Systemische Beratung jenseits von Tools und Methoden

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

CG: Als ich damals zu dir in die Ausbildung kam, hatte ich mir überlegt, ob ich eine Schreinerlehre mache oder bei dir in die Lehre gehe. Letzteres passte dann sehr gut, weil ich auch bei dir ein Kunsthandwerk gelernt habe, die systemische TA. Und ich wollte wirklich ein Handwerk lernen. Ich habe immer die Berufsgruppen beneidet, die mit konkreten Werkzeugen in der Hand durch die Gegend liefen und wussten, was sie womit anpacken sollten. Schreinern wäre etwas gewesen, was ich sehr gerne gemacht hätte. Selbst Möbel erfinden und zusammensetzen. Es ist etwas Heiles, etwas Gesundes …

BS: Ja, und man kann etwas anfassen … also ich verstehe die Dimension. Ob das ein heilerer Berufslebensweg gewesen wäre, das ist noch einmal eine andere Frage.

CG: Es hätte mir dann vielleicht etwas anderes gefehlt …

BS: Ja und es zeigt einfach, dass deine tatsächliche Berufslebensentwicklung doch Dimensionen unterversorgt gelassen hat.

CG: Lass uns noch auf die andere Seite schauen: die Schattenseiten dieses Berufs.

Mir selbst fallen zwei Aspekte ein, die mich gestört haben. Das ist einmal das Image des Berufs in der Öffentlichkeit. Im Krankenhaus, in dem die Leute ja nicht freiwillig zu mir kamen, sondern geschickt wurden, brachten diese oft auch viele Vorurteile gegenüber meiner Rolle mit. Ich musste erst einmal dagegen anarbeiten, um guten Kontakt herzustellen. Das war nicht entscheidend, aber dieses Image der Psychotherapeutin oder der Beraterin in der Öffentlichkeit hat mich auch im Privaten gestört. Dort hatte ich das Gefühl, dass Leute oft Privates und Berufliches vermischten. Etwa so: Wenn du Sorgen hast, dann kannst du halt zur Christiane gehen, auch privat, sie ist ja Psychotherapeutin. Am Anfang meiner Berufsjahre habe ich diese Tendenz sicher auch selbst gefördert. Das war ja auch eine Einfluss verheißende Rolle: Man konnte damit wichtig sein und wurde gebraucht. Später aber empfand ich diese Erwartungen dann eher als lästig. Ich fand es deswegen manchmal schwierig, privat neue Kontakte zu knüpfen, weil ich misstrauisch war, ob ich nicht wieder »ausgenutzt« oder nur deswegen gemocht werden würde, weil man ja immer so »anständig« zuhört und nett ist und so. Das fand ich schade … Wie ist es dir gegangen?

BS: Bei mir war das ganz anders … Ich war immer froh, wenn jemand Interesse an meiner Kreativität hatte und ich aktiv sein konnte. Ich habe mich mit meiner Kreativität identifiziert und mich daher bei Wünschen nach Unterstützung persönlich gemeint gefühlt. Dazu kommt noch mein anderer institutioneller Kontext. Ich war Freiberufler. Leute sind zu mir gekommen, weil sie zu mir wollten und ich konnte sie mir dann auch mehr oder weniger aussuchen.

CG: Aber du hast doch auch deinen privaten Umkreis?

BS: Ja, vorwiegend über die Familie. Sonstige private Beziehungspflege war nicht mein Heimspiel. Die meisten Privatbeziehungen sind im Berufsfeld entstanden. Dort habe ich Arbeitsformen gefunden, die für mich auch viele private Begegnungsmöglichkeiten und vertrauensvolle Beziehungen ermöglichten, für die ich sonst nicht die Motivation und die Verhaltensweisen gehabt hätte.

Wir haben in unserem Institut einen Rahmen entwickelt, in dem privatpersönliche und berufliche Kontakte fließend ineinander übergehen. Meistens sind auch meine Mitarbeiter und Lehrtrainer Menschen, die gerne menschliche Begegnungen mit dem Beruf kombinieren, wie ich das auch tue.

Für meine Lehrtrainer und Mitarbeiter bin und war ich auch immer ein bisschen der Mentor und Seelsorger und bin das gerne. Umgekehrt haben sie auch Anteil an unserem Leben genommen. Das haben wir intensiv erlebt, als unser Sohn Peter gestorben ist. Die liebevolle Zuwendung, die uns zuteil geworden ist, hat mich sehr berührt. Von daher habe ich diese Beziehungen als einen sehr lebendigen und gegenseitigen Austausch erlebt.

Und mir fällt es leichter, Beziehungen zu gestalten, wenn ein Lebensvollzug – sei es beruflich oder privat – miteinander möglich ist.

CG: Das passt ja auch wieder zu dem Beziehungstyp, als den du dich beschreibst, als den Ich-Es-Typen, für den es wichtig ist, sich über ein Thema auf den anderen beziehen zu können.

BS: Ja, das müssen keine großen Themen sein. Heute Mittag zum Beispiel habe ich für alle Mitarbeiter im Wok Gemüse gekocht. Es geht auch um konkrete Tätigkeiten, über die ich in Beziehung sein kann.

CG: Das ist schon auch etwas Ungewöhnliches: diese Kombination von Lebens- und Arbeitsform.

BS: Ja, wir achten im Institut drauf, dass Leben und Arbeiten im Zusammenhang bleibt. Wenn jemand z. B. mit uns kooperieren will, dann lade ich ihn zum Gespräch ein. Wir reden erst. Dann nimmt er an unserem Mittagessen teil und kann sehen, wo er ist. Und wir sehen, wer er ist in dieser Runde. Und dies hilft uns, über mögliche Kooperationen zu entscheiden.

CG: Da bist du schon eine Ausnahme. Ich denke, viele Kollegen und Kolleginnen, die ich kenne, die möchten wirklich so eine Trennung haben. Also: »Nach der Arbeit möchte ich keinen Patienten und möglichst auch keine Probleme mehr sehen. Hier bin ich privat«.

BS: Ja klar. Es gibt auch diese déformation professionelle: In der Regel habe auch ich keinen großen Hunger auf Kontakt, weil ich davon eher zu viel habe als zu wenig. Bei privaten Begegnungen wie bei Festen treffe ich auf interessante und wertvolle Menschen, will sie aber meistens nicht näher kennen lernen, weil ich keinen Platz in meiner Seele habe.

CG: Ja, das geht wohl vielen älteren Kollegen so und ich höre von vielen, dass sie eigentlich »psychotherapiemüde« sind.

BS: Ich habe nach 20 Jahren Psychotherapie das Gefühl gehabt, ich habe es durch. Und dann habe ich etwas anderes gemacht.

CG: So ging es mir auch. Wenn ich irgendetwas konnte oder kannte, dann wurde es mir langweilig, dann wollte ich auch nicht mehr dort weitermachen.

Passung

BS: Das ist auch ein Kreuz in unserer Gesellschaft: Wir haben viel zu starre Berufe und institutionelle Funktionsbilder. Daran hängen dann viele Menschen fest, obwohl es sich überlebt hat. Nur für ganz wenige Menschen bleiben ihre Berufe Lebensberufe. Hier wären mehr Beweglichkeit und immer wieder neue Ausrichtung gesünder und kompetenter. Wir beschäftigen uns am ISB intensiv mit diesem sogenannten Passungsthema. Also: Wie passe ich zur Organisation und zur Rolle und wie passen die Institution und Rolle zu mir? Es finden ja Veränderungen auf beiden Seiten statt, sowohl gesellschaftlicher wie persönlicher Art. So können sich ehemals erfüllende Tätigkeiten für den Rolleninhaber erschöpfen oder so verändern, dass sie nicht mehr zur Person passen. Eigentlich gehört zu einer gehobenen Professionalität und zu einer Organisationskultur, dass man immer wieder einen Passungsdialog – wie wir das nennen – durchführt. Das heißt, man schaut, ob Person, Institution, Organisation, Rolle usw. noch zusammenpassen. Und wenn man merkt, es passt bald nicht mehr zusammen, kann man frühzeitig etwas am Rollenportfolio ändern oder man kann die Funktion in der Organisation umgestalten. Und wenn das nicht möglich ist, muss man sich fragen, wie man in einer anderen Organisation zu neuer seelischer Lebendigkeit gelangen kann. Die Erhaltung von Leistungsfähigkeit hat viel mit Lebendigkeit und daher viel mit einem kompetenten Passungsdialog zu tun …

CG: Dann wäre ich vielleicht doch Psychologin geblieben …

BS: … wenn du einfach mehr Möglichkeiten gesehen hättest, als Psychologin in anderen Funktionen und Rollen tätig zu werden?

CG: Als ich zum Beispiel eine Weile zusätzlich Marketingaufgaben hatte, fand ich das super. Ja, ich hätte wohl mehr Gestaltungsfreiraum für meine Ideen gebraucht.

BS: Ja eben, von daher ist es vielleicht weniger die Profession, die nicht deine wäre, sondern es waren die Organisationsfunktionen, die zu eng oder zu unbeweglich blieben.

CG: Ja, das stimmt. Insofern müsste ich in einem »neuen« Leben eher darüber nachdenken, welcher institutionelle und organisatorische Rahmen besser zu meinen Neigungen und Potenzialen passen würde.

BS: Wann bin ich eigentlich schon Psychotherapeut, Berater oder was mir als Identität vorschwebt? Diese Frage treibt einen jungen Menschen durchaus um.

CG: Welche Herausforderungen sind die richtigen? Wir beide haben ja schon öfter festgestellt, dass wir uns aufgrund unserer verschiedenen Persönlichkeitsstrukturen recht unterschiedlich an Herausforderungen heranwagen. Mich haben die ersten Berufsjahre sehr verunsichert. Das Studium selbst bereitet dich ja wenig auf den direkten Kontakt mit zukünftiger Klientel vor. Ich habe mich lange gefragt, woran ich mich eigentlich bei meiner Arbeit orientieren kann und soll. Du selbst beschreibst dich dagegen als einen Menschen, der eher gerne an die eigene Kompetenz geglaubt hat. Dennoch hast du vor über 20 Jahren eine Wirksamkeitsstudie (1988a, 1988b) zu deinen Intensivseminaren durchgeführt? Das passt für mich gar nicht zu dem wenig selbstzweiflerischen Eindruck, den du auf mich machst.

BS: Dafür gab es vor allem zwei Gründe: Zum einen konnte ich mich in den bestehenden Psychotherapie-Schulen schlecht beheimaten. Ein ganz typisches Muster für mich ist, dass ich, sobald ich an Dogmen und Schemata stoße, sofort deren Begrenzungen aufzeigen möchte. In einem Fall können Menschenbilder sinnvoll sein, aber im anderen Fall käme es einem Götzendienst gleich, wenn man sie als Wahrheiten erstarren ließe. Ich glaube, dass ein gebildeter Mensch bei jeder Frage aufgerufen ist, in seiner Weise, aus seiner Zeit, aus seinem Kontext, aus seinem Milieu kommend mit seiner Biografie stimmig neue Antworten zu finden. Insofern fühlte ich mich immer als eine Art Wilderer, der sich zwar der Konzepte und Ideen aus den üblichen Schulen bedient, sich aber den Dogmen nie unterworfen hat. Diese Freiheit hatte auch ihren Preis. Ich hatte immer das Problem, meine Identität zu definieren: Wer bin ich, wenn ich mich in keinen festen Rahmen, der mir eine Autorisierung oder eine gesicherte Identität verleiht, einfügen mag? Ich hatte und akzeptierte also identitätsbildende Rahmen um mich in nur geringem Maße und musste mir eine eigene Heimat sowie meine eigene Arbeitsweise und Struktur schaffen, wie z. B. diese Intensiv-Seminare mit einem mir gemäßen Stil.

 

Selbstwertzweifel oder Selbstkompetenzzweifel machten mir damals Sorgen, ohne dass mir ein traditioneller Rahmen den Rücken gestärkt hätte oder ich den jeweiligen Moden nachgegeben hätte. Ich wurde in der sehr emotionsintensiven, alternativen Psychotherapieszene manchmal mit kritischen Infragestellungen konfrontiert. Mein eher kognitiv orientierter Stil wurde verdächtigt, eine Folge von eigenen frühen Störungen zu sein, weshalb ich mich emotionalen Dingen nicht in dieser Intensität widmen könne, die damals üblich war. Um mir dazu ein etwas objektiveres Bild zu machen, habe ich alle meine Klienten schriftlich befragt.

CG: Ja, die Untersuchung wurde 1988 durchgeführt. Das war die Zeit, in der es »en vogue« war, möglichst viele Gefühle in der Therapie zum Ausdruck zu bringen. Und du fielst aus dieser Schablone heraus.

BS: Genau. Man war sich in meinen Kreisen relativ einig: Wo die Gefühle sind, da geht es lang, und je mehr eine gegenwärtige Situation auf einen früheren Konflikt oder ein früheres Erlebnis, am besten noch vorsprachlich, zurückgeführt werden kann, um so elementarere Arbeit leistet man und desto mehr gelangt man an die Wurzeln des Übels. Störungen hat man durch Fehlentwicklungen in der Kindheit bedingt verstanden und fast ausschließlich entwicklungspsychologisch beschrieben. Mir persönlich lag dieses schematische Verständnis von Störungen als auch der daraus abgeleitete Therapiestil nicht sehr. Obwohl ich durchaus gelernt hatte, mit Gefühlen umzugehen und die hinter der Gegenwart liegende, belastete Vergangenheit aufzuspüren. Empathie wurde damals ganz stark als Eingehen auf intensive Gefühle verstanden. Der Exklusivanspruch des Emotionalen, ja der Motivpsychologie überhaupt, war mir persönlich immer zu kultisch. Und bei uns ging es eben nicht so expressiv und schon gar nicht so stark kindheitsorientiert zu.

Und ich habe mich gefragt, ob ich trotzdem wertvolle Persönlichkeitsarbeit mache, und ob sich die Leute verstanden und emotional angesprochen fühlen, auch wenn ich selbst mich hauptsächlich kognitiv gesteuert habe. Am meisten hat mich beschäftigt, ob meine Art verständlich ist und Auswirkungen auf das hat, was anderen wichtig ist.

Dass es mir an emotionaler Schwingungsfähigkeit fehlte, das habe ich immer auch gespürt. Und wenn mich Leute in der Hinsicht als gestört dargestellt haben, habe ich mich durchaus darin wiedergefunden. Was mich störte bzw. zunächst verunsicherte, war die Pathologisierung meiner Persönlichkeitsausprägung. Später haben mich Lehrer wie z. B. Theodor Seifert, der Jungianer, oder andere Autoritäten, die diese Pathologisierung nicht mitgemacht haben, eher be- und gestärkt, weiter meinen Weg zu gehen. Dieser Weg war natürlich nicht nur durch Einseitigkeiten, sondern auch durch viele Kompetenzen geprägt. Ich habe dadurch im Laufe der Jahre zu einem Okay-Gefühl gefunden. Wenn ich auch heute noch manchmal Defizite feststelle und merke, da fehlen mir Dinge, die andere Menschen haben, bedauere ich das, weil ich gerne diese menschliche Dimension mehr erleben würde. Aber es ist keine Frage mehr eines Okay-Seins und Nicht-okay-Seins.

CG: Du konntest also die Nicht-okay-Gefühle loslassen und hast damit auch persönlich von der Auseinandersetzung mit deiner Berufsrolle profitiert. Und die Evaluationsstudie war eine der Möglichkeiten, die Frage deiner professionellen Wirksamkeit zu überprüfen.

BS: Genau … Insgesamt haben sich meine Hoffnungen, dass ich durch die Art und Weise, wie ich arbeite, auch Menschen ganz verschiedenen Typs erreiche und etwas Relevantes für ihre Lebensentwicklung beitragen kann, durch diese Arbeit – soweit man dies auf diese Weise erforschen kann – sehr bestätigt. Ich habe mir, wenn man so will, mit dieser Untersuchung das Plazet der relevanten anderen geholt. Und damit war die Diskussion für mich eigentlich abgeschlossen.

Resonanz und Wirkung waren gut bei dem ungewöhnlich geringen Ressourceneinsatz dieser Arbeitsform. Die meisten der TeilnehmerInnen haben die Seminare nur ein-, höchstens zweimal besucht. Und sie sind nicht deswegen nicht wiedergekommen, weil es ihnen nicht gefallen hat, sondern weil ihnen die vier intensiven Tage ausgereicht haben. Diese Ökonomie entspricht auch meiner ganzen Haltung, dass Menschen in ihrer Aufmerksamkeits- und Energiebesetzung durch Therapie und Beratung möglichst wenig aus ihren Lebenszusammenhängen abgezogen werden sollen. Vielmehr sehe ich beide Arbeitsformen als einen Boxenstopp, bei dem Klienten einen Kick bekommen, ansonsten aber in ihrem Leben bleiben, sodass Therapie und Beratung nicht zu Ersatzbühnen werden.

CG: Nun sind ja die Ergebnisse solcher Evaluationsstudien – zumal wenn sie vom Behandler selbst durchgeführt werden – an sich kein objektiver Beweis und können strengen wissenschaftlichen Kriterien nicht genügen.

BS: Nein, natürlich nicht. Aber damals war ich mir unsicher, ob das, was mir persönlich plausibel war, auch für die betroffenen Menschen über den Augenblick hinaus relevant war. Man bildet sich ja gerne was ein und findet um sich herum dann auch die Menschen, die einen darin bestätigen, und darum ist man immer in Gefahr eine Sekte zu werden. Und deswegen habe ich Fragen, die mich bewegt haben, in einem Fragebogen gestellt, wie z. B.: Fühlen Sie sich emotional angenommen? Fühlen Sie sich richtig verstanden? Hat es Ihnen gut getan? Hat es Wirkungen auf ihren Alltag? usw. Dies waren die Fragen, vor denen meine Arbeit Bestand haben sollte.

Heute brauche ich diese Absicherung in der Weiterbildung von kompetenten Professionellen nicht mehr. Unsere Teilnehmer sind erfolgreiche Professionelle, im Durchschnitt ca. 40 Jahre alt und in vielerlei Hinsicht ganz unterschiedlich (Rollen, Vorbildungen, Branchen, Organisationstypen, Zuständigkeiten und so weiter). Wenn Leute, die im Leben auf vielen Bühnen in der Bewährung stehen, öfter wiederkommen, obwohl sie stattdessen ihr beachtliches Ein- und Fortkommen mehren könnten, und wenn sie ihre Freunde, Partner, Mitarbeiter und Vorgesetzte schicken oder durch ihre Empfehlung das Vertrauen in ihre Urteilskraft riskieren, dann gibt es für mich heute keine bessere Bestätigung dafür, dass wir auf einem guten Weg sind.

Resümee

CG: Mein Resümee des Bisherigen ist: Im Grunde genommen geht es immer wieder um die Frage der Auseinandersetzung mit dem eigenen Werdegang und der Passung. Passungsklärung ist keine einmalige Aufgabe, sondern ein kontinuierlicher Prozess, in dem ein lebendiges und labiles System immer wieder ausbalanciert werden muss. Antworten auf Passungsfragen werden daher immer situations- und kontextbezogen bleiben. Sie ändern sich mit den Bedingungen: ein Halbtagsjob mag solange erfüllen, solange man in der anderen Hälfte des Tages durch andere Aufgaben gefordert ist. Fallen diese weg, ändert sich möglicherweise auch die Passung. Ein bisher eher schüchtern auftretender Mensch, der seine dominante Seite entdeckt, wird in seiner Firma vielleicht eine andere Funktion wahrnehmen wollen. Die Lebensform eines Freiberuflers, die bisher gepasst hat, kann ihren Reiz durch private Veränderungen verlieren usw. Die Variationsmöglichkeiten, die zu einer Unpässlichkeit führen, sind komplex und vielfältig, die Anzahl möglicher Passungen jedoch begrenzt: Ich kann mich nicht überall anpassen, ohne meine seelische Lebendigkeit zu verlieren, und institutionelle und organisatorische Bedingungen haben ebenfalls ihre begrenzte Veränderungskapazität. Das Spielfeld dazwischen jedoch erscheint mir recht groß. Um die Spielräume wahrnehmen zu können, scheint es mir wichtig zu sein, mich selbst wesentlich wahrnehmen zu können. Dazu brauche ich relevante andere, die mich spiegeln, mir notfalls dysfunktionale Anpassungen aufzeigen, mir aber auch neue Passungsmöglichkeiten aufzeigen.

Und ich brauche den Mut, Veränderungen vorzunehmen, wenn ich spüre, dass mir als Zeichen mangelnder Passung meine seelische Lebendigkeit abhanden zu kommen droht.

2.3 Und Sie? Ein Fragebogen zur persönlichen Orientierung







3. Mensch und Beruf – ein Überblick


Haben Sie schon einmal einen größeren französischen Supermarché besucht? Es gibt fast alles, aber Sie finden nichts. Ähnlich mag es Ungeübten ergehen, wenn sie sich im Berufsleben zu orientieren versuchen. Welche Betrachtungen sind für eine geklärte Professionalität von Belang? Augenfällig sind Fachkenntnisse aller Art. Aber wie viele Professionelle (z. B. Lehrer) scheitern an fehlenden Fachkenntnissen? In einer breit angelegten Studie zu Coaching-Weiterbildung scheinen Inhalte nur zu ungefähr zehn Prozent deren Qualität auszumachen. Schwerer beschreibbare sonstige Kulturkomponenten solcher Weiterbildungen sind viel entscheidender. Für Professionalität sind die Komponenten, die traditionell als hintergründig angesehen werden, so entscheidend wie Ober- und Untertöne für Musik. Sie bestimmen den unverwechselbaren Sound, der charakteristisch bleibt, auch wenn Melodien wechseln. Wie in der Einleitung beschrieben, sind die zu einer geläuterten Professionalität gehörenden Hintergründe vielschichtig und vielfältig. Sich mit ihnen auseinanderzusetzen ist ein lebenslanger Prozess und letztlich viel spannender als Inhalte.

Wir werden jetzt einen kleinen Überblick geben, aus welchen unterschiedlichen Wirklichkeitsbereichen (Denk-)Angebote in diesem Buch zu finden sind.

3.1 Menschen im Beruf

Es geht um den Menschen, der im Beruf nicht nur einen Job oder eine Einnahmequelle sieht, sondern der sich in einem Berufsleben mit seiner professionellen Persönlichkeit, mit seinen Talenten und seiner Wertorientierung verwirklichen möchte.

Es geht um den Menschen, der sich im professionellen Selbstverständnis selbst erfahren, sich in seinem gesellschaftlichen Engagement selbst verwirklichen will. Es geht also um den Menschen, der die Gestaltung seines Berufslebens als wesentlichen Bestandteil seiner Lebensgestaltung begreift.

3.2 Menschen in Organisationen

Es geht um den Menschen in Organisationsfunktionen, da Berufstätigkeit in der Regel mit Zugehörigkeiten zu und Funktionen in Organisationen verbunden ist. Die dort vorgefundene Organisationskultur berührt unmittelbar die Lebenskultur der darin wirkenden Menschen. Professionelle Persönlichkeitsentwicklung und Organisationskulturentwicklung stehen daher in einem engen Zusammenhang. Im Funktionsträger treffen Professionskultur und Organisationskultur aufeinander. Sie können sich im kritischen Dialog bereichern oder zu schwer erträglichen Konflikten führen. Beide können als eigene Dimensionen beschrieben werden: die Charakteristika des Berufsfeldes wie die Eigenschaften einer Organisation in ihren Umwelten.

3.3 Professionelle Persönlichkeitsentwicklung

Zur Funktion kommt die Individualität des Menschen hinzu. Sie kann auch unabhängig von Beruf und Organisation beschrieben werden, da sie sich auch in anderen Bereichen in ihrer Unverwechselbarkeit zeigt. In jedem Fall betrachten wir Persönlichkeit immer im Zusammenhang mit konkreten Welten und Lebensvollzügen darin. Daher kann professionelle Persönlichkeitsentwicklung tiefer gehend nicht losgelöst von der Entwicklung der Professionen selbst, den professionellen Gemeinschaften und der Organisationen verstanden werden. Wer also den Menschen und seine Entwicklung im Beruf und in der Organisation verstehen will, muss sich um ein Verständnis von Professions- und Organisationswelten bemühen.

 

3.4 Kernfragen der Ökonomie

Die Professionen und die sie vertretenden Gemeinschaften wiederum können kaum ohne die Entwicklung der Märkte für Arbeits- und Dienstleistungen verstanden werden. Und diese sind wiederum mit anderen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen auf schwer durchschaubare Weise vernetzt.

Es muss also heute in der persönlichen und beruflichen Selbstverwirklichung eine Komplexität berücksichtigt werden, die privat unmittelbar einfühlbare Perspektiven überfordert. Wer mithalten will, muss lernen, irgendwie damit umzugehen. Mangelnde Kompetenz im Umgang mit dieser Komplexität führt zu Misserfolgen, die wiederum die professionelle Entwicklung, die Lebensgestaltung und das Lebensgefühl erheblich beeinträchtigen.

Wer sich als Spielball der Entwicklungen blind und ohnmächtig fühlt, reagiert auf Dauer mit seelischen und sonstigen gesundheitlichen Belastungen. Fachleute beobachten eine dramatische Zunahme depressiver Erscheinungsbilder. Man kann sich leicht vorstellen, dass dies auch mit den erschwerten Anforderungen an berufliche Lebensgestaltung zu tun hat.

3.5 Integrierende Perspektiven

Es geht damit auch um das Leben auf privaten und sonstigen gesellschaftlichen Bühnen. Entsteht Entwicklungsbedarf, stellt sich auch die Frage, welche Verfahren (z. B. Psychotherapie) oder multidisziplinäre Ansätze eher geeignet sind, Menschen bei ihrer Lebensgestaltung und ihrer persönlichen und beruflichen Selbstverwirklichung in einem derartig komplexen Bedingungsgeflecht zu unterstützen.

Zwar lassen sich berufsbedingte psychische Störungen treffend in psychotherapeutischen Dimensionen beschreiben, jedoch ist Psychotherapie gesellschaftlich gesehen keine Lösung. Davon haben uns viele Jahre als Praktiker und Lehrer auf dem Gebiet der Psychotherapie überzeugt. Durch die Einseitigkeit der Ansätze dort, bei gleichzeitigem Anspruch auf umfassende Erklärung menschlicher Schicksale, sind Wirksamkeit und Anschlussfähigkeit der Psychotherapie begrenzt. Trotz einiger weiterführender Ansätze wird meist versucht, die individuelle Lebensgestaltung der Menschen auch im beruflichen und gesellschaftlichen Bereich aus der privaten Lebensentwicklung heraus zu verstehen und zu verändern. Die konkreten beruflichen und gesellschaftlichen Lebenswelten müssten in der Psychotherapie wesentlich mehr und besser berücksichtigt werden. Dies ist ohne eine umfassende Veränderung der Perspektiven, der Konzepte und Methoden der Psychotherapie kaum möglich.

Wahrscheinlich funktioniert es umgekehrt: Eine gelungene multidisziplinäre Auseinandersetzung mit der Berufs- und Organisationswelt stellt den entscheidenden Beitrag auch zur Gesundheit des Einzelnen und der Gesellschaft dar. Für das Berufsleben und ein kompetentes Ausfüllen von Organisationsfunktionen sind psychotherapeutische Betrachtungen nur eine und oft nicht die entscheidende Perspektive. Dort, wo diese hilfreich sind, sind sie willkommen, sollten aber in Konzepten und Methoden kompetent mit den vielen anderen Perspektiven der Berufs- und Organisationswelt integriert werden.

Warum unterscheiden wir zwischen Menschen im Beruf und Menschen in Organisationen?

Menschen mit beruflichen Kompetenzen können in bestimmten Organisationen dennoch wenig erfolgreich sein beziehungsweise wenig Zufriedenheit erfahren. Dies kann damit zu tun haben, dass sie die Welt dieser Organisation nicht hinreichend verstehen oder nicht zu ihr passen. Umgekehrt gibt es Menschen, die in bestimmten Funktionen und Organisationen groß geworden sind, die jedoch kein eigenes professionelles Selbstverständnis entwickelt und sich in keiner professionellen Gemeinschaft beheimatet haben. Sie wissen dann oft nicht, wer sie beruflich sind, und geraten völlig aus dem Lot, wenn sie sich plötzlich auf dem Arbeitsmarkt neu orientieren müssen. Daher unterscheiden wir den beruflichen Lebensweg einerseits und bestimmte Funktionen in bzw. die Zugehörigkeit zu Organisationen andererseits. Die Perspektiven zu unterscheiden, schafft die Voraussetzung für getrennte Betrachtungen und für Fragen der Passung der Entwicklungen in beiden Sphären.

3.6 Passung

Viele Menschen geraten in berufliche Tätigkeiten und Organisationsfunktionen, die sie nicht befriedigen und ausfüllen können. Das ist gar nicht so selten, wird jedoch oft eher unterschwellig empfunden. Sich dies einzugestehen, ist häufig mit Scham behaftet und wird leicht ausgeblendet, zum Beispiel wenn es nicht zum gewünschten Selbstbild passt. Unzureichende Passung wird dann als diffuses Unbehagen erlebt. Manchmal schwelt im Hintergrund stumme Verzweifelung (Berne 1964, Schmid 1989). Wenn man damit zu tun hat, ist es nicht einfach, angemessen zu beschreiben, wo die Diskrepanzen liegen und was zu tun wäre, um Abhilfe zu schaffen. Dazu bedarf es feinsinniger Gespräche.

Kompetenz und Bereitschaft zu gemeinsamen Klärungen solcher Fragen sind in professionellen Gemeinschaften und Organisationen meist nicht sonderlich ausgeprägt. Daher leben die Menschen und die Organisationen oft viele Jahre mit Minderleistungen und persönlichen Belastungen. Diese könnten durchaus vermieden werden, wenn die differenzierte Klärung solcher Passungs-Fragen selbstverständlicher Bestandteil professioneller Kompetenz und Organisationskultur wäre. Hierzu bedarf es, neben Gesprächstechniken, eines differenzierten Verständnisses von Persönlichkeit bezogen auf Berufs-lebenswege und Organisationsfunktionen. Diese sind heute in komplexer gewordene Welten eingebettet und können immer weniger losgelöst von einer umfassenderen gesellschaftlichen Umwelt verstanden werden. Daher geht es um den Menschen als Mittelpunkt einer persönlichen Biografie und gleichzeitig als Mitglied einer sich zunehmend globalisierenden Gesellschaft.

3.7 Umgang mit Überkomplexität

Stehen wir also wie David vor dem Goliath der Überkomplexität, mit der wir irgendwie zurechtkommen müssen? Antworten finden wir meist nicht mehr dadurch, dass wir uns auf einige Beschreibungen und Steuerungsebenen konzentrieren und die eigene Kompetenz dort perfektionieren. Dies käme einem Versuch der illusionären Beherrschung der Aufgabenstellungen gleich. Hingegen ist Der flexible Mensch (Sennett 1998; orig.: The Corrosion of Character) heute der Mensch, der lebenslang an möglichst kompetenten Varianten der prinzipiellen Unwissenheit arbeitet.

Es geht also um Selbstverständnisse und Kompetenzen an den Knotenpunkten zwischen Persönlichkeitskultur, Professionskultur, Organisationskultur und der Kultur des Wirtschaftens unserer Gesellschaft.

3.8 Unternehmen und Organisationen

Die starke Betonung des Menschen könnte den Eindruck erwecken, dass hier von einem Gegensatz zwischen der Wohlfahrt des Menschen und den Bedürfnissen von Organisationen ausgegangen wird. Dies ist aber natürlich nicht notwendig der Fall. Im Gegenteil sind wir davon überzeugt, dass es keine nachhaltige Entwicklung für die einzelnen Menschen gibt, wenn sich die Gesellschaft nicht in dafür geeigneter Weise entwickelt. Auch wird hier kein Gegensatz zwischen Wirtschaft und Gesellschaft proklamiert, sondern wir folgen dem Verständnis von Luhmann (1988), nach dem Wirtschaft und Gesellschaft nicht zwei verschiedene Bereiche sind, sondern Wirtschaften eine wichtige Dimension von Gesellschaft und der Lebensvollzüge darin ist. Von daher ist Wirtschaftskultur ein Bestandteil von Gesellschaftskultur. Gesellschaftskultur ohne oder gar gegen Wirtschaftkultur entwickeln zu wollen, wäre genauso, als wenn man die Lebenskultur einer Familie ohne den Umgang mit Zeit, Geld, dem Können, dem Engagement ihrer Mitglieder – also der Ökonomie der Familie – bestimmen wollte.

3.9 Kulturentwicklung in Organisationen

Darüber hinaus sind wir überzeugt davon, dass größere soziale Systeme, also auch Unternehmen und Organisationen, ohne eine geeignete Kultur überhaupt nicht steuerbar sind (Schmid/Meyer 2010). Sie sind so komplex, dass der Versuch, alle Prozesse technisch kontrollierbar und lenkbar zu machen, die verfügbare Steuerungskompetenz und -kapazität um Dimension überschreiten würde. Größere soziale Systeme sind nur dadurch steuerbar, dass die handelnden Menschen verstehen, worauf es ankommt, wie Leistungen zu erbringen sind, wie man dabei mit sich und anderen umgehen soll, was zum Stil dieses Unternehmens gehört und was nicht. Dies klingt vielleicht wie ein Anspruch, ist aber eine Tatsache – auch wenn sie oft ausgeblendet wird.