Küsse für Butzemännchen

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Wie die Mutter so verschieden sein kann, darüber denkt Susanne nicht nach. Sie ist so und so, das erlebt Susanne täglich. Da gibt es die strenge, hoffärtige Hausbesitzerin und die teilnahmsvolle Frau, die sich mit den Armen einlässt, denen, für die keiner ein Ohr, ein Auge haben will. Fühlt sich eben nur bei denen wohl, die Leid erlebten, wie sie Leid erlebt hatte.

Die Straße teilen sich zwei Banden. Die eine geführt von Klemm-Ockel und seinem Bruder, gefürchtete Schläger, die andere von Suss. Susannes Haus gehört noch in Suss' Bereich. Von der Post bis zum Bahnhof haben Klemm-Ockel und sein älterer Bruder ihr Revier.

Susanne kümmert sich nicht um Zugehörigkeiten. Balanciert über Stangen und Pfosten der Raseneinfassung auf dem Bahnhofsvorplatz. Tagtäglich beinahe. Wieder einmal trainiert sie ihren Gleichgewichtssinn, als sie von hinten angerempelt, heruntergestoßen wird. Sie schaut sich um: Klemm-Ockel steht hinter ihr, der kleine, knubblige Kerl, o-beinig, zwei, drei Jahre älter als sie. Susanne in Blickweite vom Laden der Mutter fühlt sich sicher. Und da sind ja auch ständig Leute, die zum Bahnhof, zur Post wollen oder von dort kommen. So einfach will sie sich nicht vom Bahnhofsvorplatz vertreiben lassen. Sie steigt wieder auf die Stange. Klemm-Ockel will das nicht. Und so liegen sie bald ineinander verknäult auf dem Rasen, teilen Püffe, Schläge aus, sowie sie einen Arm frei haben. Dabei sagt Klemm-Ockel etwas, das Susanne rasend macht vor Wut, denn noch nie hat sie eine derartige Beschimpfung gehört. Sie geht über das hinaus, was ihr sonst Kinder sagen. Drecksau, Judensau. Tintenklau-Kohlenklau-Judensau. Monoton wiederholt er die Beschimpfungen. Die Wut verleiht Susanne fast unheimliche Kräfte. Sie will die Worte aus Klemm-Ockel herausprügeln. Leute haben sich um sie versammelt. Holt doch eener Frau Purgerd, sagt jemand. Doch niemand holt die Mutter, niemand geht dazwischen. Susanne kriegt eine herumliegende Zaunlatte in ihre Finger, will gerade Klemm-Ockel eins über den Deez hauen, da reißt Rosie sie hoch. Die Leute machen schweigend Platz. Susanne blutet aus der Nase. Dich erwisch ich noch!, schreit Klemm-Ockel. Susanne schaut sich um. Wie sie Klemm-Ockels wutverzerrtes, blutverschmiertes Gesicht sieht, weiß sie, niemals darf er sie noch einmal zu fassen bekommen! Da plötzlich steht Suss neben Ockel. Und seine ganze Bande mit ihm. Suss, zwölfjährig, fast erwachsen, raucht, nimmt die Zigarettenkippe aus dem Mund, spuckt Ockel an, schnipst ihm die glühende Kippe ins Gesicht, grinst Susanne an.

Dass de dich auf so was einlässt!, sagt die Mutter, will sich nicht anhören, was Susanne zu ihrer Entschuldigung vorbringt, ist vielleicht selbst ratlos. Warum kann das Kind nicht sein wie andere Kinder? Warum kann es ihr nicht nur Freude machen? Sie nimmt den Ochsenziemer, schlägt auf Susanne ein, als hätte die nicht schon genug Schläge bekommen und als würden Schläge wirklich etwas nützen. Tintenklau-Kohlenklau-Judensau! Susanne hallt es in den Ohren. Sie erfährt, zu Hause bekommt sie keine Unterstützung gegen das Unrecht draußen. Es wird sogar noch vergrößert, indem Prügel, Prügel nach sich ziehen. Das wird nun immer so sein, wenn sie sich verteidigt. Denn die Beleidigungen anderer Kinder, auf die sie bis dahin nicht achtete, überhört sie jetzt nicht mehr. Obwohl sie ahnt, sie verschafft den Kindern Vergnügen, wenn sie auf sie losgeht. Oder einen Vorteil, weil man sie immer ganz unverhofft trifft. Die Kinder wollen nur sehen, wie es Susanne plötzlich die Sprache verschlägt, wie sie von ihnen wegschleicht, als hätte man ihr eins mit der Peitsche übergezogen.

Der Schwarze Weg, der Schotterweg durch die Schrebergärten, dann ist man an der Kurve. Der Fluss biegt dort rechter Hand ab, umfließt in weitem Bogen die Stadt, die seinen Namen trägt. Die Strömung an der Kurve ist stark, bei Frühjahrshochwasser besonders. Susanne treibt es nach draußen. Weg will sie, nur weg von zu Hause. Heraus aus der Unruhe des Geschäftshaushalts. Selbst abends und an den Wochenenden hält sie es zu Hause nicht aus. Susanne läuft zum Hochwasserdamm, schaut ins leise strudelnde Wasser, schaut über die Schrebergärten hin. Entdeckt eine kleine Horde Kinder. Jetzt müsste ich rennen, denkt sie, vom Wasser wegrennen. Aber dann schätzt sie ein, Flucht hat keinen Sinn. Die Kinder werden gerade dann Lust bekommen, sie zu jagen. Und sie werden schneller sein. Vielleicht ist einer dabei, der sagt: Lasst se doch loofn! Die Kinder holen Susanne ein, bilden einen halben Ring um sie. Keiner dabei, der sagt: Lasst se doch loofn! Keiner, der sich mit Susannes Angst begnügt, dem genug ist, dass er Susannes Angst gesehen hat. Die Kinder schieben, schubsen Susanne an den Rand der Böschung. Susanne wehrt sich, hält sich in ihrer Not an einem Kind fest, bekommt einen starken Stoß, verliert das Gleichgewicht, fällt den Damm hinunter in den Fluss. Eiskalt ist das Wasser, zieht sie in die Tiefe. Sie taucht wieder auf, paddelt wie ein Hund, schwimmen kann sie noch nicht, nur mit aufgeblasenen Schwimmbetteln, die sie rechts und links am Körper halten. Sie paddelt, strampelt, um nur ja oben zu bleiben oder wieder hochzukommen, wenn sie untergeht. Die Strömung nimmt sie mit, trägt sie an eine seichte Stelle, eine Furt. Sie hat Grund unter den Füßen, steht. Die Kinder sind oben auf dem Damm mitgelaufen, haben dem Schauspiel zugesehen, ob sie ersauft oder nicht. Ihre Neugier hat sich noch nicht gelegt. Sie warten, was Susanne nun tun wird.

Versuchte Susanne, an einer Furt auf die andere Seite des Flusses zu gelangen, wäre sie die Kinder los. Doch wie soll sie dann später wieder hinüber? In ihren nassen Sachen bis zum Steg zu kommen, gelingt ihr nicht mehr. Sie ist so erschöpft, dass sie kaum noch laufen kann.

Susanne fasst sich ein Herz, wankt aus dem Fluss auf die Kinder zu. Das Wasser strömt an ihr herab, quietschend ihre Schuhe bei jedem Schritt. Die Kinder lassen sie vorbei. Sie spürt im Rücken ihre Blicke. Nur nicht schneller laufen, nur nicht Angst zeigen, denkt sie. Die Wiese vor der Bahnersiedlung menschenleer.

Als Susanne das Haus von Langes sieht, Rosies Eltern, überwältigt sie ihr Fluchtinstinkt. Sie beginnt zu rennen. Heult mit einem Mal. Tränen laufen ihr die Wangen hinunter. Die Meute rast auf sie zu, kreist sie ein, sudelt. Dich ham se sowieso bloß gefundn. E Hurenbaich biste, off der Kirchenschwelle abgelecht! Susanne vergisst Kälte, Nässe, Müdigkeit, greift den an, der zuletzt gesprochen hat, wälzt sich mit ihm auf dem Boden.

Ein Mann, ein Nachbar von Langes, stürzt aus der Siedlung. Lasst ihr das Mädel in Ruhe, schreit er. Ich erschlach euch alle!

Die Kinder lassen von Susanne ab. Die richtet sich auf, nass, dreckverschmiert, immer weiter heulend. Der Nachbar bringt sie zu Langes. Mutter Lange zieht Susanne aus, wickelt sie in ein Frotteetuch, wäscht die Sachen aus, so gut sie kann, hängt sie an den Ofen, legt sie über die Kacheln. Eines der Mädchen wird zu Susannes Mutter geschickt, damit die sich nicht beunruhigt über Susannes Wegbleiben.

Mutter Lange bügelt das Kleidchen über, das blaue Mäntelchen mit dem weißen Kragen, dem man am meisten die Unglücksspuren ansieht.

Bange macht sich Susanne auf den Weg nach Hause. Aber was ist das für ein Zuhause, wo sie dafür geprügelt wird, dass die Kinder sie ersäufen wollten. Gerade mal ist sie noch aus dem Fluss gekommen, dem durch das Frühjahrshochwasser gefährlich angeschwollenen, strudelnden. Da wäre eine andere Mutter nur noch froh. Nicht Susannes. Ich hab's dir schon hundertmal gesacht, sagt sie, mit son Dreckvolk gibste dich nich ab. Aber du kannst ja nich hörn. Die Mutter greift nach dem Ochsenziemer.

Nicht totzukriegen ist die Burkard-Nanne, ersoff nicht in der Euba, holte sich in ihren nassen Klamotten nicht den Tod, hat vielleicht sieben Leben. Die Kinder wollen sehen, ob sie wirklich sieben Katzenleben hat, reizen sie zu Mutproben. E, das trauste dir ja doch ni, sagen sie. Schon traut sich Burkard-Nanne. Ein Schlagbaum trennt das Bahngelände oben am Berg von dem umliegenden Land, den Gärten ab. Zwischen den Gleisen, in der Nähe des Schlagbaums, der Flachbau des Postdepots. Mehrmals am Tag fahren die Postler mit der Eidechse zwischen Bahnhof und Depot hin und her, fahren manchmal auch direkt an die Züge heran. Die Eidechse ein grauer Elektrokarren. Breitbeinig steht der Fahrer vorn auf der Plattform, lenkt, bremst, gibt Fahrt. Hinter ihm ein großer Drahtkorb, bis zu seinem Kopf hinauf reichend. Hinten am Elektrokarren ein Trittbrett für einen zweiten Postler. Wann eine Eidechse zu erwarten ist, wissen die in Gärten und Wiesen herumstromernden Kinder ungefähr. Zu diesen Zeiten rotten sie sich zusammen. Ist das Trittbrett hinten frei, rasen sie auf die Eidechse zu, laufen hinter ihr her, springen - eine halbe Drehung vollführend, den Hintern voran - auf das Trittbrett. Wer dort sitzt, ist Sieger, lacht die zwischen den Rangiergleisen Zurückbleibenden aus. Einmal und immer mal wieder gelingt Susanne der Aufsprung. Doch die Kinder verziehen ihr Gesicht, als wäre es nichts, dass Susanne den Aufsprung geschafft hat. E, de Burkard-Nanne, ätsch!, rufen sie. Susanne überlegt, was an ihr anders ist als an anderen Kindern, dass man sie abschätzig behandelt, beleidigt, zu ihr Hurenbalg sagen darf und noch Schlimmeres, dass, was sie tut, nicht so gilt. Sie muss beweisen, dass sie genauso mutig ist wie andere Kinder. E, das trauste dir ja doch ni! Eine Lok rangiert, fährt hin und her auf den Gleisen zwischen Triebwagenhallen hinter dem Depot. Ist die Lok ganz dicht heran, dann hin zum Gleis, ein Geldstück auf die Schiene gelegt, es könnte die Hand kosten, den Kopf. Platt gewalzt wird das Geldstück, dünner von Mal zu Mal. Erst als eine Bewachung am Schlagbaum aufgestellt wird, lassen die Kinder von ihrem Spiel.

Sonntagnachmittag. Zum Löbn müssen sie. Eine der älteren Schwestern des Vaters hat dort das Kommando. Die Hanni wirtschaftet mit ihr, die Tochter, eine Person mit riesigen Zähnen. Die Schwester des Vaters hat der Mutter früher das Leben schwergemacht. Weil die Mutter schön war und die Hanni eben nicht. Dann hat die Hanni doch geheiratet. Das Geld bescherte ihr einen Adligen zum Mann, einen Offizier. Einen von Dahlen. Zwei erwachsene Söhne hatte die Hanni. Der eine war bei der Waffen-SS, auf den waren sie stolz. Der ist ganz jung gefallen. Der andere ist nicht schön und durchtrieben. Doch weist er alle Rassemerkmale auf, sodass man ihn dazu ausersehen hat, viele deutsche Kinder zu zeugen. Ein Zuchthengst ist er, man spricht verächtlich von ihm. Susannes Mutter liebt ihre reiche Verwandtschaft nicht. Hach, wenn mir bloß nich dahin brauchtn!, jammert sie. Da sin mir doch bloß de Dreckbutteln! Susanne ist am Nachdenken, warum die Mutter sich noch heute alles gefallen lässt von der Verwandtschaft. Sie bezieht die Unwürdigkeit auf sich. Vielleicht schämt sich die Mutter für Susanne und lässt sich ihretwegen zum Dreckputtel machen? Verwandtschaft ist Verwandtschaft. Man muss hin, muss sich gut stellen. Die Mutter geht nach der Begrüßung gleich in die Küche, bindet sich die Schürze um, macht das Dreckputtel. Susanne sieht, wie sie sich vergnügt, reißt vor der Schwester des Vaters aus, die ständig Kopfnüsse verteilt, hält sich an deren Mann, den Mardin. Martin führt Susanne ins Vereinszimmer, steckt Blechmarken in die Spielautomaten. Susanne kann Pferderennen veranstalten, oder sie hebelt, um eine Metallkugel in eine der Gewinnlöcher zu bekommen. In Friedenszeiten würde das Geld rasseln. Stattdessen spendiert Martin. Ein blecherner Hahn hat sowieso immer eine Überraschung für Susanne bereit. Wieder braucht Martin eine Blechmarke, um die Maschinerie in Bewegung zu setzen. Der Hahn beginnt zu krähen. Und - oh Wunder - trotz männlichen Geschreis legt er ein Ei, sehr groß, lilagolden. Darin sind kleine Ostereier. Das Ei darf Susanne mitnehmen. Hat sie die kleinen Ostereier aufgegessen, bringt sie das große Ei zurück. Der Hahn wird wieder krähen und wieder - oh Wunder - ein neues Ei gebären. Der Mardin is wie e Kindl, tadelt seine Frau. Das ist Susanne schon lustig, dass Martin ein Kind sein soll, wo er gar nicht so aussieht. Einen Schnauzer trägt er, die Haare hat er kurzgeschoren. Das Schicksal hat für seine böse Frau, die ältere Schwester des Vaters, eine Strafe parat. Ungeduldig, wie sie nun einmal ist, hat sie in die laufende Waschmaschine gegriffen. Die Trommel drehte sich, erfasste ihren Arm. Der halbe rechte Arm ist hin. Der Arm, mit dem sie Schellen austeilt. Ein Stummel ist er nur. Das nennt Susanne Gerechtigkeit.

 

Erst weinte Rosie viel. Nun weint sie nicht mehr. Ihr Verlobter ist ins Frankenberger Lazarett verlegt. Frankenberg ist Garnisonsstadt, Militär liegt dort. Man könnte auch sagen, es sitzt, steht, läuft. Doch im Lazarett liegt es zumeist. Susanne hat eine wunderbare Vorstellung von Lazarett, dort sind Soldaten zur Erholung, werden umsorgt, trinken Tee, von Mädchen um Tante Martha gesammelt. Die wunderbare Vorstellung verwandelt sich in eine andere, als Rosie sie eines Tages ins Lazarett mitnimmt. Nach Äther riecht es. Die Soldaten liegen mit Verbänden in den Betten, manche stöhnen. Das ist dann doch keine so schöne Erholung. Sprachlos schaut Susanne zu den Indern, was die für braune Haut, schwarze Augen und Haare haben. Wie kommen diese Menschen nach Deutschland? Susanne lässt die Verlobten allein, geht von Bett zu Bett, beneidet die Soldaten trotz ihrer Verwundung. Im Augenblick sind sie wohl krank. Doch werden sie wieder gesund, ziehen wieder in den Krieg und erleben etwas. Und was dagegen erlebt Susanne! Sie probiert die Uniformen der Soldaten an, setzt sich die Mützen auf. Die Soldaten lachen, schenken ihr Bonbons, Vollmilchdrops, einer sogar eine kleine Mundharmonika. Was Susanne am liebsten von ihnen hätte, dürfen sie nicht wegschenken: ihre Orden.

Unbedingt muss Susanne seither Orden und Ehrenzeichen haben. Aber wie, wenn sie kein eigenes Geld besitzt? Du hast alles, du brauchst nischt, sagt die Mutter immer. Wenn de was ham willst, kannstes saachn. Un wenn's denn nich geht, geht's nich. Jeden Tag kauft Susanne beim Bäcker ein und kommt an der Auslage eines kleinen Ladens vorbei. Auf Kissen sind Schulterklappen der Luftwaffe angeheftet und alle möglichen Orden und Ehrenzeichen. Susanne hat keine Ruhe mehr. Sie spricht mit Rosie. Kannste nich saachn, die Jacke von deim Werner is weg, un nu musste neue Abzeichn koofn? Rosie geht auf diesen Vorschlag nicht ein. Susanne drückt sich die Nase an der Auslage platt, geht auch in den Laden hinein, lässt sich zeigen. Schließlich sagt die Besitzerin: Du hast es gestern gesehn un vorgestern un vorchte Woche warste da. Un vorm Ladn stehste oo jeden Tach. Nu kennste alles. Nu brauchste hier nich mehr zu stehen. Die Besitzerin spricht mit der Mutter. Die Mutter spricht mit Susanne. Die nimmt nicht Vernunft an, wie sie soll. Dann scheint es Abhilfe zu geben. Vom Winterhilfswerk werden Märchenfiguren als Porzellan-Anstecker angeboten, Froschkönig, tapferes Schneiderlein, Dornröschen und so weiter. Boehm-Otto kauft eine ganze Karte, die Mutter nur zwei Anhänger. Ach, mer tun genuch forn Kriech, sagt sie, bezieht sich darauf, dass sie im Kränzchen Socken für die Soldaten strickt. Boehm-Otto ermahnt daraufhin die Mutter. Gerta, sieh dich vor, mir sin Geschäftsleute! Susanne stolziert herum, sämtliche Porzellananstecker des Onkels am Mantel. Doch weil sie rennt, klettert, fällt, entflieht ihr die Pracht schnell, macht sich aus dem Staub beziehungsweise fällt in denselben. Wieder steht Susanne zum Missvergnügen der Besitzerin vor dem Laden, betrachtet das Glitzerzeug. Mit den Alarmen, der Verdunkelung kommt Leuchtschmuck auf, der auch ganz schön ist, denn er strahlt mitten in der Dunkelheit. Erst Jahre nach dem Krieg kann Susannes Sucht nach Orden, Medaillen befriedigt werden. Als Schülerin, Junger Pionier, dann Thälmannpionier erfüllt sie die Bedingungen für jeweilige Abzeichen, für Gutes Wissen, für die jährlich vergebenen Sportabzeichen, in Gold und Silber für Wintersport, Leichtathletik. Ihre Jacke ist linksseitig bedeckt mit Klimperkram, rechts die Abzeichen vereinzelt.

Tiere erregen immer Susannes Interesse. So auch die Ziegen, die am Tetzel'schen Hang weiden, insbesondere der Ziegenbock. Prächtig seine Hörner. Geht Susanne zu Tetzels, Ziegenmilch zu holen, besucht sie die Ziegen. Sie stellt ihre Milchkanne ab, läuft Hang aufwärts, streichelt das feste kurze Haar der Tiere. Ruhig geht sie auf den Bock los. Der guckt blöd, bös, steht still, der Strick zum Pflock straff gespannt. Plötzlich senkt er seine Hörner, greift an. Susanne setzt es auf den Hintern. Sie steht auf. Kampflustig. Nimmt die beiden Hörner des Ziegenbocks, stößt den Bock zurück. Der senkt wieder die Hörner, stößt ins Leere. Susanne packt erneut seine Hörner, schubst ihn, dass er zu Boden geht. Vor und zurück, auf und nieder. Endlich hat Susanne den Gegner, den sie fassen kann. Einen gleichwertigen, solange der Strick hält, der Pflock fest im Boden ist. Nachbarn beobachten den Kampf zwischen Kind und Bock, informieren die alte Tetzel, die auf krummen Beinen angehutscht kommt. Aber Nanne, Kind, das mache doch nich, das is doch gefährlich!, ruft sie. Geh weg vom Bock, nu gehe schon! Susanne bekommt ihre Milch, einen Viertelliter die Woche. Den Ziegenbock kann Susanne nicht in Ruhe lassen, muss ihn bei den Hörnern nehmen, sobald sie ihn sieht, egal, was es für blaue Flecken, für Dresche nachher gibt, wenn er ihr die Kleidung zerreißt. Und dabei gewöhnt sie sich nicht an die Schmerzen, die Demütigung des Auspeitschens. Was isses bloß, dass de nich gehorchen kannst, sagt die Mutter. Selbst mit elf, zwölf Jahren kommt sie nicht so ohne weiteres an dem Ziegenbock vorbei, kämpft mit ihm, kann sie Augenzeugenschaft ausschließen.

Hoch aufgeschossen der hellblaue Rittersporn, die dunkelblauvioletten Hütchen schaukeln am Stängel des Eisenhuts, Clematis -weit offen die blauen Blüten- ranken sich die Gitterstäbe hinauf, Kletterrosen erklimmen Sprossen. Die Schrebergärten im Schmuck des Frühsommers. Susanne springt den Schwarzen Weg entlang, den Schotterweg: Der Vater ist zu Hause. Fronturlaub hat er. Nicht nur zwei, drei Tage, nein, mehr als eine Woche. Alle Verwandten wollen den Burkard-Walter sehen, die Mittwejd'schen drängen, die Gelenauer, die Frankenberger. Jeden Tag könnte der Vater woanders verbringen. Am liebsten wird ich nach Langenberg fahrn, sagt der Vater. Auch die Mutter und Susanne würden am liebsten nach Langenberg fahren. Bis Hohenstein-Ernstthal gibt es eine Bahnverbindung. Von da an verkehrte früher ein Bus. Der Vater telefoniert. Ach, der Walder! Großes Hallo am anderen Ende der Leitung. An dem und dem Tach wolltn mer komm, sagt der Vater. Wie isn das mitm Bus zu euch? Das wissen die Langenberger im Augenblick nicht. Na, da holt uns man schön mitm Landauer ab! Der Vater lacht. Er könnte auch gleich einen Vierspänner bestellen. Großspurige Reden wie großartige Gesten gehören zur guten Laune hierzulande, und die hat der Vater.

Wie sie in Huhnsteen aus dem Zug steigen, sehen sie am Gitter neben dem Bahnhof die Langenberger winken. Der Fritz ist auch dabei. Die ham woll keene Arbeit mehr aufn Hof! Der Vater schüttelt den Kopf. Sie gehen durch die Unterführung, die enge, dunkle Röhre, passieren die Sperre. Im Bahnhofsgebäude beißender Uringeruch. Na, wo sin se denn?, sagt der Vater. Ehmd ham mer se doch noch gesehn! Keine Spur von den Langenbergern.

Walder!, kreischt die Mutter. Walder, gucke mal! Was steht, abseits geparkt? Ein schwarzer Landauer, das Verdeck heruntergelassen. Nur ein Pferd davor. Sie laufen auf die Kutsche zu, lachen, umarmen sich. Mensch, sagt der Vater, ihr seid woll verrückt! Ich hab doch bloß Spaß gemacht! Nee, nee, antwortet Marga, das musste sein! Der Fritz hat sich eene Mühe gegehm mit der Deichsel. Weil doch immer zweje angeschirrt wern müssn. Aber so geht's och. Nu steigt mal ein! Lasste Nanne ja nich offn Kutschbock! Doch Susanne will gar nicht auf den Kutschbock. Sie will beim Vater in der Kutsche sitzen. Ach, wie schön ist es! Der Gaul trabt bergab, zockelt bergauf, die Hufe klappern auf dem Pflaster. Der Landauer schuckelt, ruckelt. Nee, so ne altmodsche Scheese! Wie die wackelt, sagt die Mutter. Fritz schwingt die Peitsche, lässt sie knallen. Huhu!, schreit der Mittsechziger, als wolle er Räuber vertreiben. Wald säumt die Straße, ein Blick tut sich auf ins Tal, auf Wiesen, Felder, wieder Wald. Gehöfte am Hang:

Wohnhaus-Scheunen-Bauerngarten, das letzte Eckchen zum Anbau von Obst, Gemüse genutzt, Cosmea, Fingerhut blühen. Hinauf, hinab wechselnde Ansichten. Susanne hält die Hand des Vaters. Hopp hopp hopp, Pferdchen lauf Galopp! Nahe der Langenberger Kirche eine große, Duft nebelnde Linde. Dort halten sie.

Die Langenberger haben einen Gasthof, zu dem auch eine große Landwirtschaft gehört. Reich sind die Langenberger, zu tun gibt's immer, gefeiert wird auch. Wunderbare Tage bei den Langenbergern. Wie in Friedenszeiten!, seufzen die Erwachsenen, sind alle miteinander glücklich, Großvater Ernst, Großmutter Frieda, die Tochter Marga, der Schwiegersohn Ernst, der Sohn Fritz, die Enkelinnen Magda und Traudl, Burkard-Walter und Burkard-Gerda und Nanne, das Kind. Susannes Vater geht mit hinaus auf das Feld, die Mutter hilft in der Küche. Susanne wird der Großmutter zugeteilt. Ich bin die Hexe-kau-kau! Kichernd locke die alte Frau Susanne in den Garten. Langsam geht Susanne der Alten nach. Die greift nach einem Rechen, holt sich einen Zweig mit grünen Augustern herunter, beißt mit ihrem Kuchenzahn in einen hinein, schneidet eine Grimasse, wirft den Apfel weg. Susanne wird mutiger, folgt der Alten zurück in den Hof. Aus der Mauer fließt Wasser, sprudelt in einen Trog. Die alte Frau kichert wieder, winkt Susanne heran, krempelt die Ärmel hoch, greift ins Wasser, fischt darin herum, hebt einen zappelnden Karpfen heraus. Schon schreit aus der Küche Tante Marga, die Tochter. Mutter, wird's woll!, schreit sie, weiß, die alte Frau ist den Silvesterkarpfen wieder zu nahe gekommen. Nichts als Unsinn hat die Großmutter im Kopf! Susanne lacht. Alte Menschen schrumpfen nicht nur auf Kindergröße, auch im Kopf werden sie wie Kinder. Das Futterholen mit Fritz eine Spazierfahrt. Abends spielen die Männer Billard in der Gaststube, ein elektrisches Klavier klimpert. Traudl versteht sich auf ein richtiges Klavier, hilft dem Kantor aus, begleitet die Gemeinde sonntags beim Gesang auf der Orgel. Sie hätte Musik studieren können, sagt man, ist aber auf dem Hof geblieben. Die schönsten Tage in Susannes Leben sind die in Langenberg. Deshalb will sie Bauer werden. Die Eubener schlafen im Aprikosenzimmer. Es befindet sich in der Nähe des Bodens, wo das Obst lagert. Von dem Geruch der Aprikosen ist das ganze Zimmer getränkt. Die ganze Zeit über atmen sie den süßen Geruch ein.

 

Einstmals fiel ein riesiger Stein vom Himmel herab mitten ins Dorf. Inzwischen ist er bemoost, Gehölz umwächst ihn. Die Eltern und Susanne stehen davor, legen ihren Kopf in den Nacken, sehen in den Himmel, bekommen eine Ahnung von Unendlichkeit. Von dort irgendwo is der nu hierher gekomm, sagt der Vater staunend zur Mutter. Manche sin ganz un gar aus Eisen, wenn se hier ankomm, sagt die Mutter. Sie kennt sich in Himmelserscheinungen aus. In ihrer Kindheit hat sie oft den Sternenhimmel über sich gehabt, wenn sie über die Dörfer wanderte. Sie hat sich gefürchtet und sich an die Lichter am Himmel gehalten.

Na, Gerta, da wer ich dir mal son schön Pelz koofn, damit de was Neues hast!, sagt der Vater. Ach nee, nee, meint die Mutter. Sie will nie etwas Neues haben. Dir gefalln doch auch die Iltisse von Muddi! Der Vater sucht Unterstützung bei Susanne. Die vier Iltisse, die sich die Mutter bisweilen um den Hals schlingt, gefallen Susanne außerordentlich, wenn sie noch dazu das blaue Plauener Spitzenkleid mit dem rot schimmernden Taft darunter trägt. Na, geh mer!, sagt der Vater. Wohin? Wo will der Vater Iltisfelle kaufen? Sie laufen Dorf auswärts. Vor einer abgesperrten Wiese bleiben sie stehen. Ein Bächlein führt vorbei. Auf der Wiese Drahtgehege bis hin zum Bach. In jedem Käfig eine Hundehütte mit einem Loch. Plötzlich sieht Susanne: Viecher. Wie große Bisamratten kommen sie ihr vor, die sie vom Fluss kennt. Nutrias sind es. Die Tiere verharren still in ihrem Käfig, sind scheu, manche flitzen plötzlich hinaus, verschwinden unter Wasser. Nee, Walder, sagt die Mutter. Da will ich keen von ham! Der Vater lacht, hat die Mutter angeführt. Ich wollte doch bloß der Nanne zeichn, was es alles gibt für Tiere!

Weeßte noch, Walder? Die Mutter schaut versonnen, erzählt von der Hochzeitsreise, wie sie die Iltisse gekauft haben, was sie alles zu sehen gekriegt haben. Wo simmer überall gewesn!, sagt die Mutter. In Berchtesgadn, off der Zuchspitze! Ja bloß, dass mer uns mit der Hanni ham breitschlagn lassn!, meint der Vater.

Die Mutter empört sich. Wer macht'n so was, die Nichte auf de eichne Hochzeitsreise mitnehm. Un wie konnt se deine Nichte sein, wo se grad 'n Jahr jünger is wie du! Der Vater, der jüngste von fünf Geschwistern, hat sich gegen die älteren Schwestern nie wehren können. Und so hat man ihm zur Hochzeitsreise die gleichaltrige, raffzähnige Nichte aufgeschwatzt, die heutige von Dahlen, damit die auch mal rauskommt, was sieht. Das wird die Mutter der Hanni von Dahlen ein Leben lang nicht vergessen können, dass sie als Aufsichtsperson auf ihrer Hochzeitsreise mitgefahren ist. Wenn die Sprache auf die hochnäsige Verwandtschaft aus dem Löbn kommt, wird sie sagen: So blöd simmer gewesn, ham Hanni auf de eichne Hochzeit mitgenomm! Heute aber ärgert sie sich nicht weiter. Wie im Frieden ist es hier in Langenberg. Man hat die Hoffnung, eines Tages, mag dieser Tag noch so weit entfernt sein, wird alles wieder gut und schön. Sie werden einmal eine Reise machen. Ohne Hanni. Nur Susanne, ihr Kind, wird dabei sein.

AUFGERISSEN DER ANEMONENTEPPICH. GRÄBEN SCHAUFELT MAN HINDURCH. GESTÖRT DER FRIEDEN IM EICHENWALD VON FÜNFEICHEN. GRÄBEN DURCH DIE MULDEN LEGEN KÖPFE FREI. GEBISSE FEHLERHAFT. GEBEINE UNTER ANEMONEN, EICHEN. LOCKER DER BODEN: LAUBWALDBODEN. LAUB VERMODERT. VERERDET. VON ERDE BIST DU GENOMMEN, ZU ERDE SOLLST DU WERDEN.

Was mach ich bloß? Was mach ich bloß mit dem Balch?! Die Mutter fragt die Leute im Laden. Die lachen. Susanne gefällt es, den Leuten im Laden zuzuhören, wenn die es nicht merken. Denn ist ein Kind dabei, reden sie anders. Susanne meinte, ein gutes Versteck gefunden zu haben: den Sägespäneofen. Der Schub für die Sägespäne ist zur Reparatur herausgenommen. Sie kletterte mit dem Badeanzug hinein, hat den Deckel über sich geschlossen. Die Arme dicht am Körper, horchte sie. Bis es ihr zu langweilig wurde. Da hat sie den Deckel sacht angehoben. Das Rumoren im Ofen machte die Leute unruhig. Sie sahen, wie sich Susannes Gesicht aus dem Ofen schob; der Ofendeckel schwebte ein Stück weit über dem Ofen, von Susannes ausgestreckten Armen gehalten. Die Leute kreischten vor Vergnügen. Rosie!, schrie die Mutter, stürzte auf den Ofen zu, hievte gemeinsam mit Rosie Susanne aus der Röhre. Susanne Ruß bedeckt, schmierig. Der schöne Badeanzug: Was mach ich bloß? Was mach ich bloß mit dem Balch? Der Mutter ist ganz und gar nicht zum Lachen zumute, aber den Leuten. De Purgert-Nanne, nee, off was for Ideen die kommt, der reinste Schung! Dass die Leute sich amüsieren, bewahrt Susanne zunächst vor dem Ochsenziemer. Doch noch kann Susanne nicht aufatmen. Eine winzige Ungeschicklichkeit, die Mutter wartet nur darauf, das Strafinstrument zu holen. Spätestens am Abend, wenn niemand mehr Zeuge ist, wird Susanne ihre Prügel beziehen. Sie wünscht sich einen Fliegeralarm, solche Angst hat sie. Warum aber treibt es sie immer zu Schabernack, wenn die Prügel doch vorausberechenbar sind? Am Abend gibt es Fliegeralarm. Susannes Wunsch ist erhört. Sie flüchtet sich zur dicken Frau aus dem Rheinland, eine der Evakuierten. Seit Wochen wohnen Evakuierte in den Eubener Häusern, Leute aus Hamburg, aus dem Ruhrpott. Bei Boehm-Otto und Tante Else leben zwei Kinder von entfernt Bekannten, dreizehn- und vierzehnjährig. Jede Nacht muss Tante Else die Laken vom Horscht, dem großen Jungen, wechseln. Da haben sie es mit der dicken Frau aus dem Rheinland gut getroffen. Ruhig sitzt sie bei den Angriffen. Wie voller Verachtung für den Krieg. Ich weeß nich, was de an der findest, sagt die Mutter jedes Mal, wenn Susanne der Rheinländerin zustrebt, sich von der Mutter entfernt. Susanne weiß es: Ruhig wird sie bei dieser Frau.

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