Buch lesen: «Тотеnтаnz / Пляска смерти. Книга для чтения на немецком языке», Seite 5

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XII

«Sie erlauben, dass ich liegenbleibe, lieber Freund». sagte Fahle mit dünner, kraftloser Stimme. «Ich kann Sie auch so willkommen heißen und Ihnen danken für Ihren Besuch bei einem Verfemten43». Er deutete mit seiner weißen, durchsichtigen Hand auf einen Korbsessel an seiner Seite.

Fabian begrüßte ihn mit herzlichen Worten.

Sanitätsrat Fahle nickte. «Sie sehen, die Erregungen der letzten Monate haben mich niedergeworfe», fuhr er fort. «Heute versuchte ich noch ein wenig, die letzten Sonnenstrahlen zu genießen».

Fahle hatte stets das asketische, magere Gesicht eines Menschen gehabt, der Zeit seines Lebens geistig arbeitete, heute aber erweckte er den Eindruck eines leidenden Greises. Sein kurzer Bart schien dünner geworden zu sein und erschien nun fast weiß. Der hohe Schädel war fast völlig kahl, und in seinem abgezehrten Kopf lebten nur noch die dunklen Augen mit den buschigen dunkelgrauen Brauen. An seiner Rechten trug er wie stets einen Handschuh, um die Verstümmelungen zu verbergen, die er vor einem Menschenalter bei Experimenten mit Röntgenstrahlen erlitt. «Ich liege hier und denke daran, wie schön das deutsche Land is», begann er von neuem und richtete die dunklen Augen voller Trauer auf den kleinen Park, wo eine exotische Buche mit rotem Laub stand, als sei sie soeben in Flammen aufgegangen. «Können Sie begreifen, wie schwer es ist, nicht mehr dabeizusein, ausgeschlossen zu sein aus einem Lande, in dem man aufwuchs und siebzig Jahre alt wurde? Können Sie das? Ich sehe vor mir das Gebäude des deutschen Geistes, unsichtbar für die meisten, kristallen und herrlich, vor dem die ganze Kulturwelt Achtung empfand. Ich bin stolz, dass auch ich mit meinen bescheidenen Kräften an diesem Gebäude mitarbeiten durfte! Ich sehe vor mir das Reich der Forscher und Wissenschaftler, das erhabene Reich der Musik, Dichtkunst und Philosophie. Es ist nicht leicht, all diese Reiche zu überblicken! Ein ganzes Leben lebte ich in diesen Reichen, und heute bin ich gezwungen, ausschließlich in ihnen zu leben, da ich meine irdische Heimat verloren habe. Können Sie die Befriedigung begreifen, die mich bei dem Gedanken erfasst, dass man mich aus diesen Reichen nicht vertreiben kann. Können Sie das». Er schwieg, den Blick auf Fabian gerichtet, und strich mit seiner durchsichtigen Hand über den fast weiß gewordenen Bart, so leicht, dass seine Fingerspitzen ihn kaum berührten.

«Ich glaube, Sie zu verstehe», entgegnete Fabian, erschüttert von der Trauer des alten Mannes.

Ein Lächeln erwachte in Fahles Zügen. «Befriedigung». fuhr er fort, ohne Fabians Einwurf zu beachten. «Wenn ich zur Zeit nicht an einer Depression litte, würde ich sagen: das Glück? Können Sie das Glück begreifen? Es ist mein kostbarster Besitz, und niemand kann ihn mir nehmen. Niemand, niemand».

Marion kam auf die Terrasse und brachte Kaffee, den sie mit heiteren Worten servierte. Das weiße Kätzchen lief wie ein Hund hinter ihr her.

Marion lachte belustigt auf. «Du siehst, Pap», rief sie aus, «ich habe eine ernste Eroberung gemacht».

Fahles Augen strahlten beglückt. «Du eroberst nicht nur Menschen, mein Kin», rief er.

Marion ergriff das Kätzchen und setzte es auf ihre Schulter. Mit einem hellen Lachen verließ sie die Terrasse.

Der beglückte Ausdruck verklärte noch immer Fahles dunkle Augen, als er ihr mit den Blicken folgte. «Ich danke Got», sagte er zu Fabian, «dass das Geschick Marion nicht so zermalmend niederdrückt wie ihren alten Vater. Sie trägt es tapferer als ich, mit der Tapferkeit der Jugend, die ja selbst den Tod nicht fürchtet, weil sie nicht an ihn denkt. Ihr Herz ist voller Heiterkeit und Lachen. Sie wissen, dass man ihr das Studium an der Universität untersagt hat».

Fabian nickte und errötete stark, da er sich wieder der Taktlosigkeit seiner Frage beim Eintritt erinnerte.

«Welch eine schmachvolle Bestimmung». fuhr Fahle fort. «Bedenken Sie, es ist die gleiche Universität, an der Marions Großvater zwanzig Jahre lang einen Lehrstuhl für Augenchirurgie innehatte». Fahle hielt einen Moment inne und richtete die Blicke wieder düster auf den Park. «Heute ist sie in der jüdischen Schule als Lehrerin tätig. Sie haben dort dreißig Schüler und nur einen kellerähnlichen Unterrichtsraum. Aber das Unterrichten befriedigt sie, und sie scheint glücklich zu sein. Wenigstens habe ich von ihr noch nie die leiseste Klage gehört». «Es sind schwere Prüfungen für alle Wel», sagte Fabian. «Sie erinnern sich wohl meiner Ansichten über diese unsinnigen Dinge? Ich habe mein Urteil darüber bis heute nicht geändert und werde es auch niemals ändern. Übrigens bin ich noch immer überzeugt, dass alle diese unbegreiflichen Maßnahmen Übergangserscheinungen und vorübergehend sind».

Fabian gelang es, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. Er erzählte von seiner Kur, den Sanatorien, den Ärzten, den Bädern, den Spaziergängen, der Verpflegung. Das Interesse des Sanitätsrats erwachte nach kurzer Zeit, und schon warf er kurze Fragen dazwischen, erbat Ergänzungen über das und jenes, lobte, tadelte. Bald hatte er seine niedergedrückte Stimmung völlig überwunden, und etwas von seiner gewohnten alten Lebendigkeit kehrte zurück.

«Ich freue mich über Ihre Fortschritte, die ja unverkennbar sin», sagte er schließlich. «Und nun darf ich wohl von meinen eigenen Sorgen sprechen und von der Angelegenheit, in der ich Ihre Hilfe und Ihren Rat nötig habe».

Fabian beteuerte, dass er alles tun werde, was in seine Macht stände. «Verfügen Sie über mic», versicherte er.

«Ich wusste ja, dass ich mich auf Sie verlassen kann, lieber Freun», erwiderte Fahle dankbar. «Ihr Bruder Wolfgang war neulich bei mir und gab mir den Rat, auf Ihre Rückkehr zu warten. „Mein Bruder“, sagte er, „hat sich sein offenes Herz und seinen Kopf bewahrt und wird schon Rat schaffen.».

Man hatte Sanitätsrat Fahle auf Grund der bekannten Rassengesetze seines Postens im städtischen Krankenhaus enthoben und nach einer gewissen Zeit nur das Praktizieren unter seinen Rassegenossen erlaubt. Dann aber ging es um sein Röntgeninstitut, dessen Leitung er nach wie vor behalten hatte. Zunächst entließ man seine beiden Assistenten, Juden, sehr tüchtige Leute, und ersetzte sie durch neue; schließlich wurde auch ein neuer Direktor für das Institut ernannt. Vor wenigen Wochen nun hatte ihm der neue Direktor das Betreten des Instituts verboten. Es war letzten Endes Fahles Institut, das er aus eigenen Mitteln aufgebaut und unterhalten hatte, eine Menge seltener Apparate waren sogar seine eigene Erfindung. Der neue Direktor aber erklärte ihm, dass das kostbare Institut mit seinen unersetzbaren Einrichtungen unter gar keinen Umständen der Gefahr der Sabotage ausgesetzt werden dürfe.

Fabian sank in seinen Sessel zurück. «Gefahr der Sabotage». rief er empört aus. «Ja». Sanitätsrat Fahle nickte. Sein Gesicht verschwamm vor Fabians Augen. Er sah nur noch seine großen dunklen Augen, die von Gram erfüllt waren, und die buschigen dunklen Brauen darüber.

Nach einer Weile fand Fabian seine Fassung wieder. «Unmöglich». rief er. «Das ist ja der Gipfel der Schamlosigkeit, mein verehrter Herr Sanitätsrat». Er richtete sich wieder auf und schüttelte den Kopf. «Gewiss, ja, ganz sicher handelt es sich um den Willkürakt eines untergeordneten Beamte», sagte er endlich. «Ich werde jedenfalls sofort, morgen vormittag, mit dem Direktor des Krankenhauses Rücksprache nehmen, Doktor Franke ist mir ja gut bekannt».

Fahle lächelte bitter. «Doktor Franke». entgegnete er. «Doktor Franke werden Sie nicht mehr antreffen. Er wurde schon vor Monaten entlassen».

Voller Erstaunen blickte Fabian auf ihn. «Ich kannte Doktor Franke sehr gu», rief er aus, «er war ein selten gütiger und begabter Mann. Sie wissen nicht, aus welchem Grunde man ihn entließ».

Fahle nickte. «Doch, ich weiß es, wie alle Welt es wei», erwiderte er mit müder Stimme. «Es schwebte lange Zeit eine Untersuchung gegen ihn, dann griff der Staatsanwalt ein. Eine frühere Krankenschwester hat Anklage gegen Doktor Franke erhoben, vor fünf Jahren einen unerlaubten Eingriff an ihr ausgeführt zu haben». «Dann muss ja wohl der Eingriff mit ihrem Einverständnis erfolgt sein». «Auf ihren Wunsch sogar. Sie war damals erst siebzehn Jahre alt. Nun, man wollte Doktor Franke vernichten, und man hat ihn vernichtet. Die Krankenschwester dagegen, die der Partei angehört, wurde freigesprochen und bekam einen auskömmlichen Posten». Fahle lachte kurz auf.

Fabian schwieg und blickte in den Park hinaus, ohne das Geringste zu sehen.

«Der Leiter des Krankenhauses ist heute ein Doktor Sandkuhl, noch sehr jung und völlig unnahba», fuhr Fahle nach heftigem Husten fort. «Es dürfte schwer sein, ihn zu einer Änderung der neuen Bestimmungen über das Institut zu bewegen, die wahrscheinlich von ihm selbst ausgehen»..

Das Institut sei zu gemeinnützigen Zwecken beschlagnahmt worden, begann Fahle nach kurzem Schweigen, während Fabian mit unruhiger Miene seinen Gedanken nachging und kaum zuzuhören schien. Es diente ja immer schon gemeinnützigen Zwecken, zwanzig Jahre lang, wenn es auch nebenbei der reinen Forschung gewidmet war. Fahle hatte ohnedies die Absicht gehabt, das Institut bei seinem Tode der Stadt zu vermachen.

«Seit Wochen indessen beschäftigt mich eine eigenartige Ide», sprach Fahle weiter, und Fabian wachte aus seinen Gedanken auf, und seinen Augen war es anzusehen, dass er wieder zuhörte, «eine eigenartige Idee, die ich aber nur mit meinen neuesten Apparaten im Institut nachprüfen kann, verstehen Sie? Es ist eine Idee von großer Tragweite. Ich müsste zu diesem Zweck zuweilen im Institut arbeiten, vielleicht an den Sonntagen, wo kein Mensch im Institut ist. Das würde gewiss nicht stören. Es wäre also nichts anderes zu tun, als mir bei Doktor Sandkuhl diese Erlaubnis zu erwirken. Glauben Sie, dass Sie diese Sache in die Wege leiten44 können? Das war die Bitte, weshalb ich Sie zu mir bat».

Fabian erhob sich, und seine Miene zeigte einen entschlossenen Ausdruck. «Ich glaube bestimmt, dass es nicht allzuschwer sein wird. Jedenfalls will ich alles, was in meiner Macht steht, versuche», versicherte er. «Man wird doch schließlich eine politische Schrulle für einen Augenblick vergessen können, wenn es sich um eine wissenschaftliche Forschung handelt».

«Danke, lieber Freund». Fahle griff nach Fabians Hand. Mit einem bitteren Lächeln fügte er hinzu: «Vor einigen Jahren hat mir die Universität Cambridge einen Lehrstuhl angeboten. Leider habe ich das Angebot ausgeschlagen. Unser Freund Krüger wollte mich auf keinen Fall gehen lassen und schwor mir, sich zu jeder Zeit wie ein Erzengel schützend vor mich stellen zu wollen, wenn es einmal nötig sein sollte. Wie ein Erzengel! Und heute muss ich darum betteln, einige Stunden in meinem Institut arbeiten zu dürfen».

Er brach ab. Wieder war es Marion, die eintrat. Sie entschuldigte sich, es fange an, kühl zu werden, und sie müsse die Herren bitten, sofort ins Haus zu kommen. Dann wandte sie sich an Fabian: «Ich hoffe, Sie machen uns die große Freude, mit uns zu Abend zu speisen». fragte sie.

Fabian bedauerte. Er habe halb und halb seinem Bruder den heutigen Abend versprochen.

«Halb und halb». rief Marion lachend, während sie ans Telefon eilte. Sofort führte sie ein heiteres Telefongespräch mit Wolfgang, den sie ebenfalls zum Essen einlud. Aber Wolfgang konnte nicht, er konnte auch heute nicht in den «Ster». kommen zu seinem Bruder, eine plötzliche Arbeitswut hatte ihn befallen.

Im Augenblick war alles in Ordnung gebracht. «Nun gibt es kein Hindernis meh», rief sie Fabian triumphierend zu, während sie dem Vater behilflich war, sich vom Diwan zu erheben. «Übrigens werden auch Frau Lerche-Schellhammer und Christa zu Tisch sein. Die Damen nehmen Sie sicher gern in ihrem Wagen mit zur Stadt zurück».

Christa? Fabian sah ihr mildes Lächeln vor sich, als er ihren Namen hörte. Er freute sich, sie überraschend wiederzusehen.

XIII

Fabian war aufrichtig entschlossen, sich der Sache Fahles anzunehmen. Er fand es empörend, dass man einen Gelehrten von Fahles internationaler Bedeutung so herabwürdigend und schamlos behandelte.

Es handelt sich in erster Linie darum, an den neuen Direktor des Krankenhauses, diesen Doktor Sandkuhl, heranzukommen, und der aussichtsreichste Weg schien ihm über Justizrat Schwabach zu führen, der eine maßgebende Rolle in der Partei spielte. Schwabach war Vorsitzender in der Anwaltskammer der Stadt und vertrat Fabian gleichzeitig in seiner Scheidungsangelegenheit. Das traf sich sehr gut, er hatte ohnehin mit ihm zu tun. Sofort vereinbarte er mit Schwabach telefonisch eine Unterredung auf den nächsten Tag. Nun erst war er beruhigt.

Justizrat Schwabachs Büroräume lagen in der Hauptgeschäftsstraße, im Hause des Juweliers Nicolai, das völlig renoviert worden war. Der Treppenaufgang machte einen wahrhaft großstädtischen Eindruck, und ebenso eindrucksvoll war das blitzende Messingschild mit der Aufschrift: Edler von Schwabach.

Fabian lächelte. Edler von Schwabach! Das hörte sich gut an und war in diesen Tagen nicht mit Gold zu bezahlen. Dieser Schwabach gehört zu den Menschen, bei denen alles zum Guten ausschlägt45, dachte er. Schwabach hatte wie alle Anwälte eine Reihe von Urkunden vorlegen müssen, um seine arische Abkunft zu beweisen. In seiner Heimat, einem kleinen Dorf in Württemberg, hatte er erfahren, dass er einer alten adligen Familie entstammte. Als Bürgerlicher fuhr er hin, als Adliger kam er zurück. Seine Briefbogen trugen jetzt ein Wappen: ein Vogel, der einen Fisch im Schnabel hält.

Das wie ein Salon eingerichtete Wartezimmer saß voller Klienten, was Fabian nicht ohne gewissen Neid wahrnahm. Schwabach galt als einer der besten Anwälte der Stadt, und zur Zeit benötigten auch viele seinen bekannten Einfluss als mächtiges Parteimitglied. Der Bürovorsteher meldete Fabian aber sofort an, und er brauchte kaum einige Minuten zu warten.

«Sie sind ja zur Zeit als Syndikus beurlaubt, lieber Kollege». sagte Schwabach, als er Fabian begrüßte. «Bürgermeister Taubenhaus hat es mir gestern in der Sitzung erzählt».

Schwabach war ein untersetzter, beleibter Herr und sah wie ein Pudel aus, ein gutmütiger grauer Pudel. Jedenfalls erinnerten der wirre graue Haarschopf und der aufgeplusterte Schnurrbart Fabian immer an einen Pudel. Dazu hatte er einige tiefe Schmisse, die ihm die fleischigen Backen und das runde Kinn förmlich in Stücke zerschnitten hatten. Er war in seiner Jugend ein großer Raufbold gewesen. «Hoffentlich nicht allzu lang», erwiderte Fabian, zuversichtlich lächelnd.

«Ja, wir wollen es hoffe», entgegnete der Justizrat. «Nun, schließlich liegt es ja bei Ihnen. Wie mir Taubenhaus erzählte, haben Sie schon die einleitenden Schritte unternommen».

Fabian war äußerst erstaunt. «Ich hatte doch um äußerstes Stillschweigen gebete», sagte er.

Schwabach lachte. «Stillschweigen? Stillschweigen». erwiderte er. «Wir leben in einem geordneten Staatswesen, in dem es in vielen Dingen kein Stillschweigen mehr geben darf! Jedenfalls erfährt Taubenhaus alles, und als Stadtoberhaupt muss er auch schließlich alles wissen, was in der Stadt vor sich geht, nicht wahr». Er deutete auf einen bequemen Sessel hinter seinem Schreibtisch. Mit der Hast des vielbeschäftigten Anwalts begann er ohne jede Vorbereitung von der Scheidungsangelegenheit zu sprechen. «Die Gegenpartei bezeigte nach Ihrer Rückkehr mit auffallender Eile sofort wieder die alte Aktivität, ich nehme an, der Motor ist Ihre Frau Gemahlin».

Fabian nickte. «Mit größter Wahrscheinlichkei», stimmte er zu. Oh, er kannte Clotildes Augen zu gut, um sich zu täuschen. Seit seiner Rückkehr sahen sie härter und gleichgültiger aus, in den letzten Tagen hatte er sie nur glänzend und hart gesehen, manchmal erschienen sie völlig gläsern. Sie verachtete ihn, weil er, wie sie glaubte, nicht genug Entschlossenheit in jenen politischen Dingen zeigte, die ihr am Herzen lagen.

Schwabach kramte in einem Stoß von Schriftstücken. «Ihr Anwalt hat mir einen neuen Schriftsatz übersand», sagte er, «einen Schriftsatz, der eine gewisse Verschärfung der Lage bedeutet». Schwabach war sehr kurzsichtig, so dass er gezwungen war, die Brille dicht auf das Schreiben zu senken. Fabian erblickte jetzt nur noch den Pudelkopf und seine mächtige Glatze, die den roten Schädel in einem Gewirr grauer Haare entblößte.

Unerwartet schielte der Justizrat in die Höhe, um Fabian ins Gesicht zu blicken. «Ihre Beziehungen zur Sängerin Lucie Ölenschläger haben Sie ja nie bestritten». fragte er.

Fabian schüttelte den Kopf. «Ich würde mich auch schämen, es zu tu», antwortete er, während er an diese unglückliche Frau dachte, die er einmal vorübergehend liebte. Sie weinte fast immer und vergiftete sich ein Jahr später in einem Hamburger Hotel. Einige Tage vor dieser Liebelei hatte ihn Clotilde kurzerhand ausquartiert. Sie hatte ihr Schlafzimmer im Salon aufgeschlagen. «Es ist ja immerhin schon geraume Zeit he», fuhr der Pudelkopf nickend fort. «Nun behauptet der gegnerische Schriftsatz, Frau Fabian hätte es als besondere Schmach empfinden müssen, dass Frau Lucie Ölenschläger Jüdin war. Dieser Umstand sei besonders gravierend».

Fabian verzog ironisch die Lippen. «Frau Fabia», sagte er, «hatte damals keine Ahnung, dass Frau Ölenschläger Jüdin war, ebensowenig wie ich».

Schwabach wühlte in den grauen Haaren. «Immerhin wäre es sehr wirksa», begann er von neuem, «wenn wir diesen Vorstoß mit einem Gegenangriff erwidern könnten. Behaupteten Sie nicht, dass Ihre Ehe in die Brüche ging, weil Ihre Frau keine Kinder mehr haben wollte? Sagten Sie nicht, sie wolle sich nicht die Figur verderben lassen? War es nicht so? Wenn ich nur das geringste Beweismaterial in Händen hätte, einen Brief, eine Notiz».

«Clotilde drückte ihre Abneigung gegen eine erneute Schwangerschaft noch viel derber au», erwiderte Fabian, «leider aber habe ich kein schriftliches Beweisstück in Händen».

«Schade, schade». rief der Justizrat aus, indem er den grauen Pudelkopf hin und her wiegte. «Keinerlei Aufzeichnung, keinen Brief? Das hätte stärksten Eindruck gemacht! Eine deutsche Frau, die ihre Figur schonen will! Schade, schade». Wieder wiegte er den grauen Pudelkopf hin und her. «Auf jeden Fall werden wir dieses Verhalten in das grellste Licht setzen, auch wenn man es abstreitet».

Sie besprachen noch dies und jenes, während Fabian über seine Ehe nachdachte.

Traurigkeit überkam ihn, dass eine Liebesheirat ein solch beschämendes Ende nehmen sollte.

Er sah Clotilde als Mädchen vor sich, einen schneeweißen wippenden Florentinerhut auf den blonden Haaren. Sie war frisch und reizend wie alle jungen Mädchen, strebsam, voller Interesse für Kunst und Literatur, wissbegierig, fleißig, spielte eifrig Klavier und lernte fremde Sprachen. Damals reiste sie viel mit ihrer Mutter, die eine launenhafte und hochmütige Frau war und gern die große Dame spielte. In dieser Zeit galt Clotilde für vermögend, ihre Mutter besaß vier stattliche Mietshäuser, und Fabian konnte nicht leugnen, dass ihn diese vier Häuser besonders reizten, sich um die Hand des jungen Mädchens zu bewerben.

Von einer Mitgift war natürlich nicht die Rede, denn Clotilde würde ja als einziges Kind die vier Häuser erben. Als aber die Mutter starb, stellte sich heraus, dass die vier Häuser mit Hypotheken überlastet und so stark vernachlässigt waren, dass Fabian froh war, sie endlich abstoßen zu können.

All das ging ihm durch den Sinn, während der Justizrat verschiedene Punkte aus dem Schriftsatz des Gegenanwalts halblaut vorlas. Er hatte alles schon oft gehört, und es interessierte ihn kaum noch, als beträfe es einen Fremden.

Der ganze unglückliche Verlauf seiner Ehe mit Clotilde stand ihm vor Augen. Vielleicht verändern sich alle Frauen völlig in der Ehe? dachte er. Vielleicht bricht ihre wahre Natur in der Ehe durch, jetzt, da sie ihr Ziel erreicht haben? Wer weiß es?

Clotilde spielte prächtig Klavier, und er, der die Musik über alles liebte, hatte sich auf die Musikabende gefreut. Aber in der Ehe rührte Clotilde das Klavier kaum mehr an. Sie öffnete auch kaum noch ein Buch und fand alle Gespräche über Bücher und Literatur zum Sterben langweilig. Mehr und mehr hing sie ihr Herz an äußerliche Dinge.

Die vier Häuser, die sie in die Ehe brachte, hatten sich zwar als völlig wertlos erwiesen, trotzdem behielt sie ganz die Passionen einer reichen Erbin bei. Natürlich musste sie ein Auto haben, einen bestechenden Wagen, dass ihre «Freundinnen vor Neid platzte», später entdeckte sie ihre Liebe zu Pferden und hielt Reitpferde. Sie liebte elegante Kleider und Hüte, sie liebte luxuriöse Badeorte und Hotels, Ostende46 zum Beispiel oder das «Stephani». in Baden-Baden. Vornehme Herrschaften erträumte sie sich als ihre Gesellschaft. Auch ihre Freundschaft mit der Baronin Thünen ließ sich mit dieser Neigung erklären. Ihre Liebe verging, ihre Oberflächlichkeit blieb zurück.

Er verdiente damals viel Geld, aber wenn er nur wagte, etwas Sparsamkeit in dem und jenem zu empfehlen, pflegte sie die Achseln zu zucken und zu lachen: «Mein Gott, wenn ich denke, welche Unsummen andere Männer verdienen». Reichtum, das war ihr Traum!

Ihre Ansichten über Sinn und Ziel des Lebens trennten sich immer mehr, und als er es gewahr wurde, waren sie schon hoffnungslos entfernt voneinander.

Er konnte mit einem guten Buch, einer Flasche Wein und einer guten Zigarre zufrieden sein, Clotilde aber hatte nur kostbare Dinge im Kopf, Mäntel, Pelze, Hotels, Autos, Pferde, alles andere war Unsinn. Allmählich waren sie in die Zone des Schweigens geraten, die gefährlichste Zone in einer Ehe, denn aus ihr führt kaum mehr ein Weg zurück.

Wir leben auf zwei verschiedenen geistigen Ebenen, dachte Fabian oft. Diese Erkenntnis überkam ihn endlich, und er war stolz auf seine Weisheit. Und vielleicht, ging es ihm oft durch den Sinn, ist es das schlimmste Schicksal, das einen Mann treffen konnte, mit einer Frau auf verschiedener geistiger Ebene verheiratet zu sein?

43.verfemt sein – быть объявленным вне закона, подвергаться преследованиям
44.etw. in die Wege leiten – налаживать, устраивать
45.zum Guten ausschlagen – благополучно кончаться, оборачиваться добром
46.Ostende – бельгийский порт и климатический курорт
Altersbeschränkung:
16+
Veröffentlichungsdatum auf Litres:
02 April 2020
Schreibdatum:
1948
Umfang:
550 S. 1 Illustration
ISBN:
978-5-9925-0204-6
Rechteinhaber:
КАРО
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