Gesellschaftliches Engagement von Benachteiligten fördern – Band 3

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

So sehr also der KoKoDe-Ansatz darauf besteht, die Themen der Kinder und Jugendlichen ins Zentrum der Förderung ihres gesellschaftlich-demokratischen Engagements zu setzen, so gilt es doch auch, dafür zu sorgen, dass diese Themen erweitert werden, ebenso wie die jungen Menschen mit den Themen, Interessen und Konflikten anderer Akteure im Gemeinwesen zu konfrontieren.

Doch warum das alles? Begründungen für KoKoDe

Der KoKoDe-Ansatz beruht auf konzeptionellen Annahmen zur Bedeutung von Demokratiebildung durch die Ermöglichung demokratischer Partizipation von Kindern und Jugendlichen in pädagogischen Einrichtungen und in der Kommune. Zu deren Bedeutung haben die Publikationen über die im Programm jungbewegt der Bertelsmann Stiftung entstandenen Modelle ausführliche Begründungen und methodische Anregungen geliefert: für die Offene Kinder- und Jugendarbeit im Rahmen des GEBe-Konzepts und für das Feld der Kita im Konzept „Mitentscheiden und Mithandeln in der Kita“ (Knauer, Sturzenhecker und Hansen 2011; Hansen und Knauer 2015; zur demokratischen Partizipation in pädagogischen Organisationen generell vgl. Richter et al. 2016).2 Die Begründungen und konzeptionellen Ansätze dieser Konzepte sollen hier nicht ausführlich dargestellt, doch wesentliche Begründungsstränge wenigstens in kurzen Zusammenfassungen noch einmal verdeutlicht werden:

1. Was ist demokratische Partizipation von Kindern und Jugendlichen und warum sollte man sie in den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe fördern?

2. Warum ist demokratische Partizipation von Kindern und Jugendlichen in der Kommune zu fördern?

3. Warum ist Kooperation von Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen wichtig zur Stärkung demokratischer Partizipation ihrer Adressat*innen in der Kommune?

Was ist demokratische Partizipation von Kindern und Jugendlichen und warum sollte man sie in den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe fördern?

Das Konzept bezieht sich auf partizipatorische Demokratiekonzepte, für die Demokratie nicht nur ein Verfahren zur Bestimmung von Regierungen ist, sondern Mitsprache und Mitbestimmung der Bürger*innen beinhaltet, ebenso wie deren Beteiligung an Entscheidungen in den gesellschaftlichen Handlungsfeldern und Institutionen. Demokratie ist mit Dewey (1916/1985) nicht nur eine Regierungsform, sondern auch eine Lebensform, deren Prinzipien für die gemeinsame Regelung der Fragen des Zusammenlebens in Kraft sind. In ihrem symbolischen Kern (Richter et al. 2016) geht es bei Demokratie darum, dass die Mitglieder von Entscheidungsgemeinschaften gleichberechtigten Zugang und gleichrangige Teilnahme an Verhandlungen und Entscheidungen haben, und zwar zu Frage- oder Problemstellungen der kooperativen Lebensführung. Wer von Entscheidungen und ihren Folgen betroffen ist, hat auch das Recht, dabei mitzubestimmen, aber auch die Pflicht, Entscheidungen zu respektieren, mithandelnd umzusetzen und die Folgen zu verantworten. Habermas (1981) formuliert das demokratische Prinzip als die Einheit von „Urhebern und Adressaten“ gemeinsamer Entscheidungen. Demokratie ist ein Versuch, alle (das Volk, altgriechisch: „demos“) gleichberechtigt an der Ausübung der Herrschaft (altgriechisch: „kratia“) zu beteiligen (vgl. zu den folgenden Argumenten auch Knauer, Sturzenhecker und Hansen 2016).

Überträgt man die Idee der Demokratie auf sozialpädagogische Einrichtungen, stellt sich dort die Machtfrage. In (sozial)pädagogischen Einrichtungen besteht zunächst keine Gleichrangigkeit der beteiligten erwachsenen Fachkräfte mit den Kindern/Jugendlichen. Stattdessen ist Erziehung immer von asymmetrischen Machtverhältnissen gekennzeichnet. Fachkräfte verfügen über viele Machtpotenziale: bei jüngeren Kindern besonders über körperliche Überlegenheitsmacht, aber auch insgesamt über Handlungs- oder Gestaltungsmacht, Verfügungsmacht, Definitions- oder Deutungsmacht, Mobilisierungsmacht usw. (Knauer, Sturzenhecker und Hansen 2011: 28 ff.).

Kinder brauchen Sorge, Schutz und Erziehung durch Erwachsene; sie sind darauf angewiesen, dass Erwachsene ihre Macht nutzen, um die Rahmenbedingungen gelingenden Aufwachsens herzustellen und zu sichern und Kinder angemessen in die gesellschaftlichen Handlungsweisen einzuführen, also Erziehung zu gewährleisten. Allerdings besteht damit auch immer das Risiko, dass die so auf die Erwachsenen Angewiesenen zu Objekten erzieherischer Macht werden. Die Geschichte der Erziehung zeigt bis heute, wie sehr diese Machtungleichheit zu Objektivierung, Machtmissbrauch, Grausamkeit und Unterdrückung führen kann. Will man solchen Machtmissbrauch verhindern, geht das nicht einfach dadurch, dass diese strukturelle Ungleichheit zwischen Erziehenden und Kindern verleugnet wird. Solche Versuche der Vertuschung von Machtverhältnissen führen eher zu einer Verschärfung des Missbrauchsrisikos, weil so den real abhängigen Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit genommen wird, die Machtverhältnisse als solche zu benennen und sich öffentlich gegen sie zu wehren.

Die hier aufgenommenen Konzepte von GEBe und von „Mitentscheiden und und Mithandeln in der Kita“ zielen darauf, einseitige Machtausübung in der Sozialpädagogik zu verhindern oder zu erschweren. Sie erkennen die unvermeidbare Machtungleichheit in der Sozialpädagogik an, meinen aber, dass eine Demokratisierung der Verhältnisse zwischen erwachsenen Fachkräften und Kindern und Jugendlichen eine Möglichkeit ist, Machtungleichheit und ihre negativen Folgen zu zähmen. Demokratie versucht ja gerade, Ungleiche (in Bezug auf ihre Macht, ihre gesellschaftlichen Ressourcen, Statusgefälle, Durchsetzungsfähigkeiten und so weiter) doch in eine faire und gleichberechtigte Aushandlung von Entscheidungen zu setzen. Für die demokratischen Entscheidungen sollte es nämlich nicht relevant sein, wer über welche Machtpotenziale und Überlegenheitschancen verfügt, weil grundsätzlich alle unabhängig von ihren Voraussetzungen gleichberechtigt zur Teilnahme und Mitwirkung an Entscheidungen sein sollten – so zumindest lautet der ideale Anspruch, der allerdings oft nicht eingelöst wird.

In sozialpädagogischen Einrichtungen hieße dies, die Teilnehmenden mit klaren Rechten der Selbst- und Mitbestimmung auszustatten und genau zu klären, wie Macht geteilt wird und wie man zusammen zu Entscheidungen und gemeinsam bestimmten Regeln und Handlungsweisen kommt. Eine öffentliche und differenzierte Klärung von Rechten, Rollen, Pflichten und Verantwortungen der Einzelnen und der Gemeinschaft ermöglicht Kindern und Erwachsenen, einerseits ihre Interessen zu vertreten, andererseits Unrecht zu benennen und sich gegen Machtmissbrauch zu wehren. Bei der demokratischen Strukturierung der Verhältnisse aller Beteiligten in sozialpädagogischen Einrichtungen und Arbeitsfeldern handelt es sich um eine demokratischn Teilung von Macht und damit um die Verhinderung von Grausamkeit, Ungerechtigkeit, „Willkür und Despotismus“ (wie Janusz Korczak es nannte) der Fachkräfte beziehungsweise Erwachsenen.

Damit lässt sich das Thema der Demokratieerziehung ansprechen. Wenn Kinder und Jugendliche Erziehung brauchen, also eine Einführung in die Lebens- und Handlungsweisen einer Gesellschaft, um in dieser selbst aktiv und auch verändernd handeln zu können, dann müsste in einer demokratischen Gesellschaft Erziehung auch in Demokratie einführen. Wenn Demokratie eine Lebensform ist, die als Handlungsorientierung den gesamten gesellschaftlichen Alltag durchziehen soll – statt nur eine Regierungsform, an der man sich erst ab Erreichung des Wahlalters beteiligen darf –, dann müssten Kinder und Jugendliche sich von Beginn an der Demokratiepraxis beteiligen können. Wenn Demokratie zudem nicht auf ein fixiertes und allzeit gültiges Verfahren festgelegt werden kann, sondern sich dauernd verändern muss, müssen auch alle Beteiligten, unabhängig von ihrem Alter, Demokratie immer wieder weiter und neu lernen. Wenn also Kinder mit der Kita das erste Mal eine gesellschaftliche Institution betreten, müssen sie dort auch auf die Lebensform Demokratie treffen und Demokratie lernen, indem sie aktiv mitentscheiden und mithandeln können.

Eine demokratische Erziehung als Einführung von Kindern und Jugendlichen in eine demokratische Gesellschaft muss die Adressat*innen „dialogisch“ (Mollenhauer) befähigen, in dieser Gesellschaft möglichst selbstbestimmt und mitbestimmend zu handeln. Das wäre eine „Erziehung in Mündigkeit zur Mündigkeit“ (Richter 1998: 69), also eine Erziehung, die das Gegenüber als mündiges Subjekt von Anfang an thematisiert und ihm oder ihr Verhältnisse der Ausübung von Mündigkeit anbietet. Es geht also in einer solchen Demokratieerziehung darum, dass die Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe in ihren Binnenverhältnissen demokratisch strukturiert sind, sodass die demokratische Beteiligung der Kinder und Jugendlichen in ihnen selbstverständlich ist. Zu einer solchen Erziehung gehört auch, durch Fürsorge und Schutz Bedingungen – zuvorderst in den Einrichtungen – zu schaffen, die die demokratische Teilhabe aller Kinder und Jugendlichen sichern.

Erziehung bezeichnet hier die Tätigkeit der Erwachsenen beziehungsweise Fachkräfte. Demgegenüber ist die Selbsttätigkeit der Kinder als Bildung zu bezeichnen. Danach eignen sich Menschen – hier die Kinder und Jugendlichen – selbsttätig die Welt und Gesellschaft aktiv an, setzen sich dabei mit ihrer sozialen und gesellschaftlichen Angewiesenheit und auch mit deren be- und verhindernden Verhältnissen auseinander und ringen um mehr Subjekthaftigkeit. Bildung ist also gekennzeichnet durch soziale/gesellschaftliche Einbindung und Angewiesenheit, allerdings gerade dadurch, dass die Subjekte mit diesen Abhängigkeiten aktiv umgehen und sich gleichzeitig mit ihrer Hilfe und trotz ihrer Vorgaben eigensinnig selbst bilden. So verstandene Bildung ist ein unverfügbarer, offener und immer wieder auch krisenhafter transformatorischer Prozess. Die Selbstbildung des Subjekts kann nicht erzieherisch gemacht werden, ihr kann pädagogisch nur assistiert werden.

 

Dieses Bildungskonzept beschreibt einen breiten fachlichen Konsens in der Sozialpädagogik. Will man in der Praxis der Einrichtungen den Bildungsprozessen der Kinder und Jugendlichen assistieren, muss es darum gehen, die selbstbestimmten Bildungsthemen und Bildungsweisen der Kids mit ihnen zu erkennen und sie dialogisch in deren Realisierung und Ausweitung zu unterstützen. Solche selbstbestimmten Bildungsprozesse der einzelnen Subjekte müssen aber in sozialpädagogischen Einrichtungen mit den Projekten der anderen Teilnehmenden vermittelt werden. Selbstbildung muss ergänzt werden durch partizipatorische Bildung im Sinne einer gemeinsamen Aushandlung der Bildungsgelegenheiten für alle, durchaus auch im Sinne einer gemeinschaftlichen beziehungsweise kooperativen Betreibung von Bildungsprojekten.

Will man also erzieherisch Selbstbildung assistieren, ihre Rahmenbedingungen sichern und eine vielfältige und ausgedehnte Aneignung für alle Kinder und Jugendlichen möglich machen, muss das immer darauf fußen, die jungen Menschen in eine gemeinsame Regelung der Bildungsbedingungen in der Einrichtung einzubeziehen. Macht man das auf demokratische Weise, bietet man also Kindern und Jugendlichen an, mitbestimmend und mithandelnd die Gesellschaft der Einrichtung inklusive ihrer Bildungsprojekte zu gestalten, eröffnet man ihnen die selbsttätige Aneignung von Demokratie. Demokratie wird ihnen damit nicht von außen beigebracht, sondern als Handlungsmöglichkeit offeriert. Es entsteht Demokratiebildung, eine aktive Aneignung von Demokratie durch ihre Ausübung. Die GEBe-Methode kann insgesamt als ein Versuch betrachtet werden, auf die Bildungsprojekte und -prozesse der Kinder und Jugendlichen einzugehen, sie besser zu erkennen und stärker zu unterstützen, sie dann allerdings auch in demokratische Prozesse der gemeinsamen Entscheidungen und mitverantwortlichen Umsetzungen einzubetten.

Die demokratische Beteiligung von Kindern in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe ergibt sich aber auch aus rechtlichen Forderungen. Der § 45 SGB VIII schreibt für die Betriebserlaubnis von Tageseinrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe vor, „Verfahren der Beteiligung“ vorzuhalten. Das SGB VIII und auch die UN-Kinderrechtskonvention schreiben weitere Regelungen der Partizipation von Kindern und der Berücksichtigung ihrer Meinung in der Gestaltung von Angeboten und Hilfen vor. Allerdings sind diese Rechte oft mit einem Vorbehalt versehen, nach dem Entwicklungsstand, Alter oder Reife hinsichtlich der Beteiligungsfähigkeit berücksichtigt werden müssen. Bezieht man sich stattdessen auf die Menschenrechte und vor allem die grundgesetzliche Sicherung der menschlichen Würde, gelangt man zu einer weitergehenden Interpretation und daraus folgenden Demokratiepraxis. Von der Pfordten (2016) zeigt, dass im Kern der Menschenwürde die universelle menschliche Fähigkeit zur Selbstbestimmung liegt. Würde zu schützen, bedeutet also, das Recht auf Selbstbestimmung zu achten. Selbstbestimmung ist für alle Menschen ab Geburt anzunehmen.

Selbstbestimmung in sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhängen – zum Beispiel also in den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe – muss sich zu einer Mitbestimmung ausweiten. Die Ermöglichung einer weitestgehenden Selbstbestimmung, die ihre Grenzen in der Selbstbestimmung der anderen findet und somit zur Mitbestimmung werden muss, kann als demokratisches Prinzip verstanden werden. „Als Menschen stehen Kindern in Deutschland auch die Rechte des Grundgesetzes zu. Das wird erkennbar an der Bestimmung von Kindern/Jugendlichen als ‚Subjekte‘ des Grundgesetzes, also als gleichberechtigte Träger dieser Rechte: ‚Außer Streit steht, dass das Grundgesetz bereits in seiner jetzigen Fassung die Subjektstellung des Kindes gewährleistet‘ (Eichholz 2008: 16). Die Annahme, dass Kinder Menschenrechte haben (ob durch UN-Konvention und/oder Grundgesetz), hat gravierende Folgen für die Pädagogik. Sie macht eine normative Orientierung des pädagogischen Handelns an demokratischen Grundwerten der Gleichberechtigung zur Mitentscheidung zum Ausgangspunkt der Pädagogik“ (Knauer, Sturzenhecker und Hansen 2016: 37 f.).

Wurde hier begründet, warum Kinder und Jugendliche in den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe demokratisch partizipieren sollen – ohne dass damit die pädagogischen Verantwortungen für Schutz, Fürsorge, Ressourcensicherung, Sicherung von Zugangsgerechtigkeit in der Beteiligung und so weiter aufgehoben wären –, geht es bei den folgenden Argumenten um die Frage, warum solche Partizipation auch auf die Kommune ausgeweitet werden soll.

Warum ist demokratische Partizipation von Kindern und Jugendlichen in der Kommune zu fördern?

Das ergibt sich zunächst aus der schon oben geführten rechtlichen Argumentation. Wenn Kinder und Jugendliche „Subjekte des Grundgesetzes“ sind, haben sie den Status als Bürger*innen. Damit gelten die demokratischen Partizipationsrechte auch für sie. Ohne hier die Frage eines Wahlrechts für Kinder diskutieren zu wollen, wird argumentiert, dass Kinder und Jugendliche ihr Recht auf Mitbestimmung besonders dort wahrnehmen sollten, wo sie täglich leben. Die Mündigkeitsunterstellung meint, dass alle Menschen Expert*innen sind, wenn sie konkret von etwas betroffen sind – anders gesagt: Betroffenheit bedeutet Expertise. Betroffenheit ist dort am stärksten, wo die Menschen im Alltag leben und arbeiten. Obwohl virtuelle Welten für viele Menschen (auch für Kinder und Jugendliche) zumindest geistige Lebens- und Handlungsorte darstellen, sind doch gerade die Notwendigkeit eines materiellen Lebensortes und die materielle Erhaltung des eigenen Lebens in Kooperation mit anderen an einem solchen Ort unaufhebbar. Man braucht ein Dach über dem Kopf, Orte der (Aus-)Bildung wie Schulen, Kitas und Jugendeinrichtungen, Verkehrsmittel und Verkehrsinfrastruktur, Läden und Märkte, Gesundheitseinrichtungen, Orte der Freizeitgestaltung und des Spiels, der Religionsausübung, der Geselligkeit, der Politik, der Rechtsprechung und so weiter. All diese Orte sind geprägt durch ihre materielle Örtlichkeit, aber ebenso durch das soziale Handeln, mit dem Menschen deren Bedeutung und deren Wirkungen überhaupt erst herstellen. Es handelt sich in diesem Sinne um soziale Räume beziehungsweise Sozialräume.

Üblicherweise sind solche Orte der Herstellung und des Erhalts des sozialen und materiellen Lebens auf einem Territorium zu einem Netz von Orten verbunden, das hier als Kommune bezeichnet wird. Der Begriff kommt vom lateinischen „communis“, das „gemeinsam“ bedeutet, zusammengesetzt aus dem Präfix „con“ – das „mit“ bedeutet – und „munis“ mit der Bedeutung von „gefällig, dienstfertig“. Gefällig bedeutet im Deutschen unter anderem, sich einen Gefallen tun, sich einen Dienst erweisen. Eine Kommune ist etymologisch also ein Ort, an dem Menschen einander gefällig handeln, an dem man sich gegenseitig Dienste leistet. Es handelt sich um eine Gemeinde, die nicht nur durch ihren territorialen Zusammenhang gekennzeichnet ist, sondern zentral durch das gegenseitige soziale Füreinander-Sorgen. Das Gemeinschaftliche, das im Begriff der Gemeinde zum Ausdruck kommt, spiegelt sich in der Mitgliedschaft der Bürger*innen in der politisch verfassten Kommune, wo Mitglieder auch das Recht auf Mitbestimmung haben. Kinder und Jugendliche sind in solche sozialen und politischen Gemeinschaften vor Ort eingebunden. Sie sind ebenso wie die Erwachsenen real und rechtlich Mitglieder der Kommune, also Bürger*innen.

Auf solche Erkenntnisse antworteten seit den 1990er-Jahren unterschiedliche Konzepte zur Stärkung der Partizipation von Kindern und Jugendlichen in den Kommunen. Das hatte beispielsweise zur Folge, dass Bundesländer wie Schleswig-Holstein oder Hamburg in ihren Gemeindeordnungen, also den kommunalen Verfassungen, starke Regeln zur Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an kommunalen Entscheidungen schufen. So formuliert die Gemeindeordnung Schleswig-Holstein in § 47f: „(1) Die Gemeinde muss bei Planungen und Vorhaben, die die Interessen von Kindern und Jugendlichen berühren, diese in angemessener Weise beteiligen. Hierzu muss die Gemeinde über die Beteiligung der Einwohnerinnen und Einwohner nach den §§ 16a bis 16f hinaus geeignete Verfahren entwickeln. (2) Bei der Durchführung von Planungen und Vorhaben, die die Interessen von Kindern und Jugendlichen berühren, muss die Gemeinde in geeigneter Weise darlegen, wie sie diese Interessen berücksichtigt und die Beteiligung nach Absatz 1 durchgeführt hat.“ Ähnlich das Bezirksverwaltungsgesetz des Landes Hamburg für seine Kommunen, also die Bezirke: „§ 33 Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. Das Bezirksamt muss bei Planungen und Vorhaben, die die Interessen von Kindern und Jugendlichen berühren, diese in angemessener Weise beteiligen. Hierzu entwickelt das Bezirksamt geeignete Verfahren.“

Diese Gesetze waren Meilensteine auf dem Weg, Kindern und Jugendlichen ihre Bürger*innenrechte auch tatsächlich zu gewähren. So wichtig diese Schritte auch waren, bleibt doch kritisch zu bemerken, dass diese Regelungen nur eine Top-down-Partizipation vorsehen. Die mittels Demokratie als Regierungsform gewählten Gemeindevertretungen bestimmen Planungen und Vorhaben; erst dann prüfen sie, ob Kinder und Jugendliche davon betroffen sind und ob und wie sie beteiligt werden müssen. Der umgekehrte Weg würde stärker die Prinzipien einer partizipativen Demokratie berücksichtigen. Danach entstehen die Themen der zu entscheidenden Fragen aus den Interessen, Konflikten und Problemstellungen des Zusammenlebens in der Gemeinde. Diese werden in Öffentlichkeiten debattiert, finden darüber auch in die Meinungsbildung der Parteien und führen schließlich zu Entscheidungen der gewählten kommunalen Gremien.

Demnach müssten auch Kinder und Jugendliche Zugang zur kommunalen politischen Öffentlichkeit haben, um ihre Interessen zu artikulieren, um Konflikte und Probleme zu benennen und so Themenstellungen einer gemeinsamen Debatte und letztlich Entscheidungen selbst erzeugen und beeinflussen zu können. Insgesamt ergibt sich der empirische Eindruck, dass eine solche partizipative und öffentliche Demokratie bei den Erwachsenen nicht besonders gut funktioniert beziehungsweise im Wesentlichen beschränkt ist auf politisch ohnehin stark vernetzte und artikulationsfähige Teilgruppierungen. Damit entsteht das Risiko, dass solche politisch engagierten Gruppierungen ihre Teilinteressen mit dem Gemeinwohl verwechseln und sie, ohne große Beteiligung anderer Betroffener durchsetzen. Die Stärkung einer kommunalen, an die lebensweltlichen Themen und unterschiedlichsten Gruppeninteressen wirklich anknüpfenden Demokratie steht also ohnehin an.

Gerade die pädagogischen Organisationen haben hier den Vorteil, dass ihre Adressat*innen sich dort relativ kontinuierlich aufhalten und es damit auch Gelegenheiten gibt, strukturiert und unterstützt ihre lebensweltlichen Themen und ihre Betroffenheit in der Kommune zu erheben. Dann können sie pädagogisch unterstützt werden, ihre Themen, Konflikte und Interessen zu klären und diese in Bezug auf kommunale Öffentlichkeiten zu artikulieren. Anders als in den allgemeinen kommunalen Politikprozessen gibt es also eine Unterstützungsstruktur, die Kinder und Jugendlichen helfen kann, sich in die kommunale Demokratie einzubringen.

Hier zeigen sich die großen Chancen sozialpädagogischer Institutionen, sich als Feld demokratischer Mitgestaltung der Adressat*innen zu strukturieren und von dort Übergänge zu gesellschaftlich-demokratischem Engagement der Kinder und Jugendlichen in die Kommune zu eröffnen. Denn wer sich in Organisationen engagiert, beteiligt sich auch stärker allgemein politisch (European Commission 2013). Damit wird konzeptionell angenommen, dass eine kommunale Mitbestimmung von Kindern und Jugendlichen auf demokratisch strukturierten pädagogischen Institutionen beruhen muss. Ohne eine solche dauerhafte strukturell verankerte Demokratieerfahrung in den pädagogischen Einrichtungen verkommt die kommunale Partizipation schnell zu episodalen Spielweisen der Partizipation (Winklhofer 2000), die ohne eine Stützung durch den Alltag und die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen stark bestimmenden pädagogischen Institutionen kaum qualifiziert werden kann (Gerdes und Bittlingmayer 2012).

Mit den Konzepten und Initiativen, die demokratische Partizipation der jungen Menschen in den Einrichtungen zu stärken, entstand möglicherweise eine zu starke Konzentration oder gar Begrenzung auf die Demokratisierung der Binnenverhältnisse. Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sind allerdings keine Inseln. Sie sind nicht abgekoppelt von einer komplexen lokalen und gesamtgesellschaftlichen Umwelt, sondern vielfach mit dieser verbunden und von ihr beeinflusst. Das gilt erst recht für das Leben der Kinder und Jugendlichen in der räumlich-sozialen, wirtschaftlichen und politischen Welt ihres Stadtteils oder Dorfes. Durch ihr Handeln entsteht schon ein Netzwerk, das die verschiedenen Orte, Handlungsweisen, Interessen, aber auch Probleme und Konflikte in eine Verbindung bringt. So entstehen in der Schule eine ganze Reihe von Themen und Problemen, die für die Kinder und Jugendlichen gar nicht auf diesen Ort beschränkt sind.

 

Das Problem, dass viele Schüler und Schülerinnen das Essen in der Ganztagsschule nicht nur stressig, sondern auch wenig wohlschmeckend finden, führt dazu, dass sie versuchen, andere Orte für Erholung und Essen zu finden. Sie versuchen, das Schulgelände zu verlassen, Kioske oder Dönerbuden aufzusuchen oder in der Nachbarschaft beziehungsweise in angrenzenden Grünzonen zu chillen. An solchen außerschulischen Orten stoßen sie aber wieder auf andere dort handelnde Menschen und deren Interessen. Es entstehen neue Chancen, etwa der Bildung, der Schließung von Freundschaften und Bekanntschaften, der Freizeitgestaltung, des Umgangs mit Nahrungsmitteln usw. Selten aber können die pädagogischen Einrichtungen wie Schule oder Jugendhäuser solche Verschränkungen von Räumen und Handlungsmustern jenseits der Grenzen der eigenen Einrichtungen erkennen oder gar handelnd einbeziehen. Die Kinder und Jugendlichen sind also immer schon Akteur*innen jenseits der Grenzen der Einrichtungen und handeln im Rahmen der räumlich-sozialen Verhältnisse der Kommune.

Dort sind sie als Einzelpersonen oder als Cliquen häufig den Machtsphären anderer Personen, Gruppierungen oder Institutionen ausgesetzt. Forschungen zum sozialräumlichen Handeln von Kindern und Jugendlichen zeigen, dass diese in den lokalen Machthierarchien oft an letzter Stelle stehen und wenig Einflussmöglichkeiten haben (zum Beispiel Reutlinger 2003; Scherr 2004; Sturzenhecker 2015a). Obwohl die Kinder und Jugendlichen Mitbürger*innen sind, wird ihnen doch nicht gleiches Recht eingeräumt, die öffentlichen Räume zu nutzen. Stattdessen kommt es häufig zu Kontrollen, Vertreibungen und Verbringung in pädagogische Einrichtungen. Mögen diese dann durchaus selbst wieder demokratisiert sein, bleibt diese Chance der jungen Menschen auf Partizipation jedoch schwach, wenn die pädagogischen Einrichtungen selbst nicht auf den Mangel an demokratischer Beteiligung ihrer Adressat*innen in der Umwelt eingehen. Der Blick der Einrichtungen muss sich also immer gleichzeitig auf ihre Binnenverhältnisse und deren Demokratisierung sowie auf die Außenverhältnisse richten, also auf die Unterstützung der Kinder und Jugendlichen auch in ihren sonstigen Lebensverhältnissen, um in den sozialen Räumen der Kommune als mitentscheidungsberechtigte Bürger*innen anerkannt zu werden.

Daher fordern landesweite Kampagnen wie „Handeln für eine jugendgerechte Gesellschaft“ (jugendgerecht.de), demokratische Beteiligung und ein Mehr an Gerechtigkeit für Kinder und Jugendliche, besonders auf Ebene der Kommunen, durchzusetzen. Gefordert werden kinder- und jugendgerechte Kommunen und Regionen, „weil sie räumlich und politisch den jugendlichen Lebenswelten am nächsten sind. Hier sind die jungen Menschen unmittelbar betroffen, hier sind sie direkt ansprechbar“ (jugendgerecht.de). Handlungsmodelle einer kommunalen jugendgerechten demokratischen Beteiligung haben auch das Potenzial, die gesellschaftliche Inklusion von Kindern und Jugendlichen zu stärken. Diese werden – folgt man demokratischen Prinzipien – nicht als benachteiligte, defizitäre, problematische oder riskante Gruppierungen betrachtet und behandelt, sondern sind gleichberechtigte Mitbürger*innen, die, anerkannt als Mitglieder der kommunalen Demokratie, diese mitgestalten.

Insgesamt ist damit auch ein Argument verbunden, das Demokratie auf kommunaler Ebene besondere Chancen der konkreten Mitwirkung der Bürger*innen an lokalen Entscheidungen und kommunalen Handlungsweisen böte. Es sind heute viele konzeptionelle Ideen zu finden, die die Rettung der Demokratie in der Kommune verorten (zum Beispiel Barber 2013; Hüther 2013; Richter 2016). Angesichts von Globalisierung und postdemokratischen Phänomenen wird damit doch gerade einer kommunalen Zivilgesellschaft und Demokratie noch die Möglichkeit zugetraut, Erfahrungen konkreter Beteiligung an öffentlich-diskursiver Konfliktbearbeitung und gemeinsamer Entscheidung zu ermöglichen. Auch und gerade Kinder und Jugendliche sollen solche kommunalen Erfahrungen der Demokratiebildung machen können.