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Bernd Rill

Was Luther angerichtet hat

Bernd Rill

Was Luther angerichtet hat

Die Reformation und ihre Folgen

Butzon & Bercker

„Orientierung durch Diskurs“ Die Sachbuchsparte bei Butzon & Bercker, in der dieser Band erscheint, wird beratend begleitet von Michael Albus, Christine Hober, Bruno Kern, Tobias Licht, Cornelia Möres, Susanne Sandherr und Marc Witzenbacher.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.


Das Gesamtprogramm von Butzon & Bercker finden Sie im Internet unter www.bube.de

ISBN 978-3-7666-2270-9

E-Book (Mobi): ISBN 978-3-7666-4303-2

E-Book (PDF): ISBN 978-3-7666-4302-5

E-Pub: ISBN 978-3-7666-4301-8

© 2017 Butzon & Bercker GmbH, Hoogeweg 100, 47623 Kevelaer, Deutschland, www.bube.de

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Christoph Kemkes, Geldern

Satz: Schröder Media GbR, Dernbach

Printed in The Czech Republic

Inhalt

Vorwort

Kapitel eins: Zwischen Wittenberg und Rom. Die Reformation und die Folgen

Kapitel zwei: Die Reformation behauptet sich

Kaiser Karl V. – Reichstag zu Worms 1521 – Der erstaunliche Nuntius – Hutten und Sickingen – Der leidige Bauernkrieg – Luther und die Obrigkeit – Luther und die Freiheit – Die Reformation breitet sich aus – Ulrich Zwingli – Des Kaisers große Politik – Die Reichstage von Speyer 1526 und 1529 – Augsburg 1530 – Der Schmalkaldische Bund – Katholische Bünde – Weitere Fortschritte der Reformation – Letzte Ausgleichsversuche – Regensburger Religionsgespräch 1541

Kapitel drei: Die Reformation verbreitet sich in Europa

Dänemark – Norwegen – Island-Saga – Schweden – Finnland – Polen – Baltikum – Ungarn – England – Frankreich – Jean Calvin – Spanien

Kapitel vier: Die Reformation und Italien

Die religiöse Situation – Einsickern des Protestantismus – Vorboten der Regeneration – Die Jesuiten – Die neue römische Inquisition

Kapitel fünf: Sieg, Niederlage und Konzil

Der Schmalkaldische Krieg bereitet sich vor – Der Krieg – Das Augsburger „Interim“ – Das Konzil geht weiter – in Trient – Des Kaisers große Niederlage – Der Augsburger Religionsfriede – Der Kaiser dankt ab – Ende und Ergebnisse des Konzils von Trient – Zur Deutungshoheit über die Ergebnisse – Ausblick nach „Trient“

Kapitel sechs: Der Konflikt schwelt weiter

Altbayern bleibt katholisch – Die Helden der Gegenreformation – Um die Einheit der Lutheraner – Das landesherrliche Kirchenregiment – Die Niederlagen der Protestanten – Regensburger Reichstag 1608 – Stillstand der Reichsgewalt – Auseinanderfallen in „Union“ und „Liga“ – Der Protestantismus in Österreich – Entscheidung in Innerösterreich – Die Gegenreformation des Kaisers – Ein Bruderzwist in Habsburg – Der Majestätsbrief – Regensburg 1613 – erneuter Stillstand

Kapitel sieben: Im Dreißigjährigen Krieg

Der Prager Fenstersturz – Dänemark und Schweden greifen ein – Endgültig ein europäischer Krieg – Erste Schritte zum Frieden – Der Westfälische Friede

Kapitel acht: Barock und Aufklärung

Eine „Zweite Reformation“? – Der Pietismus – August Hermann Francke – Die Herrnhuter – „Bekenntnisse einer schönen Seele“ – Zwei Pietisten in Württemberg – Barock im Abendland – Musik und Religion – Fortbestehende Glaubensspannungen – Karls VII. Säkularisations-Skandal – Konfessionelles in der internationalen Politik – Rückfälle in die Gegenreformation – Katholische Volkskultur – „Der Cherubinische Wandersmann“ – Die Aufklärung zieht herauf – Die Fortschrittsidee – Theologie und Aufklärung – Auflösung des Jesuitenordens – Die Freimaurer – Kaiser Joseph II. – Staatskirchentum und Febronianismus – Kurze Bemerkung zum deutschen „Dualismus“

Kapitel neun: Säkularisation allerorten

Die Französische Revolution – Der Kult des „Höchsten Wesens“ – Das Ende der geistlichen Fürstentümer im Reich – „Gesundschrumpfung“ der katholischen Kirche – Napoleon und der Papst – Der Wiener Kongress – Romantik und Christentum – Wie christlich war die Weimarer Klassik?

Kapitel zehn: Die katholische Kirche im 19. Jahrhundert

Romantisches Staatsdenken und Religion – Restauration – Religion und Nationalismus – Kirchliche Neuorganisation nach 1815 – Der Kaiser und die Zillertaler – Römischer Traditionalismus – Das Dogma von der unbefleckten Empfängnis Mariens – „Syllabus“ und päpstliche Unfehlbarkeit – Das Erste Vatikanische Konzil – Pius’ IX. Abgesang und Seligsprechung

Kapitel elf: Von der Romantik zur sozialen Frage

Schleiermachers Gefühls-Religion – Weitere Tendenzen der Säkularisierung – Albrecht Ritschl und Friedrich Nietzsche – Religion und Historismus – Religion und Materialismus – Religion und die Revolution von 1848/49 – Intermezzo: Preußens „christlicher Staat“ – Religion und die (klein-)deutsche Einigung – Die Zentrumspartei – Der „Kulturkampf“ – Die Kirchen und die soziale Frage – „Rerum novarum“

Kapitel zwölf: Weltkrieg, Zwischenkriegszeit, Drittes Reich

Die Kirchen und der Erste Weltkrieg – Matthias Erzberger vom Zentrum – Die Niederlage und die Protestanten – Die Kirchen und die Weimarer Reichsverfassung (WRV) – Protestanten und Republik – Der Ausgang der Weimarer Republik – Der NS-Staat festigt sich – Das Reichskonkordat – Der „Christliche Ständestaat“ in Österreich – Die Enzyklika „Mit brennender Sorge“ – Zwei Erzbischöfe als Beispiele: Conrad Gröber und Theodor Innitzer – Die „Deutschen Christen“ – „Bekennende Kirche“ und „Barmer Erklärung“ – Nachzuschieben: Luther und die Juden – Die Kirchen während des Krieges – Das Attentat vom 20. Juli 1944 – Die Kirchen und der „Holocaust“

Kapitel Dreizehn: Nachkriegszeit und Ökumene

Neuaufstellung der Evangelischen Kirche – Denkschriften – Besonders: die „Ostdenkschrift“ – Christentum und Grundgesetz – Gründung von CDU und CSU – Christlich Inspiriertes im Leben der Bundesrepublik – Die beiden Konfessionen und die deutsche Einheit – Das Zweite Vatikanische Konzil – „Aggiornamento“ als bleibende Aufgabe – „Wittenberg“ und der ökumenische Gedanke – „Rom“ und der ökumenische Gedanke – Wie geht es weiter?

Literaturverzeichnis

Vorwort

Nichts lag Martin Luther, dem Mönch und grübelnden Theologen, ferner, als „Politik zu machen“. Und doch wurde er „ein Umstürzler, wie ihn die Welt kaum je gesehen hatte“ (Richard Friedenthal). Sein Erfolg war so gewaltig und vor allem so dauerhaft, dass er den Begriff des „Ketzers“, in dem Verdammung und Ausgrenzung mitschwingen, schon fast ad absurdum führte. Ketzer, das waren im Mittelalter heterodoxe Randgruppen, deren sich die Kirche, teilweise mit rabiaten Mitteln, immer wieder entledigt hatte (mit Ausnahme der Hussiten). Doch die Lutheraner, Reformierten, Anglikaner etc. konnten von Rom weder vernichtet noch zurückgeholt werden, ihre Heterodoxie gewann vielmehr das Gewicht einer neuen Orthodoxie eigenen Rechts. Ignaz von Döllinger hat als skrupulöser katholischer Theologe behauptet, Luther habe einen neuen Glauben schaffen können, aber keine neue Kirche. Genau das hat Luther aber geschafft! War er auch selbst zu leidenschaftlich und zu spontan, um feste organisatorische Strukturen so zu gründen, dass sie im Sturm der Zeiten Bestand haben konnten, hat er doch die entscheidenden Stichworte vorgegeben, die zur Legitimierung solcher Strukturen von den weltlichen Machthabern eingesetzt wurden.

Es lässt sich kaum ein weltgeschichtliches Ereignis nennen, das an Bedeutsamkeit der von Deutschland ausgegangenen Reformation gleichkäme. Deren bis heute reichende Fortwirkung hat auch den Schub an Säkularisierung überdauert, dem unsere westliche Welt ab dem 17. Jahrhundert verstärkt unterliegt. Denn Gedanken, die ursprünglich aus der geistlichen Sphäre herrühren, haben in gut nachvollziehbarer Transformation während der Neuzeit unser Staats- und Gesellschaftsverständnis zutiefst beeinflusst, wobei die Ideen der Reformation einen prominenten Platz einnehmen. Das gilt gerade auch für den Geist der Verfassung (Grundgesetz) der Bundesrepublik Deutschland.

Aber, bei allem Jubiläums-Jubel über Luthers so genannten Thesenanschlag an der Schlosskirche zu Wittenberg: Die katholische Seite mag sich lange schwer getan haben, dem zu Wittenberg initiierten Freiheits-Pathos ihrerseits zu folgen. Doch in unserer Zeit öffnet sie sich diesem ebenfalls, und das mit einer theologischen Grundierung, wie sie spätestens seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil vorliegt. So sind die Kirchen immer weniger eine abgeschlossene Gesellschaft, die der Moderne halbwegs ratlos gegenüber steht, sondern gleichberechtigte Akteure in unserem aktuellen Pluralismus und, wenn sie ihre Rolle wohl verstehen, unverzichtbare Stimmen darin.

Im deutschsprachigen Bereich blicken die beiden großen Kirchen mittlerweile auf ein halbes Jahrtausend der Symbiose zurück, die als ebenso spannungsgeladen wie fruchtbar bezeichnet werden darf, von den anfänglichen Glaubenskriegen über die mühsame Schule der gegenseitigen Toleranz bis hin zu den heutigen ökumenischen Feiern und Gottesdiensten. Deshalb soll diese Darstellung in handlicher und geraffter Form darüber informieren, „was Luther angerichtet hat“ und wie die christliche Welt in Deutschland dadurch nachhaltig geprägt worden ist. Das Jubiläumsjahr 2017 wird am besten dann begriffen, wenn man sich die zugrunde liegende Geschichte, über die da gefeiert wird, noch einmal zusammenfassend vergegenwärtigt.

Dass dabei in abgewogener Weise berichtet werden muss, weder Wittenberg- noch Rom-lastig und ohne Polemik, versteht sich von selbst. Zu der Thematik gibt es eine Menge dickleibiger Schmöker, und vollends die wissenschaftliche Fachliteratur ist schon lange nicht mehr überschaubar. So hat der Autor versucht, die wesentlichen Punkte der Entwicklung in übergreifender Schau zusammenzufassen, um ein generelles Profil aufzuzeigen, von dem aus dem an speziellen Gegenständen interessierten Leser der Weg zur Vertiefung offensteht.

Geistesgeschichtliche Zusammenhänge, die auch uns noch etwas angehen, müssen erwähnt werden, denn Geschichte ist niemals nur Vergangenheit. Aber wohlfeile Aktualisierungen brauchen wir nicht. Große Jahrestage verfallen beim Gedenken an sie leicht der Tendenz des als borniert gezeichneten Famulus Wagner aus Goethes „Faust I“:

„Zu schauen, wie vor uns ein weiser Mann gedacht,

Und wie wir’s dann zuletzt so herrlich weit gebracht“.

Da ist der Glaube an den linear aufsteigenden Fortschritt artikuliert. Doch wenn die Reformation auch den ersten Anstoß zu einem politisch-gesellschaftlichen Zustand gegeben hat, den wir als den Fortschritt in der abendländischen Neuzeit begreifen dürfen, müssen wir dennoch vorsichtig darin sein, den Optimismus des Famulus Wagner ungebrochen zu teilen.

München, am Reformationstag 2016

Kapitel eins:
Zwischen Wittenberg und Rom. Die Reformation und die Folgen

Das wäre eine suggestive, geradezu filmreife Szene gewesen: Mit flatterndem Gewande schlägt der Augustiner-Eremiten-Mönch und Professor der Theologie Martin Luther seine 95 lateinischen Thesen, später auf Deutsch mit der Überschrift „Propositiones wider das Ablas“, an der Schlosskirche zu Wittenberg an. Es ist der 31. Oktober 1517, der Vortag zu Allerheiligen. Und was eigentlich nur der übliche akademische Weg war, eine gelehrte Disputation über das kirchliche Ablasswesen einzuleiten, das Luther nicht grundsätzlich ablehnte, doch dessen theologische Durchdringung noch zu wünschen übrig ließ, wurde wegen des unerwarteten Widerhalls in einer immer breiteren Öffentlichkeit zum Ausgangspunkt der epochalen Reformation und einer massenhaften Loslösung von der Papstkirche bis auf den heutigen Tag.

Dass Luther am 31. Oktober derart publikumswirksam aufgetreten ist, wird indessen vielfach bezweifelt. Jedenfalls hat Luther am selben Tag an Erzbischof Albrecht von Magdeburg geschrieben, seinen kirchlichen Vorgesetzten, der gleichzeitig Administrator des Bistums Halberstadt und als Erzbischof von Mainz und damit als Erzkanzler des Heiligen Römischen Reichs dessen ranghöchster geistlicher Würdenträger war. In seinem Brief bat Luther den Erzbischof, die Ablassprediger in genauere Disziplin zu nehmen, seine Instruktionen für sie zurückzunehmen und vielleicht die beigefügten 95 Thesen zur Kenntnis zu nehmen. Albrecht reagierte, indem er die Thesen an die Universität Mainz überwies, damit man zu einem Verbot an Luther komme, sich weiterhin über das Ablasswesen zu äußern. Zudem wurde der Fall nach Rom gemeldet, wo auch Papst Leo X. (1513 – 1521) die theologischen Fachleute mit ihm befasste.

Dabei ging es um hohe finanzielle Interessen sowohl der Kurie als auch des doppelten Erzbischofs, denn das Prinzip dabei war Sündenvergebung gegen Geldzahlung nach genau gestaffelten Taxen. Das klang nach Missbrauch eines geistlichen Vorgangs zugunsten fiskalischer Ausbeutung, war zwar schon jahrhundertelang praktiziert, aber auch kritisiert worden, beispielsweise von den der Kirche verhassten „Erzketzern“ John Wiclif (in England, Ende des 14. Jahrhunderts) und Jan Hus (in Böhmen, Anfang des 15. Jahrhunderts). Das Neue, das nun Weltgeschichte machte, bestand darin, dass aus dem anscheinend eher begrenzten Thema eine Bewegung entstand, nicht unter den Fachgelehrten, denn die nahmen Luthers Diskussionsangebot gar nicht an, sondern im „Volk“. Die Thesen wurden schnell ins Deutsche übersetzt, fanden durch den zwei Generationen zuvor erfundenen Buchdruck eine Verbreitung, wie es mittelalterlichen Handschriften niemals hatte gegeben sein können, und schlugen bei Gebildeten wie bei weniger Gebildeten gleichermaßen ein. Luther schien durch seine Aufmüpfigkeit eine schon länger vorhandene Stimmung unter den Deutschen getroffen zu haben, die nun zum – man darf schon sagen – Ausbruch kam.

Diese Stimmung wandte sich in einer bis dahin noch nicht erlebten Stärke gegen die römische Kirche und deren Wirken in Deutschland; nationale Töne schwangen ebenfalls schon mit. Es ging letztlich nicht nur um den Widerstand gegen kuriale Übergriffe finanzieller, administrativer und allgemein-politischer Art, so zahlreich sie auch sein mochten, sondern um das universale Thema einer Kirchenreform, denn die innerkirchlichen Zustände wurden als immer weniger vereinbar mit dem geistlichen Auftrag der Kirche wahrgenommen. Die fortbestehende intensive Frömmigkeit in der Bevölkerung fand zu wenig Befriedigung in dem Angebot der institutionalisierten Heilsanstalt, als die die Kirche sich definierte. Dass daraus der dauerhafte Abspaltungsprozess der Reformation hervorging, war einerseits zwar nicht frei von historischen Zufälligkeiten, hatte andererseits aber auch einen jahrhundertelangen Vorlauf, der die Abspaltung in ihrer nicht zu brechenden Vitalität erklärlich machte. Auch wenn wir uns nicht dazu versteigen wollen, deshalb von einer historischen Notwendigkeit zu sprechen, denn das könnte leicht eine geschichtsphilosophische Überanstrengung sein, sind doch langwirkende Kausalketten feststellbar.

Beginnen wir mit der Verstrickung der römischen Kirche in die große Politik, mit dem Höhepunkt unter den bedeutendsten Päpsten des 13. Jahrhunderts. Schon damals hatten die Franziskaner als neuartiger Bettelorden dagegen die Rückkehr zur apostolischen Einfachheit und Armut der Urkirche gefordert. Auch die neugegründeten Dominikaner gingen betteln. Es ist der Amtskirche gelungen, diese Bewegungen kurz nach ihrem Auftauchen im Wesentlichen in ihre Strukturen zu integrieren – weshalb katholische Autoren meinen, das sei bereits die „Reformation“ gewesen, und die nachfolgende Luthers hätte es also nicht mehr gebraucht.

Aber der Gang der Kirchengeschichte im späten Mittelalter lässt Zweifel an diesem Urteil aufkommen. Zunächst, weil die Kirche durch ihre Unterstellung unter die Könige von Frankreich („Babylonische Gefangenschaft“ in Avignon, 1309 – 1376) keine Chance bekam, den weltlichen Händeln der großen Politik zu entkommen, ja womöglich noch mehr in diese verstrickt wurde, und das nicht einmal als eine triumphierende Kirche (ecclesia triumphans) wie im 13. Jahrhundert, sondern eben im Schatten der Könige von Frankreich. Das bedingte einen Verlust an Autorität und Ansehen, und der schwindelerregende Ausbau des kirchlichen Finanzwesens gerade in der Avignoneser Zeit sowie die juristisch aufwendige Kultivierung der doch eigentlich verpönten „Simonie“ schufen zusätzliche Ressentiments.

Die Rückkehr von Papst Gregor XI. nach Rom hatte ein 37-jähriges Schisma zur Folge, da die Franzosen sich nicht mit ihrem Verlust an Einfluss abfanden. Am Ende amtierten drei Heilige Väter gleichzeitig, mit gegenseitiger Exkommunikation, was auf die Kirchengläubigkeit der Frommen einen verheerenden Eindruck machte und die Institution des Papsttums noch mehr in die Strudel der Politik hineinriss.

Das Heilmittel zur Beilegung des Schismas schien zu sein, der päpstlichen Monarchie durch die Etablierung der Autorität von Konzilien eine Art konstitutioneller Fesseln anzulegen, von Versammlungen aller Gläubigen, nicht nur der Kardinäle und Kirchenfürsten, sondern auch der Gelehrten von den großen Universitäten, damit – idealiter – das gesamte Gottesvolk seine Kirche, an der es nach wie vor hing, reformieren konnte. Dieses Projekt umfasste neben der Beseitigung des Schismas die Abstellung der in der Kirche aufgekommenen Missbräuche.

So trat, eine diplomatische Meisterleistung des römisch-deutschen Königs und späteren Kaisers Sigmund (1410 – 1437, vielfach auch Sigismund genannt), das Konzil von Konstanz zusammen (1414 – 1418). Die drei Päpste mussten sich zugunsten Martins V. (1417 – 1431) ihre Absetzung gefallen lassen. Man stellte 30 Artikel „Irrtümer des Johannes Hus“ zusammen, die der neue Papst nach seiner Wahl absegnete. Am 6. Juli wurde Jan Hus vor den Toren von Konstanz öffentlich verbrannt. Der daraufhin ausbrechende Aufstand seiner Anhänger in Böhmen war durch verschiedene „Kreuzzüge“ aus dem Reich heraus nicht zu bändigen. Die „Hussiten“ gewannen ihre Dynamik durch nationale (tschechische, d. h. antideutsche), soziale und religiöse Motive, die, über die Lehren von Jan Hus hinaus, bis hin zu einem kämpferischen Chiliasmus reichten.

Auf dem Konzil von Basel (1431 – 1449) sah sich die Kirche daher zu vertraglichen Konzessionen genötigt, die in den Prager Kompaktaten von 1433 festgehalten wurden. Die religiöse Hauptsache war dabei die Einräumung der Kommunion unter beiderlei Gestalt, nachdem die Kirche in den letzten Jahrhunderten, und noch einmal bekräftigt auf dem Konstanzer Konzil, die Kommunion an die Laien nur unter der einen Gestalt des Brotes gespendet hatte. Dafür versprachen die Gemäßigten unter den Hussiten, sich wieder mit der Kirche vereinigen zu wollen, und die Radikalen wurden von ihnen selbst bald niedergekämpft. 1452 erklärte Papst Nikolaus V. die Prager Kompaktaten für kassiert, doch die Machthaber in Böhmen hielten sich nicht daran. Das war der erste dauernde Verlust, den die römische Kirche an ihrer Glaubens-Autorität hinnehmen musste, in seiner Dimension allerdings ungleich geringer als der durch die spätere Reformation.

Die Kirchenreform nahm man sich in Konstanz mit großem Fleiß vor, weniger als religiöses (da glaubte man, mit der Verdammung der Lehren von Wiclif und Hus sowie mit der Verbrennung des Letzteren genug getan zu haben), denn als organisatorisch-moralisches Problem, und über den Kopf des Papstes hinweg. Das war jedoch ernsthaft genug. Die Diskussion auf dem Konzil war materialreich: Entweder das Kardinalskollegium sollte umfassendes Mitspracherecht am Thron des Nachfolgers Petri erhalten, oder dieses Kollegium war abzuschaffen, da es mit den kritisierten simonistischen Umtrieben zu eng verflochten war. Es oblag dann den Konzilien und Synoden, den Papst streng zu überwachen. Man gelangte nach unendlichen Verwicklungen zu folgenden, hier nur in Auswahl erwähnten Ergebnissen:

Alle zehn Jahre war, vom Papst einberufen, ein Konzil abzuhalten, nach Konstanz aber im fünften und dann im siebenten Jahr. Im Falle eines weiteren Schismas automatischer Zusammentritt. Der Papst darf Prälaten nur mit Zustimmung der Kardinäle versetzen. Nachlass der Geistlichen (Spolien) und Gebühren für Visitationen (Prokurationen) stehen der Kurie nicht mehr zu, ebenfalls nicht mehr die Einkünfte aus vakanten Pfründen. Aktive und passive Simonie zieht die Exkommunikation nach sich, die simonistisch erworbenen Gelder müssen zurückerstattet werden. Residenzpflicht für Bischöfe und Äbte, ohne jegliche Befreiung davon. Weitgehende Beschränkung der Erfindung und Erhebung päpstlicher Sonderabgaben, am Ende: sittsame Regeln über Tonsur, Kleidung und äußeres Auftreten der Kleriker. Regelungen zu der Vergabe von Pfründen, mit der interessanten, auf die mangelnde Bildung des damaligen Klerus Rückschlüsse erlaubenden Einzelheit, dass an Dom- und Stiftskirchen sowie bei größeren Pfarreien ein Sechstel der Stellen für wissenschaftlich Gebildete vorgesehen war. Auch das Konzil von Basel erging sich in detaillierten Änderungsdekreten. Aber es fehlte im Allgemeinen der kirchenpolitische Wille, diese in die Wirklichkeit umzusetzen.

Solche Versuche zeugten von der Einsicht in die Missstände im Schoße der Kirche, hatten aber zur Folge, dass die Päpste nach Konstanz einen erheblichen Teil ihrer Arbeitskraft in das Bemühen investierten, die Folgekonzilien, um deren Einberufung sie freilich nicht herumkamen, so ergebnislos wie möglich zu machen. Sie brachten sogar die in Konstanz beschlossene, grundsätzliche Überordnung des Konzils über den Papst zu Fall. Pius II. (1458 – 1464) erließ 1460 ein Dekret, das den Bann über alle aussprach, auch Kaiser, Könige oder Päpste, die es wagten, an die übergeordnete Instanz eines Konzils zu appellieren.

Das war politisch möglich, weil die Kurie sich inzwischen mit der zweiten im Mittelalter bestehenden Universalgewalt, mit dem Kaisertum, ins Benehmen gesetzt hatte. Kaiser Friedrich III. (1440 – 1493) war im Reich so schwach, dass er die Bedeutung seines Amtes nur im Zusammengehen mit dem römischen Papst wahren zu können glaubte. Daraus folgte, dass die Fürsten des Reiches im Widerstand gegen die weiter erfolgenden Eingriffe der Kurie finanzieller, personeller und machtpolitischer Art nicht auf die Unterstützung ihres Oberhauptes zählen konnten. Es ergab sich also ein durch das gesamte weitere 15. Jahrhundert beständig fortbrodelnder Unmut, der dann den Erfolg der Reformation Luthers nicht unwesentlich begünstigte.

Und je mehr der Papst seinen nach den Wirren des Schismas quasi neu gebildeten Kirchenstaat in der Mitte Italiens als eine der weltlichen Mächte auf dieser Halbinsel verstand, desto mehr geriet er wieder in den Bannkreis der großen Politik, wie ehedem. Desto mehr war er auch an seiner Einflussnahme im Heiligen Römischen Reich interessiert, die seine Kontrolle über die Besetzung der geistlichen Fürstentümer einschloss, einer Herrschaftsform, die es innerhalb der abendländischen Christenheit so nur mit dem Mittelpunkt in Rom und eben in Deutschland gab. Das oppositionelle (und weitgehend erfolglose) Ergebnis waren die „gravamina (Beschwernisse) der deutschen Nation“, wie sie ab dem Frankfurter Reichstag von 1456 immer wieder vorgebracht wurden, auch von den geistlichen Fürsten und den Freien Reichsstädten. Nicht nur willkürliche Eingriffe in geistliche Stellenbesetzungen, auch finanzielle Zumutungen und Anmaßung geistlicher Gerichtsbarkeit in an sich weltlichen Angelegenheiten standen dauernd auf der Agenda. Da wehrte sich der allmählich entstehende, neuzeitliche Territorialstaat gegen Störungen seiner Konsolidierung durch eine Macht, die für sich Überordnung in Anspruch nahm. War partikularer fürstlicher Egoismus im Spiel, so fehlte es bei den gravamina auch nicht an nationalen Untertönen, wenn die auch bei Weitem noch nicht die ideologische Exklusivität im Stile des 19. Jahrhunderts für sich in Anspruch nahmen. Auch das wurde zum Treibsatz für den Erfolg der Reformation.

Dieser stand auf zwei Säulen: der politischen ebenso wie der religiösen. Die Persönlichkeit Luthers, den man zu den religiösen Genies zählen muss, stand für die außer – oder wenn man so will: überpolitische Wirksamkeit der Reformation. Aber auch die allgemeine Entwicklung des Geisteslebens der lateinischen Christenheit gehörte dazu, das, sofern es der Autorität des römischen Pontifex über die Geister und Gemüter abträglich war, sogar über das eigentliche Glaubensleben hinausging. Zwei Stichworte drängen sich hier auf: Renaissance und Humanismus.

Die Renaissance war ein großartiger kulturgeschichtlicher Aufbruch, der die Tendenz hatte, die geistige Alleinherrschaft der mittelalterlichen Kirche nachhaltig infrage zu stellen. Bekanntlich ist die Renaissance durch die Wiederbelebung der geistigen Schätze der klassischen Antike gekennzeichnet, die nicht christlich, sondern heidnisch geprägt gewesen war. Deshalb haben die Liebhaber der Antike aber das Christentum nicht in kulturrevolutionärer Unbedingtheit schlechthin verworfen. Die „Platonische Akademie“, die zu Beginn des 15. Jahrhunderts in Florenz als ein Gesprächskreis von Intellektuellen entstanden ist, verfolgte das hehre Ziel, die Lehren des Christentums mit denen der antiken Philosophie zu amalgamieren. Platon mit seiner Lehre vom ewigen Reich der Ideen, die sich auf Erden materialisieren, konnte dafür als Referenz verwendet werden.

Es wäre niemandem eingefallen, sich schlankweg als Atheisten zu bezeichnen. Sofern man in Glaubensdingen überhaupt nach letzter Klarheit strebte, kam allenfalls ein Deismus (Gott hat die Welt geschaffen, greift aber nicht mehr in sie ein) oder Theismus (Gott kann doch noch in die Welt eingreifen) zustande. Jedenfalls traten in solcher Sicht die verbindlichen kirchlichen Lehren von Erbsünde und Erlösung in den Hintergrund.

Es war gewissermaßen auch die Geburtsstunde des Historismus, für den dann im 19. Jahrhundert alle Zeitalter ihre besondere Würde haben und keines das andere im Sinne eines Fortschrittes der Erkenntnis oder einer spezifischen Heilsgeschichte übertrifft. Leopold von Ranke hat dies christlich akzentuiert, indem er (dem Sinne nach) befand, alle Zeitalter seien zu Gott hin gerichtet. Aber genau zu dem, für den die Kirche als Verwalterin seiner Offenbarung verpflichtend aufrief, zu eben dem nicht mehr.

Joseph Lortz in seiner „Geschichte der Kirche in ideengeschichtlicher Betrachtung“ fasst nicht ohne Tadel zusammen: „Man sucht eine freiere, schönere, harmonischere Menschheit. Das Konzept der Freiheit und der Rechte des Menschen, das, wenn auch mitunter zurückgedrängt, in der einen oder anderen Form die Entwicklung des Menschen in der modernen Zeit begleitet, steht klar am Anfang seiner Entwicklung. Diese freiere Haltung hatte bedeutende Folgen für den religiösen Bereich. Der Wert der Wahrheit, die bedingungslos verpflichtend ist, verlor seine Anziehungskraft. Zum Nachteil des Glaubens wurde die Freiheit überbewertet. So begann und nährte sich jene einseitige Auffassung, die bis heute die Renaissance als eine Periode der Freiheit betrachtet, die aber leider unterbrochen wurde von Reformation und Gegenreformation.“

Der letzte Satz läuft der Chronologie unserer Darstellung voraus, indem er auf den Aphorismus Nr. 237 aus Nietzsches Werk „Menschliches, Allzumenschliches – ein Werk für freie Geister“ (1878) verweist: „Dagegen [gegen die säkularisierende Wirkung der Renaissance, Anm. d. Verf.] hebt sich nun die deutsche Reformation ab als ein energischer Protest zurückgebliebener Geister, welche die Weltanschauung des Mittelalters noch keineswegs satt hatten.“ Sie warfen mit ihrer nordischen Kraft und Halsstarrigkeit die Menschen wieder zurück, erzwangen die Gegenreformation, das heißt ein katholisches Christentum der Notwehr, mit den Gewaltsamkeiten eines Belagerungszustandes, und verzögerten um zwei bis drei Jahrhunderte ebenso das völlige Erwachen und Herrschen der Wissenschaften, als sie das völlige In-Eins-Verwachsen des antiken und des modernen Geistes vielleicht für immer unmöglich machten.

Geschichtliche Phänomene in die Perspektive eines Fortschrittes einzuspannen, den man vorab selbst definiert hat, das dient der übersichtlichen Gliederung eines Textes, aber nicht unbedingt der tieferen Einsicht in diese Phänomene. Den unbestreitbaren moralischen Sumpf diverser Renaissance-Päpste (man denke nur kurz an die Verbrechen der Borgia, den eher martialischen als seelsorgerischen Julius II. und den verschwenderischen Genussmenschen Leo X.) zum Ende der mittelalterlichen Vorurteile namens Religion hochleben zu lassen, das mag in Nietzsches Linie gelegen haben, wird aber dem fortlebenden, vitalen Bedürfnis nach Religion, das die Menschen dies- und jenseits der Alpen durchaus noch hatten, nicht gerecht. „Kirche“ war in diesem Lichte nur der äußere, formale Ausdruck für ein großes geistliches Bedürfnis, das in dieser Institution, die es das Mittelalter hindurch hervorgerufen und den Menschen eingepflanzt hatte, nunmehr zu wenig an Heimstatt fand.

Ein deutliches Zeichen dafür ist das unglaubliche Wirken des Girolamo Savonarola von 1494 bis 1498 in Florenz. Er war dort Prior des Dominikanerklosters und wurde bekannt als feuriger Bußprediger. Deren hatte es im Italien des 15. Jahrhunderts viele gegeben, genannt seien hier nur Bernardino da Siena und Giovanni da Capestrano, der europaweit wirkte. Doch Savonarola übertraf alle an Wirkmächtigkeit, wenn auch nur für kurze Zeit. Seine Beredsamkeit, die vor apokalyptischem Hintergrund zu Buße und Askese aufrief, konnte im damaligen Florenz, das der Herrschaft der Medici entglitten war, mit entsprechend wachsenden Bestrebungen zur Errichtung einer Volksherrschaft, einen Sturm der populären Begeisterung auslösen.

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421 S. 3 Illustrationen
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9783766643018
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