Lieber Liebe

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Beate Morgenstern

Lieber Liebe

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1

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6

7

Impressum neobooks

1

Punkte, Linien, Zeichen. Eine leicht zu entschlüsselnde Schrift, dachte sie. Man erkannte wieder. Aber ja!, sagten die Leute, baten sie darum, in ihren Skizzenblock hineinschauen zu dürfen. Das ist doch, nicht wahr? Sagten es erstaunt, hatten eine Weile gebraucht, um das, was sie sahen, mit dem in Zusammenhang zu bringen, was sie kannten. Sie fuhr mit spitzem, weichen Bleistift über das Papier, machte sich Notizen über das Gesehene. Wie Kiefern wuchsen, wenn man sie ließ, wie vielfältig die Form. Die Äste frei stehender Kiefern verschlungen, Bögen, Schwünge, die Rinde dunkel und dann nach oben hin von leuchtender braungelber Farbe. Schon beim Hinsehen spürte sie auf ihren Handinnenflächen Risse und Glätte. Sie sah von der Steilküste hinab auf die graue See. Schritte, die hinter ihr aufhörten. Eine männliche Stimme, man konnte sich in ihr wohl fühlen. Schön hier, sagte der Mann. Sprach aus keiner Höhe auf sie herab, war also nicht eben groß, auch nicht klein, da sie als groß gewachsen galt. Sie wandte sich jedoch nicht um. Wollte nicht enttäuscht werden durch nebensächliches Gesicht. War von Stimmen fast noch abhängiger als vom Aussehen der Menschen. An den Klang geborstener Stimmen, wie sie sich ausdrückte, an die eintönigen in oberer Tonlage, an grelle und gequetschte konnte sie sich nie gewöhnen. Fast noch mehr aber stießen sie Männer ab, die volltönend redeten, in Versammlungen lange sprachen, und sie hatten aber auch überhaupt nichts gesagt. Die Stimme nicht zu dunkel und reich im Klang. Sie murmelte etwas. Sollte der Mann gehen, bliebe seine Stimme noch eine Zeitlang bei ihr. Wieder sprach er. Kann man sehen? Wortlos hob sie den Block über die Schulter, ließ den Arm wieder sinken, zeichnete weiter. Der hinter ihr gab nicht nach. Machen Sie das beruflich? Na schön, wandte sie sich eben um, sah ihn an. Mitten in die Augen hinein. Hellbraun die, gelbbraun seine Haut. Er war von mittlerer Größe, wie sie sich gedacht hatte, mager, doch athletisch. Haare zentimeterkurz geschoren, das Gesicht länglich-oval, die Nase scharf, der Mund vorgewölbt, starke Mundfalten. Ein Kopf, wie man ihn in der römischen Abteilung von Museen sah. Mochte Mitte Vierzig sein oder drüber oder drunter. Aus Spaß, antwortete sie ihm endlich. Aber Sie haben eine Ausbildung! Sie nickte, lächelte nun doch. Seine Lippen zogen sich bis zum Zahnfleisch zurück, der Mund schloss sich wieder. In den Augen blieb Lächeln übrig. Weiteres Ausfragen erfolgte, ob sie im Dorf wohne und bei wem. Nur so funktioniert das, sagte er dann. Beziehungen. Man kennt sich. Spöttisch breitete er sich über Waren-Kreislauf aus, über Rückkehr zu einfachen Tauschgeschäften in hochzivilisierter Zeit, da besonders Begehrtes für Geld kaum zu haben war. Aber das System schafft feste zwischenmenschliche Bande, und so könnten wir vielleicht doch von Sozialismus in hiesigen Breiten sprechen, endete er. Wenigstens kein übliches Geschrei über die Zustände hierzulande. Wehleidigkeit nervte sie. Lachen dagegen immer willkommen. Waren ja das Land, in dem politischer Witz hoch im Kurs stand, in dem man sich Dummheit von der Seele lachte. Ihr Lächeln die Antwort, die er hatte haben wollen. Er legte seinen Kopf zurück, sah sie aus den Augenwinkeln heraus an. Ich bin heute Abend in der Dorfkaschemme. Sie reagierte nicht. Sieht man sich? - Vielleicht. In seinen Augen wieder ein Lächeln, war nicht nur Freundliches drin. Er ging.

Einige Striche. Kein Eindruck mehr von Weite kam von der See auf sie. Dachte stattdessen an Jo. Ob er sich zu essen machte oder wenigstens essen ging. War so nachlässig mit sich, ihr Jo.

Eine Treppe führte gerade den Steilhang hinunter, Baumstämmchen an den Seiten hielten den Sand fest. Sie lief auf nassem, festem Sand, kaum Fußspuren hinterlassend. Das Meer unruhig, immer gleiches klatschendes Geräusch auslaufender Wellen, die kamen manchmal bis an die Schuhe. Konnte man lange um diese Jahreszeit gehen, ohne einen Menschen zu treffen. Traf man doch einen, grüßte man. Wo wenige Menschen waren, beachtete man sich. Lichter wurde der Himmel, das Grau des Wassers um Farbnuancen verändert. Stimmungen, Farben wechselten, da bekam man alles bis hin zum Hochdramatischen. Jeder Tag an der See ein anderer, manchmal noch eine Ahnung vom Vortag, meist überhaupt keine. Mitunter konnte man Angst kriegen vor Unberechenbarkeit, Rauheit. Dagegen das Immerblau des glatten Schwarzmeers im Sommer. War beim ersten Aufenthalt mit Jo regelrecht enttäuscht gewesen. Baltiskoje morje, sagte sie leise-zärtlich, die aus wenigem Schulrussisch in ihrem Kopf verbliebenen Worte, vor sich hin.

Die Kneipe voll, verraucht. Wegen großen Respekts vor den Einheimischen war sie nie hineingegangen. Sollten die ihren Raum für sich haben. Nun aber war da jemand, der ihr Gesellschaft angeboten hatte. Sie sah an den aufblickenden, starrenden Männern vorbei. Eine Hand winkte, gehörte ein länglich-ovaler geschorener Schädel dazu, aus dem ein Grinsen herausfiel. Sie durchquerte den Raum. Sonst liege ich um diese Zeit im Bett und lese, sagte sie. Was soll man abends anderes tun. In seinen Augen leichter Spott, wie sie das nun schon mal gesehen hatte. Auch' n Bier? Gut ist es hier oben ja nicht. - Auf keinen Fall. (Das Gefälle ging von Nord nach Süd, im Sächsischen kriegte man das beste Bier.) Aber trotzdem, sagte sie. Warm wurde ihr. Alkohol stieg ihr immer schnell zu Kopf. Es plauderte, lachte aus ihrem Mund. Beinahe gleichzeitig hörte sie auf die Einheimischen, ihre mecklenburgische Redeweise, wollte wissen, woher er kam, vor allem das, damit gleich sicher war, es blieb bei diesem einen Abend. Auf einen Abend konnte sie sich einrichten. Doch auch, dass er in Hauptstadt der Deutschdemokratischen wohnte wie sie, musste überhaupt nichts bedeuten. Sie überspielte Erschrecken durch schnelle weitere Frage. Und was machen Sie beruflich? - Ich bin Journalist. - Oh Gott. (Waren das doch die Leute, die in den Zeitungen alles auf die schöne Menschengemeinschaft, auf immerwährenden Fortschritt et cetera zusammenlogen, Überholen - den Kapitalismus -, ohne einzuholen, und solche Witze, während die Wirtschaft in den Fugen krachte in über dreißigjähriger Republik und Ideologie schwer renovierungsbedürftig war. Na ja, wer zwischen Zeilen zu lesen verstand, dem wurden von wenig angesehenem Berufsstand auch Wahrheiten zuteil.) Freiberuflich!, wandte er ein. - Geht denn das bei uns? - Es muss! Er zog die Lippen auseinander. Die obere Zahnreihe wurde sichtbar bis fast zu Backenzähnen hin. Offenbar erprobte Methode. Wirkte auch bei ihr. Hatte sie ihn gefragt, jetzt fragte er sie. Ernsthaft, irritierend gründlich. Lag vielleicht an seinem Beruf, dass er Menschen auch dann ausfragte, wenn es keinen Sinn für ihn machte. Auf Fragen musste man antworten. Fiel ihr nicht ein, dass sie Antwort auch hätte verweigern können in der Annahme, es interessiere ihn ja nicht wirklich. Antwortete ihm also getreulich, erzählte wie ein Kind. Dass sie Jo noch vor ihrem Studium kennengelernt hatte. Als Jo ihr sagte, sie könne bei ihm einziehen, hatte sie nicht besonders nachgedacht. Ein solches Angebot von einem ausgewachsenen Mann, Regisseur beim Fernsehen, an ein neunzehnjähriges Mädchen aus der Provinz mit gerade mal Abitur in der Tasche und dem festen Vorsatz, die Aufnahmeprüfung an der Weißenseer Kunsthochschule zu bestehen! Sprach über Jo aber auch, um den Mann abzuwehren, der mit seinem Lächeln, seinen Fragen nach ihrer Seele grapschte, möglicherweise, ohne es selbst zu bemerken. Sah in diesem scharfgeschnittenen Gesicht einen Zug von Hochmut, der darauf schließen ließ: In Wahrheit machte er sich nicht viel aus Frauen, überhaupt nicht viel aus Menschen. Tat andererseits auch wohl, mit jemandem zu reden, der wollte, dass sie redete. War immer gut, von Fremden gefragt zu werden. Sah man sich selbst deutlicher. Hatte auch was von Gespräch mit Beichtvater, in den man alle Worte hineinschütten konnte. (Obwohl überwiegend katholisch erzogen, hatte sie die Beichte nie erprobt. Stellte sich heute vor, es würde die Seele erleichtern.) Einem Fremden was zu sagen, kam dem gleich. Morgen hatten sie sich vergessen und das, was gesagt wurde, auch. War noch nicht spät, als sie aufstand, wollte übertriebene Mitteilsamkeit wettmachen, indem sie Gefühl für Zeit demonstrierte. Auch er stand auf, um ihr in die Jacke zu helfen. Ungewohnt, diese Höflichkeit. Übrigens, ich fahre morgen durch die Gegend. Wenn Sie Lust hätten ... Hatte ich sowieso vor, redete er weiter. Wenn man schon mal hier oben ist. Man muss die Gelegenheit nutzen. - Mit dem Auto sieht man mehr, versuchte sie eine Entschuldigung für die eventuelle Annahme des Angebots. - Mehr nicht, anderes, korrigierte er. Also? - Warum nicht. Sie hatte das undeutliche Gefühl, sich auf etwas einzulassen, das ihr womöglich nicht gut bekommen würde.

 

Dunstiger kühler Maimorgen. Das Gras des kleinen Bauernhofs feucht. Auf der Straße ein paar Männer, Frauen mit Fahrrädern unterwegs, wahrscheinlich zur Genossenschaft. Sie grüßte, war das gewohnt von ihrer Kindheit in thüringischem Dorf, wurde auch mal zurückgegrüßt. Vor der feldsteingemauerten Kirche ein roter Wartburg. Wohl sein Auto. Der Wagenschlag wurde geöffnet. Grinsekatze noch nicht aufgewacht, sekundenkurzes Lächeln wie gegen seinen Willen. Aus den Federn gefunden? - Das ist nie mein Problem, sagte sie. Während sie fuhren, entschuldigte er sich für seine Rostlaube, fragte, ob sie eine Anmeldung auf ein Auto laufen hätte, empfahl, sich anzumelden. Wenn sie das Auto nicht brauche, könne sie Geld damit verdienen, die Anmeldung bei fälliger Lieferung an andere weitergeben. So ist das bei uns in der Zone. Lachen aus dunkler Kehle. (Er hatte wohl viel Spott nötig. Noch nie hatte sie jemanden gehört, der dieses Wort über das eigene Land gebrauchte. Und war doch Journalist. Aber vielleicht brachte ihn gerade sein Beruf in große Missstimmung.) Immer noch billiger, auf ein neues Auto was draufzuzahlen, als jemandem eine Schrottkiste abzukaufen. Waren also wieder beim üblichen Thema: Mangel, Unzulänglichkeiten, Absurditäten hierzulande. Erschien ihr wie ein Ritual, darüber zu sprechen, worüber man gestern und vorgestern auch schon gesprochen hatte. Man hatte was, über das man noch lieber sprach als über das Wetter. Der Austausch schaffte einen Grundkonsens. Das Gefühl gegen die da oben stiftete einen Zusammenhalt zwischen den Menschen. Die Gespräche sicher auch notwendiges Ventil. Allerdings, sie langweilten Gespräche, die nicht irgendwann - irgendwann! - zu etwas führten. Lange blieb es dunstig, woraus sich eine Staffelung der Landschaft ergab. Mal ließen sie den Wagen stehen, liefen am Bodden entlang, feuchte Ufer-Pfade durch dumpfig-sumpfig riechendes hohes Schilf. Freie Sicht bei einem Weg oberhalb des Wassers. Lange hätte sie laufen können. Wer lief schon mal mit ihr. Jo doch nicht. Ihr Begleiter drängte auf Umkehr. Sie fuhren wieder, stiegen aus, besahen mal eine Kirche, mal ein Städtchen, schauten auf den Bodden hinaus, stiegen aus, ein. Hatte er wohl einen Blick, aber keine Ruhe. Auch keinen Hunger. Sie meldete sich dann doch. Ach ja, entschuldige, sagte er. Beim nächsten Bäcker holst du uns was. Heute Abend gehen wir dann in die Kneipe. Das plötzliche »du« fuhr ihr durch und durch. Erschreckte sie auch, wie er über sie verfügte. Als wäre sie eine Katze und würde am Nackenfell gepackt und aufgehoben, so dass sie in eine Tragestarre verfiel.

Abends gingen sie, die See zu begrüßen. Zum Angstkriegen gewaltvoll war sie. Feuer ertränkte man schließlich. Gegen Wasser hatte man keine Macht. Da sind wir hergekommen, sagte sie nach langem Hinblicken. Und wenn wir von der Erde verschwunden sind, das Meer ist immer noch da. Das ist gut. - Weiß nicht. Ist doch schade, wenn wir nicht mehr da sind. Sie wandte ihren Blick ihm zu. Er hatte seine Lippen wieder in die Breite gezogen. Kannte sie nun die verschiedenen Arten, wie er lächelte: Nur mit den Augen, liebevoll oder spöttisch. Oder er öffnete den Mund zu einem breiten, jungenhaften Lachen. Sollte jedenfalls so aussehen. Manchmal bewegte er nur die Lippen, ohne sie zu öffnen, und seine Augen blieben ernst. War dann Grimasse, sollte auch eine sein. - Ich hätte gedacht, dass du Menschen nicht sehr magst. - Aber ich mag mich. Und du, magst du dich nicht auch? - Ich könnte schon hin und wieder auf mich verzichten. - Glaub ich dir nicht. Er legte seinen Arm um sie. Vielleicht wie ein ganz guter Freund. So was wollte sie mal denken.

Ließen sich in der Kneipe zum Bier Kartoffelsalat mit Spiegeleiern bringen, hätten auch Kartoffelsalat mit Boulette haben können, aber Eiern trauten sie mehr als gebratenem Hackfleisch. Sie bekam ihre Augen nicht von ihm los. Die vielen Stunden miteinander schafften fatale Nähe. Wusste von sich, sie sprach auf Männer an. Sie fuhr die Linien und Flächen seines eigenartigen Gesichts lang. Mochte, dass er zehn, zwölf Jahre älter war. Drängte ihr die Vorstellung auf, er wäre klüger und könne nötigenfalls Widrigkeiten von ihr abhalten. Noch immer hatte sie sich nicht von dieser Erwartung gelöst, obwohl sie durch Jo eines Besseren belehrt sein sollte. Nach langem Tag brauchte Gemeinschaft nicht mehr durch viele Worte bewiesen zu werden. Wenigstens wich er ihren Fragen nicht aus. In seiner Ehe (ja, natürlich, der Mann Harald verheiratet!) gab es einen vierzehnjährigen Sohn. Gegenüber reichhaltigerem Familienleben war er abgeneigt. Wenn meine Frau mich doch mal satt haben sollte und mich rauswirft, ich wollte eine Partnerin ohne Familie, sagte er. Den Satz behielt sie. Der schien sich auf sie zu beziehen.

Spät in der Nacht begleitete er sie zu ihrem Bauernhof. An schwarz gebeizter langer Bretterwand nahm er ihren Kopf zwischen seine Hände, presste seinen Körper gegen ihren und sie gegen die Wand. Sie spürte seine Erregung deutlich wie noch nie bei einer Umarmung, waren fast gleich groß, vielleicht deshalb. Zündete der Mann sie an, damit sie dann lichterloh brannte, und was dann? Sie war ihm von einer Sekunde zur nächsten verfallen, war niemals jemandem so ausgeliefert gewesen, im ganzen Leben nicht. Versuchte aber doch, die deutlich vor Augen stehende Katastrophe abzuwenden. Hatte die Vorstellung, sie müsse lediglich der Bretterwand entkommen. Dann würde sie laufen, laufen, und in der Kammer im Bauernhof wäre sie dann in Sicherheit. Lass mich gehen!, bat sie. Lass mich, bitte! Heißes Wasser trat ihr in die Augen vor lauter Inständigkeit. Aber warum denn, warum denn bloß?, fragte er zwischen den Küssen, die sie fast erstickten. Fuhren sich gegenseitig in die Schlünde und bissen leicht auf schlängelnd-feuchte Ungeheuer. Lass mich, lass mich!, klagte sie. War nicht imstande, mehr als diesen Satz zu sagen. Eine so dringliche Bitte! Konnte er sie doch leicht loslassen, stehenbleiben, bis sie weggerannt war! Er aber verstand nichts. Wohl, weil sie anderes sagte, als tat, und in ihrer Kopfschwachheit nichts herausbrachte an irgendwelchen Argumenten. Hatte nichts mit Verliebtheit, geschweige denn Liebe zu tun, dass sie von einem Augenblick auf den nächsten nicht mehr über sich selbst verfügen konnte. War wohl vom Wahnsinn befallen. Wollte aber mit Wahnsinn nichts zu tun haben. Bitte!, sagte sie zum letzten Mal, sah die schwarze Bretterwand vor sich. Könnte sie bloß loslaufen, die Wand hinter sich bringen! Als er sie losließ, war es zu spät, ihr eigener Wille von nun an - für wie lange? - ausgeschaltet. Würde alles ihm zuliebe tun.

Nach dem Aufwachen packte sie ihre Sachen. War offenbar doch zu paar Stunden Schlaf gekommen. Wie immer hatte die Bäuerin in der Küche ein Frühstück bereit. So plötzlich!, meinte die Bäuerin, als sie ihr mitteilte, sie müsse gleich abreisen. Ich hab mit Berlin telefoniert, sagte sie. Ich hab ein Angebot. Das muss ich mir anhören. - Arbeit geht vor, sagte die Bäuerin, bestellte Grüße an Bruder und Schwägerin. Über ihren Bruder war sie zu dieser Adresse gekommen. Bevorzugt, wer eine private Unterkunft an der See wusste. Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund hatte die Küste fest im Griff.

Sie fuhren von der Insel. Er nannte den Namen einer Stadt als nächstes Ziel. Was immer er ihr vorschlug, sie war einverstanden. Einfach mal durch die Gegend kutschieren. (Jo fuhr ungern. War er auf Suche nach Schauplätzen für einen Film, saß sein Kameramann am Steuer. Sie kamen selten weiter als bis zum Stadtrand und im Sommer ans Schwarze Meer.) Nie grelle Sonne. Die Zweige gegenüberliegender Bäume trafen sich und gaben ein Dach ab. Kaum noch existierten Feldwege mit Obstbäumen, Hecken am Rande. Die großräumige Bewirtschaftung des Bodens ließ dies offenbar nicht mehr zu. Wenigstens durchzogen Alleen die hügelige Landschaft, Eis hatte den Boden gedrängt, geschoben. Die Dörfer bescheidene Siedlungen wie eh. In diesem Landstrich, sagte man, würde auch ein Weltuntergang erst hundert Jahre später bemerkt. Sie fuhren durch Buchen- und Mischwälder. Manchmal sah sie auf ihn, sein Profil, hohe Stirn, schmale Nase, vorgewölbter Mund. Traf sie ein Lächeln, wurde ihr schwindlig.

Auf breitem Platz vor einem Schloss parkten sie. Das Schloss, die Sommerresidenz der Großherzöge von Schwerin, gerade restauriert, so Harald, Dreigeschossig, die Geschosse voneinander abgesetzt, das ebene Dach von Balustraden umgeben, ein niedriger Turm über dem Eingang. Vom Schloss gleich zwei Alleen hinunter auf einen tempelähnlichen Bau. Sie umrundeten das Schloss, die rückwärtigen Seitenflügel. Gingen die Hauptachse hinunter zu dem Tempel. Seitlich der Alleen eingeschossige Häuser für Bedienstete, eines am anderen. Plätze taten sich auf. Das Zeichen über dem schmucklosen Zentralbau, ein von einem X durchkreuztes P auf der Kuppel, machte ihn als Kirche kenntlich. Hätte auch ein Theater sein können oder eben ein Tempel. Soll ich das nun schön finden? - Merkwürdig, sagte Harald. - Das ja. Auf dem Weg zurück zum Schloss wies Harald auf einen Marmorstein im langen Rasenstück zwischen den Alleen. Gedenkstätte für 200 ermordete Antifaschisten aus 11 Nationen des KZ Reiherhorst, las sie. Die Amerikaner haben fünfundvierzig die Einwohner gezwungen, die Toten des KZ's hierherzubringen und zu beerdigen, sagte Harald. Hier zwischen ihren schönen Schlossalleen, auf denen die Adligen Sonntags zur Kirche ritten. - Sehr gut!, sagte sie, die in der Schule stark antifaschistisch Erzogene. Ein Wasserlauf aus dem Städtchen verbreiterte sich am Schlossplatz zu einem See. Das Wasser wurde in einem Kanal aufgefangen, stürzte ein Wehr abwärts, nahm seinen Weg in einen Wald hinein. Harald legte seinen Arm um ihre Schulter. Gingen so, folgten dem Wasser. Beidseitig ebene Wege zum Flanieren. Der Kanal, bis fast zum Rand mit Wasser gefüllt, verbreiterte sich plötzlich, das Wasser fiel hinab in ein breites Becken. Springquellen tummelten sich. Brücken, Wehre folgten. Floss das Wasser dann wieder ganz mählich, spiegelten sich Bäume und Himmel in ihm. Hell war es. Auf den Anhöhen seitlich der Flanierstrecke Buchen im ersten Grün. Immer geradeaus, und dann bist du auf einem Feld, sagte Harald. Gingen vom Kanal weg in den Wald. Sie sah auf moderndes Laub, die glatten grausilbernen Buchenstämme, die einen dunkler als andere. War mit einem Mal wie ein Traum. Wollte sie unbedingt, der Traum sei kein Traum. Strengte sich an, sich aus dem tranceähnlichen Zustand zu befreien. Schien ihr, sie könne das Leben, das sie bisher geführt hatte, kaum noch aushalten. Na du? Harald strich ihr mit der flachen Hand über das Gesicht. Na du, antwortete sie, verzog das Gesicht zu fröhlicher Grimasse. War ja schön hier, so unsagbar schön. Eben das machte sie traurig. Konnte den Gedanken nicht ertragen, diesen Wald wieder zu verlassen, stellte sich vor Harald, legte ihren Kopf an seinen, wiegte sich, schob seine Hand an ihre Kehle, drückte darauf. Na?, sagte er bedenklich, Sie schaute die Bäume hinauf. Endlich hörte der Schmerz auf. War sie noch glücklich. Sollte es diesen einen Augenblick geben bis in Ewigkeit und danach keinen mehr.

Nicht so weit der Endpunkt der heutigen Fahrt: eine alte Stadt, viele Backsteinbauten. Der Wind hatte genug Platz in ihr. Die Stadt großzügig angelegt, war sicher mal von wirtschaftlicher Bedeutung gewesen. Alte Getreidespeicher fielen ihr auf. Die Stadt leistete sich zwei große gotische Kirchen und dazu ein Rathaus mit der für den Norden typischen gestaffelten, das Dach überragenden Giebelwand. Wanderten im Sturmschritt hindurch. Als würde er was versäumen!, dachte sie.

Hatte Harald einem Schriftsteller versprochen, zur Lesung zu kommen. Vielleicht konnte er einen Artikel über dessen neuestes Buch unterbringen in überregionaler Kulturzeitschrift, wenn der Mann auch nicht zu den ganz interessanten Autoren des Landes gehörte. Harald - wusste sie inzwischen - hatte mal Kulturwissenschaft studiert, heute machte er alles, was eine politische Stellungnahme nur in Maßen forderte: Kultur, Wissenschaft, Technik, Wirtschaft, Regionales. Die Redaktion der Zeitung, in der er mal festangestellt war, nahmen ab, schlugen auch selbst vor. Der Saal wohlgefüllt. Der Schriftsteller ein rundgesichtiger, dicklicher Mann, die schwarzen Haare lichteten sich. Las im Schein einer Leselampe, leise, etwas nuschelnd, hintereinander weg, ohne etwas besonders hervorzuheben. Dieses Dahinreden fast ohne Pause, Zögerer, hatte auf sie Wirkung. Wie im Einschlafen, doch ohne einzuschlafen, hörte sie die Worte, standen vor ihr Bilder auf. An einer Wand lehnte Harald, schaute ein-, zweimal durch die Kamera, ging durch den Raum, als gäbe es keine Zuhörer. Sein Gang leicht, schleichend, unter diesen Umständen besonders leicht. So und so hockte er sich vor den Lesenden, richtete die Kamera auch auf die Zuhörer. Setzte sich neben sie, kritzelte auf seinen Schreibblock von den Antworten des Mannes vorn, der mit unverständlicher Geduld auf seine Zuhörer einging. Anscheinend froh über geistige Erbauung und Belehrung, verließen die Leute den Raum. Sie blieb am Ausgang stehen, sah auf Harald und den Schriftsteller. Haralds Hände verhakten sich ineinander, lösten sich zu solchen und solchen Gesten, sein Gesicht ebenfalls in Bewegung von Grinsekatze bis ernst-langer Miene. Die beiden gaben sich förmlich die Hand, in Haralds Gesicht sein gewinnendstes, breites Lachen. Der Schriftsteller schaute ihm nach. Als sein Blick auf sie traf, sah er beiseite. Ja, heute gehört er mir, dachte sie.

 

Ihr Gepäck schon auf dem Zimmer, so dass sie gleich in den Gastraum des Hotels gingen. Iss, was du willst, sagte Harald. Ich lad dich ein. - Ich verdiene selbst! - Das nächste Mal lädst du mich ein!, sagte er. Das nächste Mal! Sie ließ den Satz nachklingen. Er soll so was nicht sagen, wenn er es nicht so meint!, dachte sie, bestellte, was er bestellte. Dir schmeckt's anscheinend. In seinem Lächeln musste Spott nicht unbedingt liegen. Wusste man bei ihm nie, woran man war. Mir schmeckt's, wiederholte sie, dachte daran, dass sie die Nacht miteinander verbringen würden und ob es am nächsten Morgen doch keinen Abschied für immer geben würde.

Der Gang ins Doppelzimmer nun für sie doch nicht selbstverständlich. Ohne weitere Vorrede zog er sich aus, seine Haut nirgendwo heller. Hatten ihre Hände schon von seinem Körper erzählt, so dass Schönheit sie nicht wunderte. Machte sie also auch keine Umstände, dachte sich an einem FKK-Strand. Mochte er sie jetzt oder später ansehen. Standen für einen Augenblick nackt-unschuldig da, klammerten sich im nächsten aneinander, als herrsche ein Orkan und ohne einander wären sie verloren. Erfolgten heftige wortlose mündliche Austausche, schnappten endlich nach Luft wegen so atemraubender Tätigkeit. Ihre Hände erkundeten eine Rückenlandschaft, von Schultern angefangen. Ihre Hände so furchtbar tastsüchtig, gelangten mit einem Mal in hübscheste mittige Gegend. Regte sich das Leben so sehr, dass sie auflachte über solches Wachsen und Gedeihen im Nu und wie sehr und dass sie sich Schönstes versprach von nächstem Tun. Fielen hinein ins noch nicht bezahlte Lager. Auf einmal hatte sie kein bisschen Geduld, nahm ihren lieben Herrn, den Herrlichen, bei der Hand, selbst erstaunt über nie zuvor bemerkte Eigenmächtigkeit. Gab ihm noch den einen Hinweis, er brauche sich nicht vorzusehen. Er sah sich nicht vor, in keiner Weise, wurde immer erstaunter, weil sie alles wollte, was er wollte. Manche Frauen fürchten ihn, sagte er. - Ich nicht, sagte sie, ich hab vor keinem Mann Angst. Ich habe nur Angst vor Enttäuschung. - Du willst viel! Er lachte. - Alles!, bestätigte sie. Männermörderin! Weißt du, dass in einem Mann eine Urangst ist, er würde nicht reinkommen. - Soll er auch nicht. Nicht gleich. Ich will was von haben. Er lachte, strich über ihren Körper. Du hast eine schöne Haut. Man merkt, du bist noch jung. Das hatte sie nun noch nie gehört und glaubte es auch nicht. Ich bin vierunddreißig, gab sie zu bedenken. - Siebzehn, sagte er. Siebzehn, siebenundsiebzig und siebenhundert. Du hast die Erfahrung von siebenhundert Jahren. Und du siehst aus wie siebzehn. Wenn du liebst, siehst du aus wie ein ganz junges Mädchen. Du müsstest dich mal anschauen. Es kommt mir direkt unanständig vor, mit einem so jungen Mädchen zu schlafen. Er wandte ihr den Rücken zu, verlangte, dass sie dicht bei ihm blieb und immer weiter streichelte. Erzählte, seine Mutter hätte ihn als kleinen Jungen so streicheln müssen, sonst sei er nicht eingeschlafen. War also ein verwöhntes Balg gewesen. Ihr fiel somit eine Aufgabe zu. Und da sie Aufgaben ernst nahm, war schon von Lehrern als gewissenhaft und gründlich eingeschätzt worden (stand so in ihren Schulzeugnissen), wandte sie sich spät von ihm ab. Als er sie weckte, dämmerte es erst. Durch Abgeschundenheit mancher Glieder ließen sie sich nicht abhalten von mehrgängigem Früh-Stückchen. Schliefen noch mal ein. Später saß sie im Hotel-Restaurant als hoffnungslose Frau. Ach, da schnitt sich der Gefährte wunderbarer Nacht sein Brötchen auf und hatte einen Appetit. Für sie war es eventuelle Galgenmahlzeit, da hatte sie nicht die geringste Esslust. Mochte Begräbnisse erst recht nicht am Morgen. Labte sie wenigstens ihre Seele an letzten Anblicken: seine Haut, seine Augen honigfarben, ja, jetzt wusste sie es, bei hellem Licht honigfarben. Der Schimmer seines Kopfhaars eher dunkel blond als hellbraun. Du musst essen!, sagte der tüchtige Kämpe. Du hast schließlich was geleistet. - Kann nicht, sagte sie und nach langem Auf-ihn-Sehen endlich mit Stimme fast ohne Ton: Sehen wir uns wieder? - Dummkopf, erwiderte er. Das schien ihr eine handfeste Antwort. Doch so müde-matt kriegte sie ihre Ängste nicht unter Kontrolle. Konnte nur hoffen, dass ihr das Schlimme (Folter bis Todesstrafe für sich oder jemanden ihr Liebem) erspart blieb, das aus so einer Nacht zwangsläufig folgte. Sie fragte nach nichts, schob so mögliche schlechte Botschaften noch hinaus. Zum Beispiel, dass er noch andere Termine hätte, sie mit dem Zug nach Hause fahren müsste. Da er nichts darüber verlauten ließ, blieb Trennung aufgeschoben, jedoch nicht aufgehoben. Zogen sie aus dem Hotel aus und fuhren weiter landeinwärts, bis sie - irgendwann - dann doch die Ausläufer allerhässlichster Großstadt, ihre Krakenarme, erreichen würden. (Dass sie immer so dachte, wenn sie mal weg von der Stadt war. Nachher ließ es sich doch leben in ihr!) Schaute auf ihren Herrn Harald, der nichts ahnte von ihrem Unglück, ihrer Fassungslosigkeit. Seine Hände auf dem Steuer lang, kräftig und wohlgeformt. Handarbeiter vielleicht noch sein Großvater gewesen, sein Vater wohl nicht mehr. (Zu Gesichtern sah sie immer auch Hände, war Übereinstimmung wie Dissonantes aufschlussreich.) Liebte schon allein diese Hände. Blieb ihre Linke schließlich nicht in ihrem Schoß mehr liegen, strich über seine Jeans, legte sich dort hin zur Ruhe. Darf ich? - Wenn du Biest nicht auf andere Ideen kommst. Im Lachen verging ihre Traurigkeit. Müdigkeit machte gleichgültig bis in übernächste Stunde.

Wäre gern in ihre Kammer verschwunden, ohne Jo zu sehen. Doch Jo im Hauptraum fast immer anwesend. Würde erste Begegnung wahrscheinlich gleich erfolgen. Sähe er es ihr an und fragte sie, wollte sie ohne Umschweife bekennen. Konnte ihn nicht schonen. Sie fand ihn wie erwartet: in seinem Lehnsessel, um ihn herum verstreut Bücher, Zeitschriften, Zeitungen, Manuskripte. Jo blickte auf: Wolltest du nicht später kommen? Das Freundliche in beiläufiger Frage nur für sie zu erkennen. Fremde konnten seine Gemütsbewegungen kaum ausmachen, außer wenn er lachte. Sie betrachtete müde das großflächige Gesicht ihres alten Freundes: die Nase gerade, stumpf, die Augen groß, etwas hervortretend. Bei einem Lichteinfall hatte sie schließlich bemerkt, sie waren nicht dunkel, sie hatten gar keine Farbe, allenfalls war eine Spur Blau drin. Die Haare dicht, dunkel, von wenigen grauen Fäden durchzogen. Obwohl in Einzelheiten nichts Besonderes an ihm war, das starke Haar ausgenommen, galt er als gutaussehend. Mochte seine Größe, seine kräftige Statur dazu beitragen. Die Unbeweglichkeit seiner Mimik hatte ihr früher imponiert. Er wirkte so männlich, gelassen. Lange hatte er ihren Erwartungen entsprochen und sie es als so wahnsinniges Glück angesehen, dass er sie bei einer Probe im Studio unter den Kleindarstellern herauserkannt hatte als eine, die was mehr wollte. War nicht bei einem Abenteuer geblieben, in dieser Branche besonders verwunderlich. Vielleicht, weil ihn seine Frau gerade verlassen hatte. Alles bei dir war schon angelegt, sagte er, sprachen sie über seine rasche Entscheidung. Du warst keines von diesen Mädchen, das habe ich nach dem ersten Abend gewusst. Und es war klar, welche Mädchen er meinte. Vorher hatte sie nichts von Treue gehalten, da die Männer, die sie kennenlernte, nichts davon hielten. Jo aber hatte sie angebetet, und sie hatte während des ganzen Studiums in Weißensee nach keinen anderen Männern geschaut. War's schön?, fragte er. Sie hatte immer noch nichts gesagt, nur angeschaut, was sie im Begriff war aufzugeben. Ja schon, sagte sie. Schön war's, schön, aber dann doch etwas langweilig. Jo hatte genug gefragt, kannte das von ihr schon, dass sie von einer Reise wie eine Fremde kam. Sie ging die Stufen hinunter in den unteren Teil der Wohnung mit Kammern und der Küche. Dort das übliche Chaos. Sie ordnete, wusch ab. Indem die Ordnung zunahm, nahm ihr Ärger ab. Sie ging daran, ein kleines Mittagessen zu machen von dem, was noch an Vorräten da war. Wenigstens versorge ich ihn, dachte sie, hielt diese Feststellung ihrem in letzter Zeit häufig aufkommenden Gefühl entgegen, sie bliebe ihm etwas schuldig. Offenbar kann ich nicht ohne das Eine sein, sagte sie sich. Es kam schon noch vor, dass Jo sich ihrer als Frau vergewissern wollte. Doch da seine Versuche halbherzig und leidenschaftslos waren, redete sie ihm die in der Regel aus. Beharrte er, war es für sie eher eine caritative Handlung, so dass sie dachte, sie würde auch zum Beruf der Hure taugen. Du bist so still!, hatte er die erste Zeit gesagt, ihre Veränderung bemerkt. Aber er konnte dies ja auf ihre Unfähigkeit zurückführen. Und sie war tatsächlich an sich irregeworden. (Nun allerdings wusste sie, mit ihr war alles richtig.) Gemeinsam begründeten sie seine Lustlosigkeit mit Schwierigkeiten in der Arbeit. Denn zum ersten Mal war ein Versagen aufgetreten, nachdem wieder einmal ein Projekt gestorben war. Wohl bekam Jo jeden Monat vom Fernsehen ein gutes Gehalt, doch kaum einen Film. Wenn doch, dann keineswegs überragende Stoffe und er an Auflagen gebunden. Man hatte Jo im Studium eine große Begabung nachgesagt. Er selbst hatte viel von sich erwartet. Nun war er Ende Vierzig und hatte weder Viel noch Außerordentliches geleistet. Das drückte ihn. Sie hatte versucht, mit ihm Geduld zu haben. Doch so nachsichtig sie in Vielem sonst war, in der Liebe gelang es ihr nicht. Da hatte sie nach ein-, zwei Malen, wo ihm nichts gelang, regelrechte Panik ergriffen, es würde nie wieder was mit ihnen. War sich im Übrigen nicht sicher, ob Unvermögen nur am beruflichen Misserfolg lag. Konnte der Grund sein, konnte ein Grund unter anderem sein oder überhaupt keiner. Inzwischen schlief jeder in seiner Wohnungshälfte. Er bewohnte die beiden durch eine Glastür getrennten sehr großen Haupträume, sie die Kammern im tiefer gelegenen Trakt, beim Bau für das Personal vorgesehen. Die Kammern zeichneten sich durch Helligkeit aus. Zu den Mahlzeiten traf man sich in der Wohnküche am Ende des Gangs.