Buch lesen: «Тотеnтаnz / Пляска смерти. Книга для чтения на немецком языке», Seite 3

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Wolfgang aber ging statt aller Antwort rasch zur Tür. «Lasst euch nicht auslache», entgegnete er und öffnete die Tür. «Ist jemand da». rief er laut und verließ das Atelier.

Alle drei lauschten und regten sich nicht.

Man hörte Stimmen auf dem kleinen Flur, dann wurde eine Tür geschlossen, und man vernahm die Stimmen hinter der Wand, diesmal etwas lauter. Einige Minuten vergingen, die Stimmen drangen noch immer durch die Wand, dann hörte man wieder im Flur sprechen. «Sie werden pünktlich sein». sagte eine unhöfliche Stimme. Die Haustür wurde geschlossen.

Wolfgang kehrte wieder in den Arbeitsraum zurück. Er sah blaß und verstört aus, und seine Hand zitterte, als er nach den Streichhölzern griff, um die erloschene Zigarre wieder anzuzünden. «Das waren wahrhaftig widerliche Burschen». knurrte er wütend vor sich hin.

Retta war die erste, die den Mut fand, ein Wort an ihn zu richten. «Lieber Gott, wie blass Sie aussehen, Herr Professor». rief sie aus.

Endlich hatte Wolfgang die Zigarre wieder in Gang gebracht. Das Blut schoss in sein Gesicht zurück. «Geh in deine Küche, Retta, und sieh zu, dass dein Essen fertig wird». herrschte er Retta an.

Retta verschwand augenblicklich. So außer Rand und Band29 hatte sie den Professor noch nicht gesehen.

«Gottlob, dass du wieder da bist, Wolfgang». sagte Fabian. «Was wollten die Leute denn».

Wolfgang zuckte wütend die Achseln. «Die Burschen traten in der Tat recht anmaßend au», sagte er, während er an der Virginia zog. «Welch bodenlose Unverschämtheit! Die beiden Kerle überbrachten mir eine Vorladung».

«Eine Vorladung». fragte Gleichen erschrocken. «In die Heiligengeistgasse». Gleichen wusste in diesen Dingen Bescheid.

«Jawohl! Heiligengeistgasse sieben, sagten si», erwiderte Wolfgang, der sich allmählich beruhigte. «Morgen früh um neun Uhr habe ich zu erscheinen».

«Mit diesen Burschen ist nicht zu spaßen, Professo», rief Gleichen aus. «Ich kenne sie ja. Aber es scheint noch einmal gut abgegangen zu sein? Sagten sie etwas von der „Kugel“».

«J», knurrte Wolfgang. «Man wünscht Aufklärung über Bemerkungen, die ich vor wenigen Tagen in der „Kugel“ fallen ließ».

Gleichen stieß einen leisen Pfiff durch die Zähne. «Sehen Sie». rief er. «Ich sagte ja damals schon, Vorsicht, es sind verdächtige Kerle». Der Bildhauer warf die halbgerauchte Virginia auf den Boden und zertrat sie mit dem Fuß. Damit aber schien er seinen Ärger überwunden zu haben. Er nahm eine neue Zigarre aus der Tasche und sagte mit seiner gewohnten Stimme: «Nun aber Schluss mit dem Unfug, bitte ich». Er fand sogar seine frühere gute Laune zurück. «Kommen Sie, meine Herren». bat er. «Lassen wir uns von diesen widerlichen Flegeln nicht den Appetit verderben».

VII

«Und nun bitte ich Sie zuzugreifen, meine Herren». forderte der Bildhauer seine Gäste mit heiterer Stimme auf. «Sie werden sehen, niemand kann so herrliche Pfannkuchen backen wie Retta. Wir wollen bei einem Glas Mosel30 diese widerlichen Dinge vergessen. Trinken wir darauf, dass die Zeiten sich bald wieder bessern werden».

Während der schlichten Mahlzeit schien Wolfgang den unangenehmen Zwischenfall völlig vergessen zu haben. Dann holte er aus einer Truhe zwei Tafelleuchter hervor, die er für eine Porzellanfabrik geschaffen hatte. Die Fabrik wollte einen Satz sechs solcher Leuchter herausbringen, deren Hauptmotiv lebendig gesehene, farbige Papageien und Kakadus bildeten. Wolfgang hatte sie in seinem eigenen Brennofen gebrannt.

Die Leuchter waren prächtig und erinnerten an altes Meißner Porzellan31. Fabian und Gleichen waren begeistert. Fabian bat, die erste Serie für ihn reservieren zu wollen, während Gleichen immer wieder betonte, welch ein großes Verdienst es wäre, das armselige Kunstgewerbe neu zu beleben.

«Natürlich weiß ich recht wohl, Gleiche», sagte Wolfgang, «dass bei dem schauerlichen Schund in unserem Lande gutes Kunstgewerbe so dringend wie das tägliche Brot ist. Aber ich frage mich trotzdem, ob ich den Auftrag annehmen kann? Zeit, Zeit, woher soll ich all die Zeit nehmen».

«Vor allem andern, vergessen Sie den „Kettensprenger“ nicht». mahnte Gleichen. «Ich werde wirklich böse, wenn Sie nicht Wort halten».

Sofort nach Tisch verließen Fabian und Gleichen das Haus des Bildhauers. Fabian musste in die Stadt zurückkehren, und Gleichen, der noch einen Besuch in der Nachbarschaft vorhatte, wollte ihn einige Schritte begleiten.

Eine Weile gingen die beiden schweigend nebeneinander auf der Landstraße dahin, die an beiden Seiten von mächtigen Pappeln bestanden war. Während sie bei Tisch saßen, musste es heftig geregnet haben. Die Pappeln glänzten noch vor Nässe, und an vielen Blättern hingen Tropfen.

Schließlich begann Gleichen in seiner schönen Sprechweise: «Es hat den Anschein, als ob Ihr Bruder die Vorladung ein wenig auf die leichte Schulter nähme32. Und doch hat sie gewiss nichts Gutes zu bedeuten». «Was wollen Sie, Herr Gleichen? Wolfgang hatte immer ein sorgloses Naturel», versetzte Fabian zerstreut.

«Ich habe Ihren Bruder schon öfter darauf hingewiesen, dass man seine Worte, so harmlos sie auch sein mochten, falsch auslegen könnte. Die Geheimpolizei ist zur Zeit wieder erschreckend eifrig. Man hat zum Beispiel eine junge Verkäuferin verhaftet, weil sie bei einer Rede des Führers ganz offen herauslachen musste. Sie ist seitdem spurlos verschwunden».

Fabian lachte leicht auf. «Sie werden mir zugeben, Gleiche», sagte er, «dass ein Staatsoberhaupt sich nicht auslachen lassen kann».

Die düstere Glut in Gleichens grauen Augen belebte sich für einen Augenblick. Das leichte Lachen Fabians, das ganz harmlos war, hatte ihm mißfallen.

Fabian begann etwas rascher auszuschreiten und schwieg, mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Immer noch glaubt Wolfgang, dachte er, dass die Zeiten sich bald ändern werden. Nein, nein, mein Lieber, auch ich glaubte es einmal. Heute weiß ich, dass ich mich täuschte. Es wird noch lange Jahre dauern.

Gleichen ging ebenfalls rascher und warf einen unruhigen Blick über die Stoppelfelder. Er wartete eine Weile, ob sein Begleiter noch etwas sagen wolle, dann schwieg auch er und sah Fabian von der Seite an. Er betrachtete seinen Gang, seine elegante Kleidung, den kurzen Mantel aus englischem Stoff, seine Bügelfalten und Schuhe. Seine glatten, rasierten Wangen mißfielen ihm plötzlich, etwas wie Hochmut lag um seinen locker geschlossenen frauenhaften Mund. Gleichen war Wolfgang bedingungslos ergeben, er schwor auf ihn, aber vor Fabian hatte er stets eine gewisse Scheu empfunden. Auf ihn hätte er nicht geschworen. Man konnte nie wissen, was er dachte.

Hübsche Männer neigen zur Oberflächlichkeit, ging es ihm durch den Sinn, gewiss ist er zu hübsch und zu gewandt, um tief und aufrichtig zu sein.

Nach geraumer Zeit aber drängte es Gleichen von neuem zu sprechen. «Das Recht ist das feste Fundament, in dem ein Volk steht und fäll», begann er von neuem. «Halten Sie es als Jurist nicht für bedenklich, Einrichtungen zu schaffen, die die Rechtssicherheit des Volkes verwirren können».

Es dauerte längere Zeit, bis Fabian antwortete. «Vor allem wäre es nötig, dem Volk klarzumachen, dass es sich um Übergangserscheinungen handel», erwiderte er. «Übergangserscheinungen». Gleichen lachte. «Ja, wenn man wüsste, dass es sich nur um vorübergehende Einrichtungen handelt? Wie aber sollte man das wissen».

Darauf gab Fabian nur eine unverständliche, kurze Antwort.

Seine unverkennbare Abneigung, ernsthaft auf ein Gespräch eingehen zu wollen, mahnte Gleichen zur Vorsicht.

Er zog die Stirn seines zergrübelten Gesichts kraus und begann erneut zu schweigen. Wieder betrachtete er Fabian, und etwas wie leichtes Misstrauen erschien in seinen düster glimmenden Augen. Schweigend ging er weiter, aber er fühlte sich unbehaglich in Fabians Nähe.

Nach einigen Minuten erblickte er den Seitenweg, den er einschlagen musste.

«Ich muss hier abbiege», sagte er, indem er den Hut zog. «Ich will zu einem Kollegen in dem Dorf da drüben. Er ist krank, und ich besuche ihn an jedem freien Tag». Er deutete auf eine Gruppe roter Dächer, die über den gelben Stoppelfeldern zu sehen war. Als er Fabian die Hand reichte, blickte er ihn mit düsteren Augen an, die von einem fragenden, forschenden Ausdruck erfüllt waren.

Etwas verwirrt durch den forschenden Blick Gleichens, verfolgte Fabian seinen Weg zur Stadt. Über den fernen bunten Dächern kam ihm ein großer blauer Fleck am Himmel rasch entgegen. Er war, offen gestanden, froh, dass sein Begleiter ihn verließ, damit er seinen Gedanken ungestört nachhängen konnte. Alles, was er heute erlebt hatte, seit dem Gespräch mit den beiden Damen in Clotildes Zimmer, ging ihm durch den Kopf und erfüllte seinen Sinn mit Unruhe.

War es nicht sonderbar, dachte er, diese vielgeschmähte Partei verfolgt mich heute auf Schritt und Tritt. Sie scheint wahrhaftig allgegenwärtig zu sein und wird auch nicht so rasch verschwinden, wie Wolfgang und viele es glauben, Jahre wird sie dauern, viele, viele Jahre, vielleicht Generationen!

Ja, man muss sich klarwerden, sagte er zu sich. Man kann ja jetzt auch schon deutlicher die Entwicklung überblicken, nicht wahr? Jedenfalls wird es höchste Zeit, einen klaren Entschluss zu fassen. Auf keinen Fall wird man mir vorwerfen können, dass ich leichtfertig in die Sache hineingegangen wäre, wie es so viele getan haben. Nachdenklich blieb er vor einer Regenlache stehen und blickte nach oben. Zwischen den Pappeln sah er den großen blauen Fleck, der rasch über die Stadt heraufgestiegen war und ihn nahezu erreicht hatte. Wie so viele, wiederholte er. Ich habe lange beobachtet und zugesehen, viele werden sagen, zu lange, aber lass sie doch reden, was kümmert es dich? Eine Menge von Vorurteilen hat mich anfangs abgeschreckt. Vieles erschien mir unecht und billig, vieles ging mir zu rasch. Ich hielt das Tempo für überstürzt. Die Rassenfrage hielt ich, offen gesagt, für eine Schrulle, eine Laune, für völlig unnötig. Heute aber begreife ich, dass flüchtige Vorurteile mich scheu gemacht haben.

Ja, richtig scheu gemacht, wiederholte er seine Gedanken. Das Rassenbewusstsein sollte gestärkt und gehoben werden. Die Anhänger der Partei wurden ganz offensichtlich bevorzugt, zugegeben, ganz wie in anderen Ländern auch, zum Beispiel in Amerika, und das war wiederum richtig und sinnvoll. Die Partei aber wollte diese Bevorzugten vorher erst zu bestimmten Parteitugenden erziehen und diese Tugenden im Volk weiterverarbeiten. Natürlich konnte man das nicht von heute auf morgen erreichen, aber allmählich wird auf diese Weise ein ganz neues Volk entstehen. Das verwahrloste, unsicher gewordene, zum Teil auch in seinen sittlichen Grundsätzen schon schwankende Volk sollte auf eine völlig neue ethische Basis gestellt werden. All diese Dinge verwirrten mich, wie sie viele verwirrten. Dabei habe ich aber nie die Großtat der Partei vergessen: die Überwindung der Arbeitslosigkeit! Die Partei hat damit das deutsche Volk vor dem gänzlichen Zusammenbruch bewahrt.

Ja natürlich, nahm er seine Gedanken wieder auf, es kamen wohl manche Dinge vor, die diese Großtat wieder verdunkelten, zugegeben. Vieles war erlogen, vieles wahr, man muss die Menschen kennen. Aber schließlich war es ja eine Revolution, nicht wahr, und für eine bis in die Tiefe des Volkes gehende Revolution bedeuteten solche Dinge nichts, nichts, rein nichts. In der Französischen Revolution zum Beispiel schlug man den Leuten, die die neuen Ideen nicht begreifen wollten, ganz einfach die Köpfe ab. Was ist dir nun lieber, dass man dir den Kopf abschlägt oder dich in einem Lager etwas, vielleicht etwas unsanft anpackt? Was ist dir lieber? Die Franzosen haben den Adligen den Kopf abgeschlagen, weil sie ganz einfach nicht begreifen konnten, dass auch die Bürger Rechte hatten. Sie begriffen es einfach nicht.

Fabian hielt die Hand in die Luft. Der Regen hatte aufgehört. Das reinste Aprilwetter, dachte er.

Aber wir wollen weiter denken. Die Partei verfügt auf jeden Fall über viele beachtenswerte Ideen, ein Volk zu erziehen, ohne jede Frage. Natürlich können viele diese Ideen nicht begreifen, auch Wolfgang nicht, der sonst doch klug ist. Auch ich konnte sie ja bis heute in ihrer ganzen Bedeutung nicht erfassen. Es ist eine Revolution der Ideen, mein lieber Wolfgang, werde ich zu ihm sagen, eine Revolution, verstehst du? Man schlägt dir nicht den Kopf ab, nein, sondern man ersucht dich, mehr oder weniger höflich, einige Zeit den Mund zu halten, sagen wir, ein, zwei Jahre, bis das Volk eine gewisse Reife erreicht hat. Dann wird man dir gewiss wieder eine Privatmeinung erlauben, aber dann wirst du vielleicht gar keinen Wert mehr darauf legen, wie?

Fabian lachte vor sich hin.

Eins aber erscheint heute schon völlig klar, die neuen Ideen ergreifen heute das Volk, sie sind überall, sie sind allgegenwärtig und allzeit gegenwärtig. Die neuen Leute haben heute schon dazu ein System der Überwachung und Kontrolle eingerichtet, wozu sie vollkommen berechtigt sind, nicht wahr? Sie wären ja kurzsichtig, es nicht zu tun, oder?

Die Baronin kann nicht verstehen, dass ich bis heute meine Kräfte nicht in den Dienst der neuen Ideen stellte wie alle Welt. Sie war sehr unzufrieden mit mir und sprach es ganz offen aus. Schließlich hat man ja auch als erwachsener Mann und Vater zweier Söhne die Pflicht, daran zu denken, was weiter wird? Die Partei wird von Tag zu Tag mächtiger, das sieht ein Blinder. Und sie wird lange bleiben, solange ich lebe, wird sie wahrscheinlich bleiben und vielleicht noch viel länger. Ja, natürlich wären Ney und Murat ewig kleine Korporale geblieben, wenn sie gewartet hätten, bis Napoleon Cäsar wurde. Das hat die Baronin übrigens sehr hübsch gesagt, nicht wahr? Man darf selbstverständlich nicht erst warten, bis alle einflussreichen Positionen in anderen Händen sind! Clotilde will ja nichts für sich, ganz und gar nichts, aber sie ist der Ansicht, dass ich an die Jungen denken müsste. Das ist ein sehr wichtiger Gesichtspunkt, und auch daran muss man denken, wenn man einen Entschluss fassen will. Unterdessen hatte er die ersten Häuser der Stadt erreicht. Erst als er Menschen und Trambahnen erblickte, erwachte er aus seinen Gedanken, die ihn willenlos mit sich fortgetragen hatten. Er wurde gleichsam nüchtern und machte sich Vorwürfe, dass er sich so lange bei seinem Bruder aufgehalten hatte. Sein Tagesprogramm war dadurch völlig in Unordnung geraten. Für viele seiner Besuche war es zu spät geworden. Ohne sich lange zu besinnen, beschloss er, Frau Lerche-Schellhammer aufzusuchen, eine langjährige Klientin, die ihm geschrieben hatte, bei ihr in dringender Angelegenheit vorzusprechen, sobald er aus dem Urlaub zurückkäme. Zudem wusste er, dass er bei Frau Beate Lerche-Schellhammer als Freund des Hauses jederzeit willkommen war. Er hatte zu diesem Besuch allerdings noch einen Beweggrund, über den er sich aber kaum vor sich selbst Rechenschaft ablegte.

VIII

Frau Beate Lerche-Schellhammer wohnte mit ihrer Tochter Christa in dem alten Sehellhammerschen Haus auf einer Anhöhe neben dem Hofgarten. Jedermann kannte es. Es war ein altmodisch aussehendes, wenig anziehendes breites Gebäude, das sich der alte Schellhammer, der als einfacher Autoschlosser begann, vor fünfzig Jahren erbauen ließ. Sobald sich ein Schritt dem Hause näherte, kam Nero, ein Bernhardiner33, aus seiner Hütte hinter dem Hause hervor und strich mit bernsteingelben Augen lautlos am Eisengitter entlang, so dass niemand Lust hatte, lange stehenzubleiben. Wehe, wenn jemand das Gitter berührte! Entfernte sich der Schritt, so verschwand Nero wieder in seine Hütte.

Fabian kam den kleinen Seitenweg aus dem Hofgarten gegangen, und sobald er den schmalen Fahrweg überschritt, stand Nero schon am Tor. Der Hund kannte ihn von vielen Besuchen und schlug freudig an. Sofort erschien eines der hübschen Dienstmädchen, die im Hause beschäftigt waren, um ihm zu öffnen.

Aus dem Hause drang Klavierspiel, jemand übte fleißig eine schwierige Köhler-Etüde34, brach aber sofort ab, als der Hund bellte. Es war die gleiche Köhler-Etüde, die Fabian oft gehört hatte, als er sich mit Clotilde verlobte, die später in der Ehe kaum noch das Klavier anrührte. Man vernahm rasche Schritte im Haus, und im gleichen Augenblick erblickte er Christa Lerche-Schellhammer in der geöffneten Haustür. Als sie ihn sah, schritt sie rasch die wenigen Stufen herab und kam ihm mit ausgestreckter Hand entgegen. Ihre sanften, warmen Augen strahlten, und sie lächelte.

«Wie gut, dass Sie zurück sind». begrüßte sie ihn. «Sie ahnen nicht, wie langweilig es war, die Menschen hier sind zu armselig».

Schon wochenlang hatte Fabian sich auf dieses Wiedersehen gefreut und ihm voller Spannung entgegengesehen. Seitdem seine Ehe mit Clotilde in die Brüche gegangen war35, übte er eine große Zurückhaltung gegen Frauen. Er empfand eine starke Zuneigung zu Christa und hatte im Grund seines Herzens gewünscht, dass sie ihn nach der langen Trennung enttäuschen würde. Fast ärgerlich über sich selbst, musste er sich gestehen, dass er sie in gleichem Maße anziehend fand wie früher.

«Ich bin glücklich, Sie wiederzusehe», sagte er aufrichtig. Von allen seinen Bekannten hatte er in Wahrheit am häufigsten an sie gedacht.

Christa Lerche-Schellhammer war eine junge Dame mit braunen Augen, so weich wie Samt. Ihre regelmäßigen, schlichten, auffallend klaren Gesichtszüge fanden viele für ungewöhnlich schön, während andere diese Schönheit nicht entdecken konnten. Niemand aber leugnete den Reiz ihres Lächelns, das ihr ganzes Wesen erhellte, wie ein Licht, das von irgendwoher aus ihrem Innern strahlte.

Auch heute war Fabian von ihrem Lächeln wieder bezaubert.

Wie reizend ist doch ihr Lächeln? dachte er, während er plaudernd mit ihr ins Haus trat. Ist es nicht merkwürdig, dass ich es selbst während meiner langen Abwesenheit nicht ganz vergessen konnte? Und wie wundervoll ist doch der Klang ihrer Stimme! Nein, du kannst sagen, was du willst, sie ist wirklich ein wahrhaft reizendes Wesen. «Sie kommen gerade recht zum Tee, Mama erwartete Sie seit Tage», sagte Christa und öffnete die Tür zum Empfangszimmer.

Auch diese einfachen Worte gefielen ihm. Es ist schließlich ganz gleichgültig, was sie sagt, dachte er. Es liegt am Zauber ihrer weichen Stimme.

«Ich bitte Sie herzlich, beruhigend auf Mama einzuwirke», begann Christa und deutete auf einen Sessel. «Sie war in den letzten Tagen unsagbar aufgeregt».

«Aufgeregt, sagt sie». rief in diesem Augenblick mit lauter Stimme Frau Beate Lerche-Schellhammer, die breit und mit vor Zorn geröteten Wangen in der geöffneten Tür erschien. «Geplatzt bin ich vor Wut! Räuber und Spitzbuben, das sind meine verehrten Herren Brüder, Banditen». Sie lachte wütend auf, indem sie auf Fabian zuging. «Endlich zurück von der Reise, lieber Freund». fügte sie ruhiger hinzu und reichte ihm die Hand.

Fabian begrüßte sie herzlich wie eine alte Bekannte. «Behalten Sie ruhig Platz, mein verehrter Freun», fuhr sie fort. «Ich habe wieder, wie so oft, Ihren Rat dringend nötig. Sofort werde ich Ihnen den Brief geben, den meine edlen Brüder an mich geschrieben haben. Wo habe ich denn den Brief dieser Schurken hingelegt, Christa».

Frau Beate Lerche-Schellhammer war eine schwere, massige Frau mit kräftigen Schultern und einem geröteten, in die Breite gegangenen Gesicht. Sie hatte die gleichen braunen Augen wie Christa, nur dass sie um eine Schattierung dunkler waren und nicht dieselbe samtartige Weichheit zeigten. Sie waren härter. Wenn man die beiden auf der Straße sah, so konnte man nicht eine Sekunde im Zweifel darüber sein, dass sie Mutter und Tochter waren.

Endlich hatte Frau Beate den Brief auf einer Kommode in der Ecke gefunden und reichte ihn Fabian:«Lesen Sie den Brief in aller Ruh», sagte sie, «und erklären Sie mir dann, worauf meine edlen Brüder hinauswollen. Es scheint, als hätten sie endlich die Maske abgeworfen! Wenn ich sie recht verstehe, soll ich aus den Werken Schellhammer ausscheiden, kurzerhand ausbooten wollen sie mich, da ich ihnen im Wege bin! Sie werden ja sehen». Sie entnahm einer Schachtel eine schwarze Zigarre, ließ sichin einen bequemen Sessel nieder und begann in erregten Zügen zu paffen. Dabei ließ sie Fabian nicht eine Sekunde aus den Augen.

Sobald er nur die Brauen hochzog, richtete sie sich im Sessel auf und rief: «Nun, habe ich recht». «Er muss ja den Brief erst lese», warf Christa ein.

Fabian nickte nachdenklich. «Es scheint, dass Sie recht behalten, gnädige Fra», erwiderte er.

Frau Beate stieß eine mächtige Rauchwolke zur Decke empor und lachte wütend. «Natürlich kann ich meine edlen Brüder recht gut verstehe», begann sie von neuem. «Nützen kann ich ihnen nichts mehr, und schaden kann ich ihnen noch weniger. Was für ein Interesse sollten sie also an mir haben? Ich bin nicht in der Lage, ihnen den Ehrendoktor zu verleihen oder glänzende Orden, wie ihre Weiber sie lieben, oder haushohe Titel, vor denen ihre Dienstboten herumkriechen. Ich verstehe ja, dass ihnen ihre Weiber näherstehen als ihre Schwester».

Das Mädchen brachte den Tee, und sie brach ab. Christa half, den Tisch zurechtzumachen.

Fabian las den Brief zu Ende und versuchte sich nochmals, die Rechtslage vorzustellen.

Die Schellhammerschen Werke repräsentieren heute einen bedeutenden Wert, den man auf mehrere Millionen schätzte. Im Weltkrieg hatte der alte Schellhammer die erste große Halle gebaut, heute waren es zehn riesenhafte Anlagen. Erst heute hatte er sie im Vorbeigehen bewundert. In erster Linie fabrizierten die Werke schwere Lastwagen, Autobusse und Schlepper, erst in den letzten Jahren produzierten sie auch landwirtschaftliche Maschinen. Der alte Schellhammer hatte die Werke seinen Kindern hinterlassen, zwei Söhnen und einer Tochter. Von den Söhnen leitete der ältere, Otto, den kaufmännischen Teil, während der jüngere, Hugo, der als Ingenieur einen ziemlichen Ruf genoss, die technische Leitung übernahm. Die einzige Tochter war Frau Beate Lerche-Schellhammer.

Fabian stand Frau Beate seit Jahren als Anwalt zur Seite. Sie hatte sich wiederholt über die Bezüge beklagt, die ihr die Brüder zubilligten. Mehrmals stand man vor einem Prozess. Schließlich hatte aber immer die Rücksichtnahme der Brüder, die Fabian als großzügige Menschen kannte, die Oberhand gewonnen36. Auch in dem heutigen Schreiben deutete eine Wendung auf die Bereitwilligkeit der Brüder hin, einen Weg der Verständigung zu suchen, die für beide Teile tragbar wäre.

Als das Mädchen aus dem Zimmer schlüpfte, erhob sich Fabian, um den Brief auf den Tisch zu legen.

«Es kann gar kein Zweifel mehr bestehen, gnädige Fra», sagte er, «der Wunsch Ihrer Brüder, dass Sie aus der Firma ausscheiden, könnte kaum unverhüllter ausgedrückt werden». Frau Beate fuhr auf, und abermals färbte der Zorn ihre Wangen dunkelrot. Sie zerdrückte die schwarze Zigarre in einer Aschenschale. «Nicht unverhüllter, wahr, wahr». rief sie mit erregter Stimme aus. «Aber können Sie mir den Grund angeben? Was hat all das zu bedeuten».

Fabian zuckte die Achseln. «Wir werden erst Klarheit gewinnen müssen».

«Ich bitte dich, Mama, rege dich nicht von neuem auf». bat Christa.

«Ich rege mich nicht im geringsten au», beruhigte sie Frau Beate. «Ich will nur wissen, was das bedeutet». Sie schlug heftig auf die Lehne des Sessels. «Was ist plötzlich in meine edlen Brüder gefahren? Ein kleines Gläschen». Frau Beate goß sich aus der Karaffe Kognak ein.

«Ihre Brüder schreibe», erläuterte Fabian, «dass wir lebhaften Zeiten entgegengehen, die oft blitzschnelle Entscheidungen fordern werden. Das könnte immerhin manches andeuten».

Frau Beate schüttelte den Kopf. «Ich kenne doch meine Brüde», sagte sie. «Es müssen besondere Ereignisse eingetreten sein». Sie begann nachdenklich durch das Zimmer zu gehen. «Besondere Ereignisse». wiederholte sie zuweilen.

«Der Brief scheint mir sogar eine schlecht verborgene Dringlichkeit zu verrate», warf Fabian ein.

«Nicht wahr». Frau Beate blickte Fabian ins Gesicht, und zum erstenmal sah er die feinen Linien, die ihren Mund umgaben. «Sie scheinen es eilig zu haben, die beiden Räuber. Um so unerklärlicher erscheint mir die ganze Geschichte». Sie nahm eine neue Zigarre aus der Schachtel und steckte sie in Brand. «Oh, ich werde euch schon auf die Schliche kommen37, ihr Spitzbuben». rief sie aus, während sie sich in einem Sessel am Teetisch niederließ. Sie schwieg nachdenklich, dann stieß sie eine mächtige Rauchwolke in die Luft. «Und doch fällt es mir schwer, zu denken, dass die beiden Spitzbuben aus reiner Gewinnsucht handel», sagte sie mehr zu sich selbst. «Aber schließlich wäre auch das möglich, warum nicht? Vielleicht ließen sie sich von ihren Weibern aufputschen, die noch nicht reich genug sind». Frau Beate brach in lautes Gelächter aus, das aber gutmütig klang. Ihre verdrießliche Laun schien plötzlich vergangen zu sein, sie war fast heiter geworden. «Sie nehmen doch gewiss eine Tasse Tee mit uns, lieber Freund». wandte sie sich an Fabian, und Christa rief sie zu, sofort an den Teetisch zu kommen.

Nachdem sie sich aus der Karaffe noch zwei Kognaks eingegossen hatte, begann sie in der heitersten Laune von ihren Schwägerinnen und ihren Brüdern zu sprechen, sie schien ihren Zorn völlig vergessen zu haben.

«Was ist die Königin Viktoria gewesen gegen die beiden Durchlauchten Cäcilie und Angelika, hahaha». rief sie lachend aus.

Nein, auf ihre beiden Schwägerinnen war sie nicht gut zu sprechen, das konnte man wohl nicht sagen. Sie verachtete sie noch mehr als ihre Brüder, deren Hörigkeit und Verschwendungssucht sie mit Spott übergoß. Wenn sie auf dieses Thema zu sprechen kam, konnte man sie schwer davon abbringen.

Da war zunächst Cäcilie, die Frau des Ingenieurs Hugo, nun, was war sie schon früher? Eine kleine Sängerin mit einer hohen Stimme. Über ihr Vorleben wollte sie sich nicht näher auslassen, nein, das konnte sie Christa nicht zumuten. Dann war da die Angelika von Otto, sie hieß früher Anna und war nichts als eine kleine Buchhalterin, ihr Vater war Schneider, was ja keine Schande ist. Aber heute, da spielten sich die beiden Weiber auf, als seien sie aus königlichem Geblüt, weiß Gott! Und da waren die Kinder, die drei Jungen von Hugo und die beiden Mädchen von Otto, fünf im ganzen. Aber, wie sie sich zu bemerken erlaube, alles reinste Wunderkinder! Nichts als Wunderkinder! «Sie hatten einen Schwarm von Erziehern und Lehrerinnen, Bonnen und Nurses, und das alles kostete natürlich Geld, schandhaftes Geld, und ihre Männer bezahlten es». schloss Frau Beate. «Es dürfte Sie als Anwalt interessieren, mein Freund».

«Gewiss, ich erhalte interessante Einblicke, gnädige Fra», antwortete Fabian lächelnd, obschon er nur mit halbem Ohr hinhörte, denn die meisten Geschichten kannte er schon, Christa goß ihm lächelnd eine neue Tasse Tee ein und reichte ihm Kuchen. Er streifte sie zuweilen mit dem Blick.

Ja, wie ist ihr Lächeln nur? fragte er sich wieder. Es gibt tausend Arten von Lächeln, aber das ihre bezaubert. Was lächelt eigentlich an ihr? Die Lippen, die Grübchen und Wangen, die Stirn, die Augen, was noch? Es ist wie eine geheimnisvolle Sprache, die ich nur in den Augenblicken, da ich bei ihr bin, verstehe. Jedenfalls ist es rätselhaft und unergründlich. Er bemühte sich, Christas Blick zu meiden. Ihr Lächeln scheint in die Tiefen meines Wesens einzudringen, wohin sonst nichts reicht, dachte er weiter.

Es fehlte gerade noch, dass du dich in sie verliebst, ging es ihm durch den Sinn, und er errötete. Seine Gedanken verwirrten sich, und er versuchte wiederum, Frau Beate zuzuhören.

Frau Beate war nun bei ihren Brüdern angekommen, deren verschwenderisches Leben sie verspottete. Sie sprach von ihren Autos, ihrem Park von Automobilen und den beiden protzigen Villen, die ja jedermann kannte. Ihrer Schwester aber hatten sie großmütig das altmodische Haus des Vaters überlassen! Und ihre Weiber behängten sie mit Brillanten und Perlen und Pelzen. Voriges Jahr hatten sie ein Gut in der Schweiz gekauft. «Für den Fal», sagte Frau Beate, «dass ein neuer Weltkrieg kommen sollte und ihre dicken Weiber nicht verhungerten».

Wieder lachte sie heiter.

Plötzlich aber brach sie mitten im Wort ab. «Schlus», rief sie heftig, «Schluss mit diesen albernen Sachen! Sie, mein lieber Freund, werden in der Stadt Erkundigungen einziehen, und dann wollen wir beraten, was wir den beiden Spitzbuben antworten sollen». Sie griff nach einer neuen Zigarre. «Und jetzt wollen wir von anderen Dingen plaudern. Der Doktor muss uns von seiner Reise erzählen. Ich hoffe, Sie haben noch ein Viertelstündchen Zeit».

Fabian blickte auf die Uhr. «Ein Viertelstündchen, gewis», erwiderte er. «Ich muss leider heute noch in mein Büro».

Er blieb noch eine volle Stunde.

29.außer Rand und Band sein – разойтись, разбушеваться, как с цепи сорваться
30.ein Glas Mosel – стакан мозельского вина
31.Meißner Porzellan – мейсенский фарфор, изделие из мей- сенского фарфора
32.etw. auf die leichte Schulter nehmen – относиться кчему-л. несерьезно, легкомысленно
33.Bernhardiner m – бернская пастушья собака, названа в честь святого Бернара, сенбернар
34.Köhler – Кёлер – известный композитор XIX в.
35.in die Brüche gehen – разрушиться, рухнуть
36.die Oberhand gewinnen – ваять верх, превзойти
37.j-m auf die Schliche kommen – раскусить кого-л., напасть на след
Altersbeschränkung:
16+
Veröffentlichungsdatum auf Litres:
02 April 2020
Schreibdatum:
1948
Umfang:
550 S. 1 Illustration
ISBN:
978-5-9925-0204-6
Rechteinhaber:
КАРО
Download-Format:
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