Nest im Kopf

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Mehrere Male sah sie sich nach Tante Leonie um, die ihr unentwegt nachschaute.

Anna hatte die Tür hinter sich zugezogen, die Innentür, die Außentür, und war seitdem aus Tante Leonies Leben und auch Sterben heraus gewesen. Die Tante hatte sie trotz Annas ausdrücklicher Bitte nicht mehr gerufen. Ihre letzten Wochen verbrachte sie in rätselhafter Einsamkeit im Gottshuter Krankenhaus, ließ niemanden mehr zu sich, nicht ihre beiden Freundinnen, nicht ihre Schwester. Nur ihren Seelsorger und ihre Nichte, die angereist kam.

Viel später war noch eine Nachricht zu Anna gedrungen. Der Bischof, der als Seelsorger die Tante in den Tod geleitet hatte, erkannte Anna auf der Straße und begrüßte sie. Eine Weile hatte er Anna freundlich angesehen und dann gesagt: Von Ihnen hat Schwester Fendel oft gesprochen.

Wie hatte sich Anna noch im letzten Gespräch mit der Tante ereifert. Jetzt berührten sie die Fragen der Religion nicht mehr. Die Ablösung war Schritt um Schritt erfolgt. Sie hatte nichts forciert, hatte sich weder in die eine noch in die andere Richtung drängen lassen und konnte nicht einmal den Zeitpunkt nennen, an dem sie zu glauben aufgehört hatte. Wurde sie nach der Religion befragt, sagte sie, Gott wäre ihr abhandengekommen.

Sicher hatte hinter den Fenstern die eine oder andere Schwester Anna in Augenschein genommen, eine Fremde, die sich so lange auf ihrem Hof aufhielt, die sich auf einer Bank niederließ und ihren Gedanken nachhing, wie sie es selbst taten, wenn ihnen nicht nach einem Spaziergang war, sie aber auch nicht in der Wohnung hocken wollten. Anna stand auf. Der erste Vormittag in Gottshut dehnte sich, und in ihr war noch die Unruhe der Großstadt. Noch musste sie sich beschäftigen. Nach und nach gäbe sich das. Sie würde sich Fotoalben ansehen und in den Familienpapieren kramen. Eine gute Gelegenheit, denn sonst lagen die Papiere in Fächern verstreut und waren kaum zugänglich.

Die Truhe neben der Tür zur Gästekammer hatte Anna bei bisherigen Besuchen übersehen. Sie gehörte zum üblichen Bodengerümpel, das sich von Umzug zu Umzug neu ansammelte. Wie oft sich die Mutter auch trennte und dies lautstark verkündete, es wurde nie weniger.

Als Anna die Truhe jetzt sah, erinnerte sie sich, dass die Mutter früher Federbetten darin verstaut hatte. Sie öffnete die Truhe, stapelte die Alben auf den Dielenbrettern. Die meisten hatte Anna selbst angelegt. Die Mutter hatte keinen Sinn dafür und der Vater keine Zeit. Andere Alben stammten von Jugendfreundinnen der Mutter, von Annas Großmutter und aus dem Nachlass von Annas Urgroßvater Schlemmin. Anna schob die Papiere auseinander.

Zuunterst Lesebücher für höhere Knaben und höhere Töchter. In Schichten darüber Briefe, lose, in Briefumschlägen, abgeheftet in Heftern, in einem Ordner die aus den ersten Ehejahren der Eltern. Schwarze Wachstuchhefte, die nach dem Tod des Großvaters Kröger als Rundbriefe zwischen den zerstreuten Familienmitgliedern kursierten, vervielfältigte Weihnachtsbriefe des Vaters, die seine umfangreiche Korrespondenz vereinfachten, Kopien von Briefen, verfasst vom Bruder der Mutter an der Kriegsfront, doch rein geistlichen Inhalts. Auf Empfehlung der Mutter hatte sie Anna als Mädchen einmal durchgearbeitet. Ausgeschnittene Zeitungsartikel, die Anna geschrieben hatte. Sie zog ein großes Heft unter den Papieren hervor. Lebenslauf Großmutter Kröger in der Anna so bekannten lateinischen Schrift, zu der die Großmutter später übergegangen war. Große, gut lesbare Buchstaben mit gotischen Spitzbogenausläufen. Anna hatte dieses Heft der Großmutter noch nie in den Händen gehalten.

Anna las. An manchen Stellen hörte sie die knarrende Altfrauenstimme der Großmutter heraus, die sich in bewegenden Augenblicken ähnlich wie bei Tante Leonie bis ins Emphatische steigerte. Manchmal schien die Großmutter Anna so nahe, als brauche sie sich bloß nach ihr umzusehen. Dennoch erfasste Anna auch das Groteske dieses Berichts. Die Großmutter nahm ihre Familie ganz aus der Geschichte heraus und ordnete den Bericht konsequent einem Leitgedanken unter, nämlich: Seine Gnade zu bezeugen. Offensichtlich unterschied sie diesen Krieg nicht von früheren, vielleicht weil sie einen Weltkrieg schon erlebt hatte. Kriegswirren wie notvolle Zeiten des Hungerns und Frierens und vielfältiger Unfreundlichkeiten hatte es in der zweitausendjährigen Geschichte der Christenheit immer gegeben. In ihnen taten die Gläubigen ihre Pflicht, wo auch immer der für sie bestimmte Platz war, auf dem Feld oder in der Heimat. In altertümlichen, befremdlich anmutenden Wendungen gedachte die Großmutter Seiner Führung, Seiner Gnade. Der Herr geleitete die Seinen durch finstere Täler. Während des Lesens hatte Anna ein anderes Bild aus dem 23. Psalm vor Augen, wie der Herr den Seinen einen Tisch im Angesicht seiner Feinde bereitete, und es wunderte sie nicht, dass die Großmutter zum Ende ihres Lebenslaufs gerade aus diesem Psalm des Königs David zitierte, den Anna als Kind mit zwiespältigen Gefühlen gelernt hatte. Durfte man essen, sich im Angesicht der Feinde ein Mahl bereiten lassen, während die Feinde hungerten?

Ravensburg, Ende 1967

Ob es mir gelingen wird, in meinem 85. Lebensjahr mit abnehmenden Sinnen und Gedächtnis noch einmal ein Stück Vergangenheit lebendig zu machen? Im ersten Teil meines Lebenslaufs wollte ich berichten, was Gott in meinem und meiner Familie Leben getan hat. Nur seine Gnade zu bezeugen und Euch nicht vorzuenthalten bewegt mich zu dem Versuch zu erzählen, wie es weiterging.

Lange war uns der Aufenthalt meines zweiten Sohnes Friedemann bei Kriegsbeginn unbekannt, bis die Nachricht kam: Westwall, nicht Polen. Noch einmal geschenktes Leben.

Mein ältester Sohn Johannes wurde erst im Januar 1940 nach Hamburg eingezogen. Er war durch kurze Übungen schon Feldwebel geworden und nun Offiziersanwärter. Kurz zuvor war Friedemann als Unteroffizier vom Westwall nach Hamburg versetzt worden. Das war für die so innig verbundenen Brüder noch einmal kostbare Gemeinschaft. Ein gleichgesinnter kleiner Freundeskreis bildete sich um sie. Beide Brüder hatten es vorgezogen, sich nicht von ihren Kameraden zu unterscheiden, als gewöhnliche Soldaten in den Krieg zu ziehen und sich nicht als Feldgeistliche zu bewerben. Mein Ältester besuchte uns zu Ostern 1940 und hörte zu seiner Freude eine Osterpredigt von Magister Frey, dessen Werke er besaß und verehrte. Bei einem Gespräch über den Krieg sagte Johannes zu mir: Mutter, ich komme wieder, denn Gott hat mich ja zum Prediger berufen! Unwillkürlich antwortete ich: Johannes, wir sehen ja hier nur den Anfang! Später erfuhr ich, dass ihm dieses Wort nachgegangen sei und er sich auf die Möglichkeit des Soldatentodes vorbereitet habe. Einmal noch hielt er bei einem befreundeten Pfarrer eine nach dessen Urteil gesegnete Predigt. Dann kam er nach Aachen und schrieb mir von dort noch einen Abschiedsgruß, welcher schloss: In tiefem Frieden, Dein Johannes. Es kam noch eine Nachricht, die Feuertaufe meldete, und dann, bei der ersten direkten Feindbegegnung erhielt er den tödlichen Schuss als Zugführer beim Sturm auf einen Bahnübergang am 24. Mai 1940 in Frankreich. Bald erfuhr ich Näheres über den Abschluss seines Lebens. Aus drei verschiedenen Kameradenberichten ging hervor, dass er laut betend schnell verschieden sei und dass ihm bei der erst nach Tagen stattgefundenen Bestattung die Bibel in der erstarrten Hand mitgegeben worden sei. Und dann kamen Briefe über Briefe, die von dem Segen seines kurzen Lebens und Wirkens Zeugnis gaben, so wussten wir: Der Herr hatte ihn reifen lassen und ihn vollendet und berufen zum Dienst in seinem Reich in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit.

Ende Oktober 1940 wurde in Hannover (wo Elisabeth wieder in der he ihrer Eltern wohnte) Friedemann und Elisabeth ihr erstes Töchterlein geboren. Zweimal im Urlaub hat er sich noch an diesem seinem Rosenknösplein erfreuen dürfen. Er war in Belgien und kam später nach Rumänien, aber noch nicht zum Fronteinsatz. Im Sommer 1941 besuchte uns Elisabeth mit ihrer kleinen Tochter, die zu ihrem blinden Urgroßvater ein ganz persönliches Verhältnis gewann. Er fühlte, hörte und sprach mit ihr, später diktierte er mir auch Briefe und kleine Gedichte für sie. Elisabeth schrieb täglich an ihren Mann. Das Echo kam unregelmäßig (Feldpost), aber wir erlebten doch viele Briefe mit. Eine liebliche Zeit. Elisabeth, die im Dezember ein zweites Kindlein erwartete, kehrte mit ihrem Töchterlein wieder nach Hannover zurück. Im Herbst kam Friedemann, der lange Zeit nur Gete zu warten hatte, wieder zu seiner Truppe auf die Krim, von wo aus er frohe Briefe schrieb. Der Freundeskreis hatte ihn freudig begrüßt, und seine kleine Familie beglückte ihn in der Ferne. Mit einem Kameraden - er wollte mit ihm ungestört über Jesus sprechen - stieg er im freiwilligen Einsatz auf die schneebedeckten Höhen des Jalta-Gebirges (Patrouillengang, Jalta, 9. November 1941). Man fand die beiden am nächsten Morgen mit Kopfschüssen tot im Schnee. Verwaist die kleine Familie. - Das zweite Töchterlein wurde am 3. Dezember geboren. Erst acht Tage danach erfuhr Elisabeth, dass sie Witwe sei. Man hatte den Tod nicht ihr, sondern mir zuerst mitgeteilt wegen ihrer Hoffnung. Dadurch kam auch diesmal das Echo in großer Fülle zu uns nach Gottshut. Wieder waren es überwältigende Zeugnisse von dem Segen dieses früh vollendeten Lebens.

 

Aber die kleine Familie ...

Mein jüngster Sohn Armin, der nach dem Arbeitsdienst als Fahnenjunker in den Krieg zog, war an der Front in Frankreich und dann in Russland, wo er Leutnant wurde und durch eine schwere Verwundung - er verlor durch Granatsplitter die halbe rechte Hand - wieder in die Heimat kam. Als Genesender war er im Winter 1942 längere Zeit bei uns in Gottshut. In diesen Winter fällt auch meine Erkrankung an einer schweren Lungenentzündung, mein Vater war gleichzeitig erkrankt, und wir wurden beide von lieben Bruderbundschwestern vorbildlich gepflegt. Ich erholte mich nur langsam, aber hinterher wirkte sich die Krankheit als Regeneration aus. Auch der Vater wurde wieder gesund. Wir nahmen die täglichen Spaziergänge wieder auf, das Vorlesen (gut organisiert mit viel freundlicher Hilfe), besuchten alle Gottesdienste: auf der vordersten Bank der Bruderseite, dicht vor dem Liturgustisch, saßen wir. Mit dem Hörrohr konnte der Vater noch folgen.

Hilde war nach Beendigung ihrer Ausbildung in Dresden tätig und häufig unser Gast. Zuletzt arbeitete sie in Stettin und wurde im Winter 1943 ausgebombt. Sie kam daraufhin ganz zu uns und fand Arbeit in Gottshut. Das führte zu ihrer Verlobung mit Heiner Herrlich, aus einer Familie stammend, mit der Armin eng befreundet war. Am 5. Oktober 1943 erfolgte ihre Kriegstrauung. Der Großvater nahm lebhaften und freudigen Anteil. Am Polterabend erzählte er aus seinem Leben, und zum Schluss segnete er das Brautpaar mit Handauflegung. Dann zogen die Männer wieder in den Krieg. Heiner war als Obermaat aktiv bei der Marine, kam aber eines Knieschadens wegen nicht auf See. Armin kam nach seiner Ausheilung an die Unteroffiziersschule in Ettlingen bei Karlsruhe und erst im Winter 1944/45 mit der Kriegsschule noch einmal zum Einsatz.

Weihnachten 1943 feierten wir drei, Vater, Hilde und ich, friedlich vereint. Wie jedes Jahr hatte der Vater mir seine Weihnachtspredigt diktiert für die große Verwandtschaft. Wir besuchten die schönen Gottesdienste und waren ohne Sorge an Allernächste friedlich beieinander. Es wurde in der Woche recht kalt. Ich riet deshalb dem Vater dringend ab, in den Silvestergottesdienst mit dem Jahresbericht zu gehen, weil der Saal nach der Pause erst angeheizt wurde. Er erklärte aber: Da gehe ich immer hin, und ich war gewohnt zu gehorchen. Nach dem Gottesdienst hatte er stark geschwollene Füße und konnte sich nicht selbständig ausziehen und zu Bett legen. Am 1. Januar früh fragte ich ihn zaghaft: Wie geht es dir? - Schlecht, du hast mich nicht gut versorgt, war seine Antwort. Er hatte eben nicht alles gefunden. Die Füße waren in Ordnung. Vater stand auf, tat alles wie immer, und wir gingen in den Neujahrsgottesdienst. Wir speisten sogar noch im Gasthof zu Mittag, wie wir es an Sonn- und Feiertagen zu tun pflegten. Erst nachmittags bekam Vater Fieber und musste sich legen. Die Krankheit wurde aber nicht heftig und quälend. Wieder wurde ich gleichzeitig krank und bekam Fieber. Am 4. Januar abends versorgte ich Vater für die Nacht. Er schien nicht zu leiden, war aber schwach und antwortete kaum. Aber als ich fragte: Soll ich dir noch die Andacht vorlesen? kam ein deutliches Ja. Wir lasen Andachten, die er selbst verfasst hatte unter Zugrundelegung aller Sonntagsperikopen. An der Reihe war der Text Römer 8, 28-32. Danach schien er friedlich einzuschlafen, während ich nebenan auf dem Sofa bei offener Tür schlief Weil ich selber nicht wohl war, kam Hilde frühmorgens, um uns Feuer zu machen. Sie schloss leise die Tür zum Zimmer des Großvaters. Ich ging dann bald hinein und fand ihn genauso daliegend, wie ich ihn am Abend verlassen hatte, entschlafen: Er sah wunderschön aus, sodass ich nur sagte: Hilde, Großvater ist daheim. Seinen Freunden gibt es der Herr schlafend. Das war einer von Vaters Lieblingssprüchen.

Im März 1944 habe ich mich als Mitglied des Bruderbundes aufnehmen lassen, weil ich mit den nun frei gewordenen Kräften in der Gemeinde dienen wollte, durch deren gottesdienstliches Leben ich schon so lange gesegnet worden war. Man blieb auch Mitglied der Lutherkirche. Wir lebten in Gottshut sehr gnädig behütet. Hilde machte wohl im Januar 1945 Gebrauch von der Erlaubnis für Ehefrauen, am Standort ihres Mannes eine Arbeit zu übernehmen, in Bremerhaven, wodurch sie dort ein Zimmer bekam. Erst in den ersten Maitagen wurden die Einwohner Gottshuts aufgefordert, den Ort zu verlassen, um den vordringenden Russen auszuweichen. Mit schwerbepackten Leiterwagen zog ein langer Treck bei großer Wärme auf das Gebirge zu, eigentlich ohne Ziel. Gruppen hatten sich gebildet, und nicht alle konnten Schritt halten, auch in meiner Gruppe. Deshalb zweigten wir uns an einem mir wohlbekannten Scheideweg ab, der nach Kretzschmarsdorf führte, wo meine liebe Cousine und Freundin im eigenen Haus wohnte. Sie nimmt alles auf, was zu ihr kommt, und wenn man auch dort nicht bleiben kann, geht man gemeinsam weiter. Zu neun Personen fanden wir bei Elli Heiland Unterkunft. Der Krieg ließ uns aus. Nur Geschosse flogen über das Dorf und trafen auch ein Gebäude in der Nacht, die wir im Kellergebäude zubrachten. Der große Treck ist von Tieffliegern beschossen worden. Das war am 7. Mai. Es waren noch andere Gottshuter nach Kretzschmarsdorf gekommen, wo überall mit weißen Laken geflaggt war. In der Frühe des 8. Mai klopften Russen an unsere Tür: Frau Urrr! Bei uns war eine junge Baltin, die russisch antworten konnte, und mit zwei Taschenuhren begnügten sie sich. Am frühen Morgen des 9. Mai hieß es: Gottshut brennt. Als die Russen in den Ort kamen, waren Schüsse gefallen, und dafür wurde Vergeltung geübt. Einige treue ältere Gottshuter wagten den Rückweg und konnten noch löschen und einiges retten. So verbrannte die Mitte Gottshuts: Kirche, Schwesternhof, Herrschaftshof, Bruderhof, Apotheke und anderes. Erhalten blieben das Krankenhaus und die Witwenhöfe und was mehr außen herum lag. Drei Tage durfte der Ort straffrei geplündert werden. Langsam kehrten die Einwohner zurück. Wie dankbar war ich, dass mein alter Vater diese Flucht und Heimkehr der Alten und Kranken in Leiterwäglein nicht mehr miterlebte. Es folgte eine wunderbare Zeit (das selten so dauerhaft schöne Frühsommerwetter trug dazu bei), wo unter bewährter geistlicher Führung (die leitenden Brüder legten überall vorbildlich mit Hand an) die äußere Ordnung leidlich wiederhergestellt wurde. Jeder Tag begann mit einer Morgenandacht und einem Arbeitsappell im Garten der stehen gebliebenen bisherigen Mädchenanstalt, die Schwesternhof wurde. In der bisherigen Aula fanden auch Gottesdienste statt. Einer half nach Kräften dem anderen. In den Wohnungen sah es wüst aus. Ich fand aber bei Sichtung der aufgetürmten Haufen so ziemlich den Haushalt wieder. Es war nichts zertrümmert, sogar das Silber da geblieben. Infolge der gestörten Postverbindung wusste ich lange Zeit nicht, wo meine Kinder geblieben seien, bis schließlich ein dicker Brief ankam aus Hannover. Im Hause von Johannes treuer Braut hatten sich alle getroffen und berichteten. Elisabeth wohnte weiterhin bei Hannover. Armin war nach Verlegung der Unteroffiziersschule nach Leslau noch zweimal in großer Lebensgefahr, aber mit einigen Kameraden war ihm das Absetzen von Pommern, dann Blankenburg und schließlich nach Bayern gelungen. Dort war er sechs Wochen in amerikanischer Gefangenschaft und suchte jetzt nach neuer Existenz. Also gnädig behütet. Heiner und Hilde Herrlich wohnten noch in einem Zimmer in Bremerhaven. Sie schrieben, dass sie sich entschlossen hätten, fortan ihr Leben unter Gottes Führung zu stellen. Das war gegen ihre frühere Einstellung eine radikale Wendung zu Gott hin. Das hat mich erschüttert und meinen Kleinglauben tief beschämt. Es war die notvolle Zeit des Hungerns und Frierens und vielfacher Unfreundlichkeiten. Hilde erwartete ihr erstes Kind und verlebte die Wintermonate 45/46 bei Johannes' Braut. Am 16. April 1946 wurde ihr Töchterchen Anna in Bremerhaven geboren. Dort hatte Heiner eine Anstellung bei der Stadt gefunden. Bremerhaven blieb unwirtlich, und sie waren einsam. Als meine Untermieter auszogen, lud ich sie darum ein, deren Platz einzunehmen. Es fand sich eine Anstellung am Amtsgericht, und sie entschlossen sich zur Heimkehr nach Gottshut. Mein Sohn Armin hat stark abgeraten, zu den Russen zu gehen. Wir haben es für unsere Führung gehalten. So kamen Herrlichs zu mir, im Herbst 1946, mit ihrer kleinen Anna. Sie haben sich bald in der christlichen Gemeinschaft wohl und geborgen gefühlt. Ich hatte wieder eine neue Lebensaufgabe.

 

Kein Wort von Schuld, dachte Anna. Frühe Vollendung der Gerechten. Gnädiges Behüten und Führung der Getreuen und der noch Ungetreuen. Immerhin war in Annas Kindheit noch von Schuld die Rede gewesen, Schuld, die ein ganzes Volk auf sich geladen hatte und an der Anna beteiligt war. Gern hätte sie Schuld abgetragen, denn Schuld auf sich zu nehmen und zu tragen, war ja ein Teil der christlichen Lehre. Die Großmutter hatte das Leben einer bisweilen Kleingläubigen geführt, einer, die im Alltag einmal versagte. Doch von mehr Schuld wusste sie nicht. Wie ähnlich war diese Haltung der neuen Lebenseinstellung der Eltern, die sich als Erwählte Gottes von der Welt abschlossen und allein ihrem Gott lebten.

Ich greife zurück, um zu berichten, dass ich bald nach Mutters Heimgang (August 1937) in Gottshut gebeten wurde, die erkrankte Kreismutter des dortigen großen Kreises des Deutschen-Frauen-Missions-Gebetsbundes (DFMGB) abzulösen, weil ich in Hannover so stark in diese Arbeit hineingewachsen war. Es handelte sich um eine Monatsstunde des Missionsgebets-Bundes. Durch diesen Kreis wurde mir Gottshut zur Heimat. Hier gab es keine Enge. Veranstaltungen fremder Reichsgottesarbeiten, sofern sie klar biblisch ausgerichtet waren, wurden freudig begrüßt, guter Raum zur Verfügung gestellt, auch Gäste zum Übernachten großzügig untergebracht. So durfte auch unser Kreis Besuch haben von unseren Missionarinnen (aus China, Palästina, Afrika) und von den Führerinnen: Gertrud und Maria von Bülow, Bezirksmutter Gräfin von der Recke. Das war eine große Bereicherung. Der DFMGB steht auf Allianzboden, deshalb kamen zu unserer Gebetsstunde auch freikirchliche Mitglieder, die allen zum Segen wurden. Auch während der schweren Nachkriegsjahre hat es solche Höhepunkte gegeben.

Das Alltagsleben war ausgefüllt durch Beschaffung der täglichen Nahrung: Ährenlesen, Kartoffeln- und Rübenstoppeln und dergleichen. Das Ährenlesen habe ich in schöner Erinnerung: bei strahlend blauem Himmel, in der lieblichen Landschaft auf weiten Feldern noch einzelne Ähren zu entdecken. Durch die Schrotmühle gemahlen, ergaben diese Körner ein sehr geschätztes Frühstück. Unsere kleine Anna gedieh trotzdem. Es wurde auf den Gütern viel Kohl gezogen, nicht gerade für unsere Ernährung. Lastwagen holten ihn fort. Aber die äußeren Blätter wurden vorher entfernt, und wir durften sie verwenden. Ich erinnere mich, die kleine Anna mit durchgeschlagenen Kohlblättern, die mit geriebenem Leinsamenkuchen angedickt wurden, gefüttert zu haben. Den letzteren wie auch den beliebten Mohnsamenkuchen lieferte uns die Ölmühle als begehrten Ernährungszusatz. Des weiteren verwendeten wir viel Molke, was Heiner, meinen Schwiegersohn, zu dem scherzhaften Gedicht: Molken, Molken, Molken, Molken, Mutter (ich) schwebt in tausend Wolken veranlasste. Etwas eigener Schrebergarten hat auch geholfen.

Anna hatte am 9. Oktober 47 ein sehr zartes Schwesterlein, Mechthild, bekommen.

Ich habe noch kaum die Herzensfreundin erwähnt, die mir für die Gottshuter Jahre geschenkt wurde als ein Licht auf meinem Wege. Ich war doch zunächst dort einsam, aus dem reichen Familienleben in Hannover und all der schönen Gemeinschaft da kommend. Diese meine zehn Jahre jüngere Elli lebte in Kretzschmarsdorf am Kretzschmar im eigenen Haus und Garten mit ihrem über 90 jährigen Vater bis zu dessen Heimgang, später allein. Sie hatte ihren Mann, meinen Vetter, im ersten Weltkrieg verloren. (August 1914 fiel er vor Paris.) Sie war mit ihm acht Jahre verlobt und nur ein Vierteljahr verheiratet und war zu lebendigem Glauben gekommen. Wir waren also in ähnlicher Lage und haben in diesen siebzehn Jahren Leid und Freude miteinander geteilt. Den schönen Waldberg Kretzschmar, 600 m hoch, sahen wir immer vom Fenster unserer Wohnküche aus, dahinter die Kette des Gebirges, 900-1000 m hoch. Wie oft habe ich den Enkelkindern den Berg gezeigt, hinter dem Tante Ellis Haus stand. Wir wanderten durch schönen Wald eineinhalb Stunden auf den Kretzschmar und wieder hinab noch eine gute halbe Stunde. Wie oft haben wir uns gegenseitig besucht und ausgetauscht. In den anstrengenden Jahren mit den kleinen Enkelkindern bin ich auch ab und zu für ein Wochenende zu ihr geflüchtet. Sie war körperlich nicht sehr stabil, aber wenn es um Liebesdienste ging, erstaunlich leistungsfähig. Ich bin jetzt noch dankbar, dass sie mich später noch zweimal bei meinem Sohn besuchen und sich pflegen lassen konnte. Und als der Herr sie unerwartet schnell heimrief, hatte sie wieder gerade die Genehmigung zu einem Besuch erhalten.

Mit dem Januar 1949 hatte ein ereignisreiches Jahr begonnen. Zwei kleine Mädchen, Schwierigkeiten der Nahrungsbeschaffung u. a. In diesem Sommer bin ich wieder schwer krank geworden. Es war die Zeit des Bohnenerntens und -einmachens. - In unserem geistlichen Erleben hatte auch das Gebiet der Gebetsheilung eine Rolle gespielt. Wir hatten eine Gebetserhörung erlebt bei der schweren Mittelohrentzündung unserer kleinen Anna, durch welche die schon vorgesehene Aufmeißelung vermieden wurde. jetzt nun befiel mich hohes Fieber. (Ich kämpfte dabei weiter mit den Bohnen.) Es hielt acht Tage an. Der Arzt konnte keinen Grund erkennen und fasste Typhusverdacht und wollte mich in das Infektionskrankenhaus in G. zur Untersuchung einweisen, das von der Hitlerzeit her einen schlechten Ruf hatte. Ich schlug meinem Schwiegersohn vor, vorher doch mit mir nach Jakobus 5 zu handeln. Der Arzt ging darauf ein. Mir war in meinem Fieber das Wort über Petri Schwiegermutter im Sinn: Sie stand auf und diente ihnen. Heiner bat um Besuch der Ältesten. Es kamen zu mir Bruder Siegfried Borchert (der Bischof), Bruder Gregor (der Prediger) und die Witwenpflegerin Schwester Möller. Sie beteten unter Handauflegung. Es geschah zunächst nichts. Ich wurde mit dem Krankenauto nach G. gebracht. Dort hielt das Fieber noch vierzehn Tage an, mit großer Schwäche und völliger Appetitlosigkeit, aber dann trat langsam Besserung ein. Ich bin sehr gut gepflegt worden. Das Vorurteil (das Haus gehörte zur Landes-Heil- und Pflegeanstalt) war unbegründet.

Euthanasie, dachte Anna. Das Wort war der Großmutter nicht in die Feder gekommen. Alles in ihr hatte sich dagegen gesträubt, diese schrecklichen Dinge auszusprechen und sie damit nicht nur für wahrscheinlich, sondern für wahr zu halten. Wie gern befreite sich die Großmutter von einem schlimmen Verdacht.

Ebenso der Typhusverdacht meines Arztes. Aber ich musste sieben Wochen nach Vorschrift dort bleiben. Herrliches Sommerwetter! Bald konnte ich tagsüber im schönen Garten liegen. Die Verpflegung war viel besser als zu Haus und nur wenige Patienten im Haus zur Beobachtung. Ich bekam dort die Erholung, die ich nach anstrengenden Jahren dringend brauchte, die ich mir aber nie hätte leisten können bei DM 90 Rente. Der Segen des Gebets umgab mich fühlbar, eine wunderbare Zeit der Stille,

Stille ja, dachte Anna, denn wo waren die Pfleglinge geblieben, die Irren, die Verrückten?

in der ich auch große Teile der Bibel fortlaufend gelesen habe. Ich kam langsam wieder zu Kräften, war aber doch etwas schwankend auf den Füßen bei der Entlassung. Diese wunderbar geschenkte Erholung hat gereicht, bis ich dann, auch unerwartet, 1953 in den Feierabend versetzt wurde.

Von jetzt ab ist mir der zeitliche Verlauf nicht mehr ganz klar. Heiner war wohl noch Angestellter am Amtsgericht, wo er u. a. das Grundbuch zu führen hatte. Eines Tages erhielt er aus Gesinnungsgründen eine Kündigung. Aber mit einem Vierteljahr Frist. Durch alles Erleben und die geschwisterliche Gemeinschaft hatte sich sein Glauben vertieft und Berufung zum Zeugendienst mit dem Wort war ihm deutlich geworden. Wir hatten in Gottshut eine gläubige Freundin, die der Pfingstbewegung nahestand. Diese riet zum Fortgehen über Berlin und Beginn mit dem Zeugnis auf der Straße. Dazu entschloss sich Heiner nicht. Er erbat vom Herrn einen geordneten Ausbildungsweg und schrieb viele Bewerbungsbriefe ohne greifbaren Erfolg. In diesen entscheidenden Wochen folgte Hilde einer Einladung der Bundesmutter zu einer DFMGB-Konferenz nach Magdeburg. (Ich hatte um Einladung gebeten.) Dort sagte man ihr von der Predigerschule in Wittenberq, einer neueren Ausbildungsstätte der Landeskirche. Heiner hatte sich zuerst an die Direktion in Gottshut gewendet, die aber damals kein Stipendium gewähren konnte. Er meldete sich in Wittenberg und erhielt sofort bejahende Antwort: Kostenlose Ausbildung dreieinhalb Jahre unter Verpflichtung zum kirchlichen Dienst in der ehemaligen Provinz Sachsen, meiner Kindheitsheimat. Das Programm der Schule erfüllte mich mit Freude: Wir wollen nicht halbe Theologen, sondern schlichte Prediger des Evangeliums ausbilden. Heiner ging freudig darauf ein, und er überließ dem Herrn die Versorgung seiner Familie, wozu mein bescheidenes Einkommen und meine Arbeitshilfe wesentlich beitrugen. Hilde bekam Arbeit und Verdienst bei der Erwerbshilfe, die Bischof Borchert aufgebaut hatte und die vielen Frauen geholfen hat. Die Kinder (ab Januar 1950 waren es drei, Erdmuthe war dazugekommen) konnten durch mich versorgt werden. Für Heiner hatten wir die Wäsche zu besorgen und ein Taschengeld aufzubringen. Es hat uns in den drei Jahren nie am Notwendigsten gemangelt. Geholfen haben die Gebetsdienst-Geschwister durch eine monatliche Sammlung bei lauter bescheidenen Einkünften.

Die Eltern haben sich also von Anfang an so verhalten, dachte Anna und war verblüfft, dass die große Sorglosigkeit, mit der ihre Eltern den Dingen des Alltags begegneten, nicht etwas war, was sich erst in den letzten Jahren ausgeprägt hatte. Sie überließen Gott und damit ihrer Umwelt nicht nur die großen Dinge, sondern oft auch die kleinen. In dem sie alle Sorge auf Ihn warfen, durften sie friedlich und aller Verantwortung ledig in den Tag hineinleben. Er war es, der gab, der nahm.

Im Mai 1953 bekam Heiner sein erstes Pfarramt in Syhlen im Mansfelder Raum. Wir lösten den elterlichen Haushalt auf, mit dessen Hausrat das große alte Pfarrhaus notdürftig eingerichtet werden konnte. Ich bekam ein Zimmer im Witwenhof und gemeinsame Küche mit einer sehr lieben Schwester. Ich hatte unsere Wohnung nach vielen Jahren zu räumen und richtete mich nun im Witwenhof ein, während Elli Heiland die zwei kleinen Mädchen, Mechthild und Erdmuthe, zu sich nach Kretzschmarsdorf einlud. - Mit den Enkelinnen reiste ich dann im August nach Syhlen, erlebte Heiners Einführung (Ordination erfolgte 1955) mit und den nicht ganz leichten Anfang. Die Einrichtung war notdürftig und das Einkommen gering. Das Pfarrhaus hatte ein großes Anwesen mit einer Art Park, großem Hof mit Ställen und Taubenschlag und Obstgärten. Diese erbrachten eine kaum zu bewältigende Pflaumenernte, mir unvergesslich. Al1e Kräfte waren angespannt. In diese Lage hinein kam ein Brief meines Jüngsten, Armin, in dem er mich aufforderte, sobald als möglich mit Besuchspass zu ihm zu kommen, weil ich jetzt mit großer Wahrscheinlichkeit auf Erfolg meine Witwenpension beantragen konnte. Dies erschien mir als die Erhörung unserer Gebete um Durchhilfe und als neue Weisung für mich. Also Trennung vom geliebten Gottshut.

Ich hatte dort den Pass zu beantragen und vier Wochen darauf zu warten, Zeit zum Abschiednehmen und besonders auch vom DFMGB-Kreis, dem ich seit 1937 als Kreismutter dienen durfte.

Ich kam nach Rechtesheim zu Armin. Er konnte soeben seine Familie selbst ernähren und arbeitete in Karlsruhe als Assistenzarzt. Es dauerte einige Monate, aber die Pension wurde dann vom August 1953 ab gezahlt. Damit kam ich in die Lage, dem Pfarrhaus in Syhlen wesentlich zu helfen. In Armins Haus wuchsen die vier Töchter mit großem Altersunterschied heran, sodass sie getrennte Zimmer brauchten. Als dies deutlich wurde, begab es sich, dass unsere Gemeindeschwester Elise wusste, in Ravensburg sei bei ihren Hensoldshöher Schwestern ein Zimmer mit Ganzversorgung zu vermieten. Das war für mich wieder eine Weisung, bedeutete aber meinen Übergang zum endgültigen Feierabend im Alter von 82 Jahren. Mit einem Wort aus dem 23. Psalm möchte ich schließen: