüber, aber mehr nicht. Warum holt mich der Depp nicht zum Tanzen, dachte ich. Dann kam er und fragte, ob er mich auf ein Getränk einladen durfte, auf eine Coca-Cola.

Er forderte mich auf, zu einem langsamen Lied, und sah mir unentwegt in die Augen, bis mich schwindelte. Vielleicht waren es auch die Drehungen. Irgendwie war ich aus dem Schwindelgefühl nicht mehr herausgekommen in den vergangenen vier Monaten. Jetzt würden wir ein Kind bekommen. Meiner Meinung nach einen Buben. Frauen wissen so etwas. Sie spüren es. Was mag das Morgen bringen, dachte ich, uns als Familie? Wird das Leben gut zu uns sein?

Der Altar kam näher. Wir ließen uns weiterhin Zeit, mein Vater und ich. Er schien keine Eile zu haben, mich zu übergeben, und ich ging bewusst langsam. Sie ist so kurz, die Zeremonie, hatte mir jemand gesagt, also lass dir Zeit, wenn du nach vorne gehst, danach bleibt dir nur die Erinnerung. Ich hatte mich an das Kirchendunkel gewöhnt, ich sah jetzt mehr als Bernhards weiße Handschuhe. Ich sah seine Augen.

Dicht vor ihm blieben wir stehen, eine kleine Ewigkeit lang bewegte sich keiner von uns dreien. Dann streckte Bernhard die Hand aus, mein Vater nahm meine von seinem Arm, in den ich mich eingehängt hatte, und legte sie in die mit dem weißen Handschuh. Ich sah zu meinem Vater. Er soll gut auf dich aufpassen, formten seine Lippen, dann ließ er mich los. Ich trat neben Bernhard, und wir drehten uns zum Altar um.

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