Werft eure Zuversicht nicht weg

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Was nährt meine Zuversicht?

Ein fröhliches Herz tut der Gesundheit gut, ein bedrücktes Gemüt lässt die Glieder verdorren.

Sprichwörter 17,22

Glückselig, himmlisch, freudig – diese Begriffe drücken Gefühle von Leichtigkeit aus. Gerade Kinder strahlen oft unbeschwerte Freude, Vertrauen und Zuversicht aus. Oder aber sie heulen vor Schmerz und Leid laut auf. Sie leben meist ganz im Augenblick. Vielleicht stellt Jesus darum auf die Frage seiner Jünger, wer im Himmelreich der Größte sei, ein Kind in die Mitte und spricht: „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich hineinkommen. Wer sich so klein macht wie dieses Kind, der ist im Himmelreich der Größte.“ (Mt 18,3–4)

Auch wenn sich bisweilen bedrohliche Wolken am Himmel meiner Gefühle zeigen, die Zuversicht blickt weiter. Sie weiß, dass auch wieder heitere Zeiten kommen werden.

Wertschätzung erfahren

Resi Kaufmann* lebt schon einige Jahre im Sozialzentrum. Wegen der Infektionsgefahr sind während der Corona-Pandemie keine Besuche möglich. Die Angehörigen halten jetzt Kontakt zu ihr über Videotelefonie und gelegentlich auch durch „Fern-Gespräche“ vom Fenster des Sozialzentrums auf den darunterliegenden Parkplatz. Die Unterhaltung erlebt sie manches Mal tröstlich-vertraut und dann doch wieder enttäuschend-fremd, irgendwie wie abgeschnitten.

Frau Kaufmann kennt die vielen Höhen und Tiefen dieser Zeit des Abgeschnittenseins, auch die Angst, ihre Angehörigen nie mehr umarmen zu können. Nun erzählte mir Frau Kaufmanns Tochter kürzlich von einem Telefonat, bei dem ihre Mutter das Gespräch plötzlich beendete: „Jetzt muss ich Schluss machen. Josef kommt gerade, um mit mir Karten zu spielen.“ Die Tonlage der Stimme hatte sich auf einmal positiv verändert. Der persönliche Kontakt und die dadurch zum Ausdruck gebrachte Wertschätzung erfüllte ihre Mutter plötzlich mit neuer Energie, schenkte ihr eine neue, hoffnungsfrohe Perspektive. Vielleicht steckte ja auch etwas Verliebtheit dahinter?

Wertschätzung ist jedenfalls Balsam gegen die Erfahrung der Isolation. In den Zeiten der Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie haben viele die Erfahrung gemacht, dass diese Maßnahmen nicht nur das Virus isoliert haben, sondern weit mehr noch die Menschen. Wertschätzung ist eine Brücke zu neuem Lebensmut. Wohl jeder Mensch wünscht sich einen Partner, eine Partnerin, sei es zum Kartenspiel oder zu einem anderen gemeinsamen Vergnügen. Das kann viel Leid ersparen und tausend Momente der Freude schenken. So meint auch der Gehirnforscher Joachim Bauer: „Nichts stimuliert uns so sehr wie der Wunsch, von anderen gesehen zu werden, die Aussicht auf soziale Anerkennung, das Erleben positiver Zuwendung und die Erfahrung von Liebe. Kern aller Motivation ist also aus neurobiologischer Sicht, zwischenmenschliche Anerkennung, Wertschätzung und Zuwendung zu finden oder zu geben.“4

Sinn erleben

Eine bedeutende Quelle für Zuversicht ist der Sinn. Was ist damit gemeint? Es gibt unzählige Definitionen für Sinn. Sie stehen immer im Zusammenhang mit dem Warum des Lebens. Es geht um die Frage, woran mein Herz hängt, was mein Herz wärmt und mit Freude füllt. Das berührt auch die Frage, wofür ich leben will und leben kann. Es ist die Frage nach dem Wozu, nach dem Motiv meines Lebens. Vaclav Havel (1936–2011), tschechischer Präsident und Menschenrechtler, formulierte den berühmten Satz: „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.“ Diese Kraft der Zuversicht und der Überzeugung einer sinn-vollen Tat kommt in der Geschichte „Der Mann, der einen Wald pflanzte“, überzeugend zum Ausdruck. Vom Romanautor Jean Giono erstmals 1954 veröffentlicht, hat sie bis heute zahllose Leser gefunden.

Die Geschichte beginnt mit einer Wanderung eines jungen Ich-Erzählers Anfang des 20. Jahrhunderts durch das karge Bergland der Provence, „eine nackte und monotone Landschaft auf 1200 bis 1300 Metern Höhe, nur von wildem Lavendel bewachsen“. Inmitten der Einöde trifft er auf einen schweigsamen Mann, von dem eine seltsame Ruhe und Gelassenheit ausgehen: Es ist der Schafhirte Elzéard Bouffier, der sich für ein Leben in der Einsamkeit entschieden hat, nachdem er seine Frau und seinen Sohn verloren hat. Fernab vom Weltgetriebe hütet dieser Hirte aber nicht nur seine Tiere, sondern verfolgt auch eine besondere Mission: Bouffier will die karge Landschaft wieder bewalden und pflanzt daher auf eigene Faust neue Eichen. Tag um Tag bohrt er mit einem Eisenstab Löcher in den trockenen Boden und versenkt darin sorgfältig sortierte Eicheln, unbeeindruckt von der schieren Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens und ohne sich darum zu kümmern, wem das Land gehörte oder was andere darüber denken mochten. In der folgenden Zeit wird der Erzähler in den Strudel des Ersten Weltkriegs gerissen und kehrt erst fünf Jahre später in diese Gegend zurück. Zu seinem Erstaunen trifft er erneut auf den Hirten, der – unbehelligt vom Krieg – stetig weitergepflanzt und mittlerweile einen kleinen Wald geschaffen hat. Im Laufe der Jahre besucht der Erzähler seinen Helden immer wieder und wird Zeuge eines kleinen Wunders: Die von Bouffier gepflanzten Eichen-, Buchen- und Birkenhaine dehnen sich aus und die gesamte Landschaft beginnt sich zu verändern. Es fließt wieder Wasser in den Bachbetten, das Klima wird erträglicher, und die ehemals verlassenen Dörfer werden neu besiedelt. Am Ende, nach über vier Jahrzehnten, hat sich die zuvor karge, verlassene Gegend in ein wahres Idyll verwandelt. „Zählt man die Eingewanderten zu der alten, kaum wiederzuerkennenden Bevölkerung dazu, verdanken mehr als zehntausend Personen ihr Glück Elzéard Bouffier“, berichtet der Erzähler und schildert bewundernd die „dauerhafte Seelengröße und selbstlose Großzügigkeit“ dieses Schafhirten, der sich allein „auf seine physischen und moralischen Kräfte verlassend“ aus einer Wüste ein „gelobtes Land“ geschaffen habe.5

Diese Episode macht bewusst: Sinn kann nicht bloß theoretisch oder technisch konstruiert werden. Sinn muss gefunden und erlebt werden. Ein anderes Beispiel: Wenn ich vor dem gotischen Dom in Feldkirch stehe, weiß ich vielleicht um die bunten Glasfenster des Künstlers Martin Häusle, die den Kirchenraum wunderschön erhellen und die zu den verschiedenen Tageszeiten immer wieder neue Geschichten erzählen. Persönlich erleben und tief erfahren werde ich dieses Wunder jedoch nur, wenn ich in den Dom hineingehe und das bezaubernde Farbenspiel auf mich wirken lasse.

Das ist auch ein Bild für das Leben. Den konkreten Sinn meines Lebens kann ich mir nicht nur im Kopf ausdenken. Ich erfahre ihn, wenn ich – um im Bild zu bleiben – in den „Kirchenraum“ meines Lebens hineingehe. Ich werde vielleicht hineingehen, weil ich weiß und vertraue oder wenigstens hoffe, dass es den Sinn überhaupt gibt. Den Sinn erfahren, mich davon stärken lassen und daraus Zuversicht schöpfen kann ich jedoch nur, wenn ich diesen Raum betrete und mich darin bewege. Das heißt aber auch, dass jede und jeder von uns den Sinn nur für sich persönlich finden kann. Es gibt kein für alle Menschen gültiges Warum und Wozu des Lebens. Wie aber finde ich den Sinn meines Lebens? Wie finde ich zu diesen Quellen der Zuversicht? Mehrere „Hauptstraßen“ führen dorthin.

Schöpferische Werte

Eine Möglichkeit, Sinn zu erfahren, führt über den Weg der schöpferischen Werte. Hermann Hesse formuliert das treffend: „Das Leben stellt jedem eine andere, einmalige Aufgabe, und so gibt es auch nicht eine angeborene oder vorherbestimmte Untauglichkeit zum Leben, sondern es kann der Schwächste und Ärmste an seiner Stelle ein würdiges und echtes Leben führen, einfach dadurch, dass er seinen nicht selbstgewählten Platz im Leben und seine besondere Aufgabe annimmt und zu verwirklichen sucht.“6 Das heißt, dass jeder Mensch sinnvoll leben und und jede Situation sinnvoll gelebt werden kann.

In den Tagen der Corona-Krise haben wir das auch erlebt. Es gab enge Grenzen, die Freiräume unseres Lebens waren sehr eingeschränkt. Ein junger Mann, der schon längere Zeit im Homeoffice war und eine neue Aufgabe für seine Freizeit suchte, erzählte mir von seinem Besuch in einem Baumarkt, der nach den Ausgangsbeschränkungen wieder geöffnet wurde. Es war für ihn wie das Umhergehen in einer Welt, die ihm Freude macht. Etwas, das er sich vorher nie hätte vorstellen können. Warum? Auf einmal hat er viele Möglichkeiten entdeckt, sich sinnvoll und schöpferisch zu betätigen, selbst wenn es nur der kleine Garten war, den er auf seinem Balkon zusammen mit seiner Frau angelegt hat – das Gemüse, die Blumen, die Aussicht auf eine Ernte im Sommer.

Hätte ich diesem vielseitig engagierten jungen Menschen noch vor einem Jahr vorgeschlagen, „lege doch auf dem Balkon einen Garten für dich an“, er hätte mich wahrscheinlich nur belächelt. Die veränderte Lebenssituation hat ihm eine ganz neue Sinnmöglichkeit aufgetan. Sie berührt die tiefsten Schichten des Menschseins, nämlich des Säens, des Schaffens, eben der schöpferischen Werte. Das bestätigt mir auch ein erfolgreicher Politiker. Seine Augen leuchten, wenn er von seinem Weinberg erzählt. Wer einen Garten anlegt, beteiligt sich am großen Schöpfungswerk Gottes. Mit einem Garten schafft man sich einen Ort des Wohlfühlens und auch der Sehnsucht. Gott hat den Menschen nicht in eine fremde Welt hineingesetzt, sondern in einen geschützten Raum. Wie wir auf den ersten Seiten der Heiligen Schrift lesen, war das erste Zuhause des Menschen ein Garten, also ein Ort, wo man Schutz und Geborgenheit genießen konnte, wo die Beziehung zur Natur harmonisch war und der Mensch in unmittelbarer Nähe zu Gott lebte. Jemand, der den Garten liebt, spürt vielleicht bewusst oder unbewusst diese Sehnsucht nach einer harmonischen Einheit mit Gott und der Umwelt.

 

Die Heilige Schrift kennt einen anderen Aspekt des Gartens: Er ist auch der Ort der Liebe und des Lebens. Das Hohelied besingt den Garten als den Ort, an dem man das Leben feiert, wo man einfach Freude daran hat, dass es Leben auf dieser Erde gibt. Dieser Garten ist exotisch, wohlduftend, da wachsen seltene und kostbare Pflanzen, Kräuter und Früchte, die zur Erhaltung des Lebens und zur Heilung von Krankheiten unentbehrlich sind: „Ein Granatapfelhain mit köstlichen Früchten, Hennadolden samt Nardenblüten, Narde, Krokus, Gewürzrohr und Zimt, alle Weihrauchbäume, Myrrhe und Aloe, allerbester Balsam“ (Hld 4,13f) – all das kann man dort finden.

Die Bibel nennt noch eine dritte Dimension des Gartens. Vor seinem Leiden ging Jesus in den Garten Getsemani auf den Ölberg, um dort zu beten und Kraft zu schöpfen. Der Garten ist auch ein Ort der Stille und des Gebetes. Die Seele in Bedrängnis findet dort ihre Ruhe, verwirrte Gedanken werden klar, Fragen bekommen eine Antwort. Die heilende Kraft des Gartens wird vielfach genützt. Aufenthalte in Klöstern wie Exerzitien sind oft verbunden mit Gartenarbeit. Die Therapie bei Erschöpfung und Burnout integriert auch oft Aktivitäten im Garten oder den Gang in die Natur.

Der Garten ist ein wunderbares Bild für die Fülle des Lebens. Und ich glaube: Wer sich um einen Garten sorgt, liebt das Leben. Jede auch noch so kleine Pflanze braucht Zuwendung, Aufmerksamkeit, Pflege – und man könnte sagen: Liebe. Im Garten kann man viel für das eigene Leben lernen: das Warten auf das Wunder, bis der Keimling kommt; zartes und feinfühliges Umgehen mit den Setzlingen; Geduld, bis die Pflanze blüht und dann Früchte trägt; Pflege und Schutz, wenn Schädlinge oder Krankheiten die Pflanze bedrohen. Nicht zuletzt deshalb ist die Natur und das Betrachten von Wachstum und Blühen etwas, das uns im Tiefsten berührt. Wir sind berufen, um es theologisch zu sagen, an der Schöpfung mitzutun. Schöpferische Werte – künstlerisches Schaffen, kreative Umsetzung von Ideen – sind zentrale Wege zum Sinn und zur Zuversicht.

Erlebnisse bereichern

Wenn ich aus dem Fenster blicke, sehe ich in meiner Nachbarschaft oft spielende Kinder. Wenn wir das Leben von Kindern betrachten und uns die Frage stellen, was sie denn wirklich zum Leben brauchen, so sind es im Grunde ganz wenige Dinge, auf die es ankommt. Neben den natürlichen körperlichen Bedürfnissen wie Ernährung und Kleidung ist es vor allem die Zuwendung. Sie ist wohl das wichtigste „Lebensmittel“ für Kinder. Und es sind die Erlebnisse – das gemeinsame Spielen, das neugierige Entdecken von verschiedenen Räumen und Situationen: Wie leben Tiere? Wie funktioniert diese Maschine? Wenn man Kinder fragt, was sie gerade freut, dann sind es solche Erlebnisse, von denen sie erzählen. Und das ändert sich nicht bis ins hohe Alter. Viktor Frankl spricht deshalb von den Erlebniswerten, die so wichtig sind für den Grundwasserspiegel der Zuversicht in unserer Seele. Was er damit meint, kann das folgende Beispiel erläutern.

Wenn wir Krisen erleben, die uns von anderen Menschen und auch von vielen gewohnten Erfahrungen trennen, dann spüren wir mit der Zeit eine bestimmte Leere. Es scheint so zu sein, als ob die Seele, unser Innerstes an Farbe verliert. Die Farbtöne werden weniger intensiv und verblassen. Ein Mann erzählte mir davon, dass er das auch bei seiner Partnerin erlebt hat. Als sie während der Pandemie in Quarantäne waren, fehlte ihnen rein äußerlich während dieser Zeit nichts. Doch er bemerkte, dass seine Frau immer unruhiger wurde, weniger Humor hatte, weniger redete. Und er sagte sich, da muss ich etwas tun. Er machte den Vorschlag, einen kleinen Ausflug zu einem Ort zu machen, den sie oft gemeinsam besuchen, einer zauberhaften Kapelle, einem Kraftort und einem Juwel der Architektur. Es war das schlichte Erlebnis eines Ausflugs, eines Spaziergangs in der Natur, eines gemeinsamen Gebetes in der Kapelle, das Freude und Farbe in ihr Leben zurückgebracht hat.

Dieses unspektakuläre Beispiel zeigt, dass Erlebnisse, auch wenn sie noch so klein und unscheinbar sind, Zuversicht und Freude zu schenken vermögen. Erlebniswerte sind für Viktor Frankl ein Königsweg zu einem sinnvollen Leben. Wenn wir darauf achten, dass es jeden Tag ein kleines Erlebnis gibt – ein Spaziergang in der Natur, eine gemeinsame Unternehmung, ein Spiel –, dann können wir auch in dürren und mühsamen Zeiten vom Grundwasser der Freude und der Zufriedenheit frische Kraft schöpfen.

Wähle deine Einstellung

Jede Situation in unserem Leben, ob sie angenehm und erfreulich ist, ob sie herausfordert oder Sorge bereitet, fordert uns dazu auf, Stellung zu beziehen. Wir können darüber klagen und jammern, uns selbst bemitleiden oder sie als eine Herausforderung und Aufgabe betrachten, der wir uns stellen möchten. Die innere Bewertung einer Situation ist grundlegend.

Viele Gespräche in den Monaten der Corona-Krise haben mir gezeigt, dass besonders ältere Menschen unter der verordneten Einsamkeit litten und sich der Situation hilflos ausgeliefert fühlten. Etwa die bange Frage, ob die 24-Stunden-Betreuerin nach dem nächsten Schichtwechsel wohl wiederkommen werde. Oder ob ich wieder einmal unbeschwert einkaufen gehen kann. Oder wann ich meine Urenkel wieder umarmen darf.

Auch für junge Menschen war es oft eine sehr belastende Zeit: schwelende Konflikte mit den Eltern, Streitereien, sogar Gewalt in der Familie, die Unmöglichkeit, Freunde zu treffen und sich mit ihnen auszutauschen oder Sport zu treiben, wenn es daheim eng wurde. Bei der Suche nach einer Lehrstelle war nichts mehr möglich. Betroffen gemacht hat mich auch eine Begegnung mit einem Studenten. Das „Distance-learning“ machte ihm zu schaffen. Die Kolleginnen und Kollegen fehlten ihm so sehr, dass er seine Freude am Studium zu verlieren drohte und sich der Gedanke meldete: „Ich höre auf“.

Eine ebenso simple wie kreative Lösung hat eine „Risikopatientin“ für sich entdeckt. Sie hatte schwerwiegende Vorerkrankungen und war durch die exzessive Medienberichterstattung sehr beunruhigt. Sie fand keinen Schlaf mehr und konnte sich kaum mehr schönen und leichten Gedanken zuwenden, bis sie schließlich eine Entscheidung für sich fällte: Sie hat entschieden, sich ganz bewusst dem Alltag zuzuwenden. „Der Alltag ist das, was mir Halt und Sinn gibt“, die Zuwendung zum Heute, zu den kleinen alltäglichen Verrichtungen, zum nächsten unscheinbaren Handgriff. Die Routine des Alltags – mit dem Frühstück, diesen und jenen Aufgaben, dem kleinen Garten, Telefonaten mit lieben Menschen, dem Lesen von Zeitschriften, dem Schreiben eines Briefes –, das hat wieder Freude und Zuversicht in ihr Leben gebracht.

Diese Erfahrung begegnet mir in der Seelsorge häufig: Menschen stehen vor einem großen Problem, einer schwierigen Entscheidung oder einer wichtigen Lebensfrage. Da möchte man alles in den Blick nehmen, um ja nichts zu übersehen. Diese Haltung führt oft zu einer Überforderung und zu einer inneren Unbeweglichkeit, ja Blockade: Werde ich es schaffen? Habe ich die Kraft? Hier hilft der Blick auf das Jetzt. Wichtig ist die Entscheidung für das Heute.

Wie entlastend der bewusste und achtsame Blick auf die vielen kleinen Handgriffe des Alltags sein kann, beschreibt Michael Ende in seinem Buch „Momo“. Darin erzählt er unter anderem vom Straßenkehrer Beppo, einem der besten Freunde des kleinen Mädchens Momo. Er ist ein einfacher, schlichter Mensch, die meisten würden ihn wohl eher als einfältig bezeichnen. Beppo ist langsam und bedächtig in seinem Tun und in seinem Denken, fast so, als ob er etwas schwer von Begriff wäre. Und doch macht er sich seine Gedanken zum Lauf der Welt und der Dinge, die von einer ungeheuren philosophischen Tiefe und Weisheit sind. Der Beruf des Straßenkehrers ist heute beinahe ausgestorben, er genießt eben kein Ansehen. Große lärmende Maschinen saugen den Schmutz und achtlos weggeworfenen Müll von den Straßen. Doch Beppo selbst ist vom Wert und der Bedeutung seiner von den meisten wenig geschätzten Arbeit überzeugt, auch wenn die Straße, die er zu reinigen hat, manchmal endlos lange und hoffnungslos schmutzig erscheint. In den Gesprächen am Feierabend nach getaner Arbeit erklärt Beppo seiner Freundin Momo und vielleicht mehr noch sich selbst, worauf es ihm bei seiner Arbeit ankommt. Wenn die Straße, deren Reinigung als zu bewältigende Aufgabe vor einem liegt, manchmal so bedrückend lange erscheint und fast unmöglich zu schaffen ist, dann ist man versucht, immer schneller und schneller zu arbeiten, man wird hektisch und kommt ganz außer Atem, bis man nicht mehr kann. So darf man es nicht machen, ist Beppos Erfahrung. Er versucht, niemals die ganze Straße auf einmal zu denken, sondern seine Arbeit Schritt für Schritt im steten Rhythmus von Besenstrich und Atemzug und nächstem Schritt langsam und gemächlich zu tun. So macht es Freude. So wird das Ergebnis gut. Und mit einem Mal bemerkt man, dass man die ganze, lange Straße gekehrt hat, Schritt für Schritt.7

In der Logotherapie bezeichnet man diesen Vorgang als „Einstellungsmodulation“. In jeder Situation, mag sie noch so aussichtslos scheinen, gibt es immer noch einen Rest von Freiheit. Ich selber bin es, die oder der entscheidet, wie ich mit diesem Problem, mit dieser Frage oder Situation umgehe. Der Blick auf die kleinen Schritte des Alltags ist dabei sehr hilfreich und gibt Zuversicht. Ich habe die Wahl.

Auch die Weisheitsschriften in der Bibel raten uns zu einer solchen Einstellung. Zu vertrauender Gelassenheit gegenüber den Wechselfällen des Lebens ermutigt der Weisheitslehrer Kohelet: „Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: […] Eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen, eine Zeit für die Klage und eine Zeit für den Tanz“ (Koh 3,1.4). Oder im Buch der Sprichwörter (17,22) des weisen Königs Salomo finden wir einen lebensnahen Gesundheitstipp: „Ein fröhliches Herz tut der Gesundheit gut, ein bedrücktes Gemüt lässt die Glieder verdorren.“ Auch da liegt es zumindest ein Stück weit immer in meiner Entscheidung, wie viel Raum und Gewicht ich dem Belastenden und Schweren zugestehe oder ob ich versuche, meinen Blick auf das zu richten, was mich stärkt und mir Freude bereitet.

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