Buch lesen: «Die Service-Public-Revolution»

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mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

© 2020 Rotpunktverlag, Zürich

www.rotpunktverlag.ch

eISBN 978-3-85869-896-4

1. Auflage 2020

Vorwort So kann es nicht weitergehen

Teil I Fassungslosigkeit. Und Hoffnung

Umweltschock, Klimaschock: Katastrophen mit Ansage

Obszöne Ungleichheiten, wegretuschiert

Ist der Mensch ein egoistisches Monster?

Trumputinismus – die nationalistische Sackgasse

Perspektive Care-Gesellschaft

Teil II Kapitalismus und Care

Wie ungleich ist die Welt?

Zu reich für den Kapitalismus

Care-Ökonomie, Care-Paradigma

Messen, was wirklich zählt

Teil III Der Allgemeinheit dienen, nichts anderem: Die Service-public-Revolution

Tun, was den Menschen dient, unterlassen, was ihnen schadet

Die Staat-Markt-Karikatur

Vielfältig, nicht einfältig

Drei Täuschungen und Irrtümer

Rückverteilen, Rückverteilen, Rückverteilen

Die Service-public-Revolution

Ein globaler Service public

Schluss Die globale Care-Gesellschaft

Der Ausbruch der Corona-Krise ist ein Ereignis, das uns nachhaltig in Erinnerung bleiben wird. In der Schweiz wird sich insbesondere das Wochenende vom Freitag, 13. März, bis Montag, 16. März 2020, ins Gedächtnis einprägen. Zu diesem Zeitpunkt ist das öffentliche Leben hier und da bereits eingeschränkt, erste Großveranstaltungen sind abgesagt; an diesem Wochenende jedoch verändert sich die Einschätzung der Lage praktisch im Stundentakt. Am Freitagnachmittag schließt die Regierung die Schulen, verbietet Veranstaltungen mit über 100 Personen, begrenzt die Anzahl Gäste in Restaurants und Bars auf 50 und beschränkt die Einreise aus Italien, wo Mitte März bereits sehr hohe Infektions- und Todeszahlen zu beklagen sind. Gleichzeitig stellt sie zehn Milliarden Franken für die wirtschaftliche Unterstützung bereit – ein Betrag, der sich binnen wenigen Tagen vervielfachen wird. Drei Tage später ruft der Bundesrat die »außerordentliche Lage« aus. Restaurants, Bars, Freizeitbetriebe werden sofort geschlossen, auch die Grenzen zu Deutschland, Frankreich und Österreich gehen zu. Vorsorglich bewilligt der Bundesrat ein Aufgebot von bis zu 8000 Soldat*innen zur Unterstützung der zivilen Bevölkerung – so viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Zum ersten Mal in der Geschichte bricht das Parlament eine laufende Session ab. Die Medienkonferenzen des Bundesrats werden allein auf YouTube am Freitag und Montag von rund 450’000 Menschen verfolgt. Fast 650’000 Leute sehen sie an den Fernsehgeräten zu Hause. Die SRF-Tagesschau vom Sonntagabend erreicht allein in der Deutschschweiz 1,5 Millionen Menschen oder sieben von zehn Fernsehzuschauer*innen. Zum Vergleich: Die erste Pressekonferenz des Bundesrats in Sachen Covid-19-Pandemie vom 26. Februar wurde im Netz gerade mal 40’000-mal angeklickt.

Schnell wirft die Krise ihr Licht auf die groteske Ungleichheit in der Welt. Länder mit schwachem Gesundheitssystem sehen sich gezwungen, drastische Maßnahmen zu ergreifen, etwa weitgehende Ausgehverbote. Ende März stehen beispielsweise in der Zentralafrikanischen Republik mit ihren gut fünf Millionen Einwohner*innen ganze drei (!) Beatmungsgeräte zur Verfügung. In vielen Ländern haben die Regierungsmaßnahmen zur Folge, dass Millionen Menschen unmittelbar in existenzielle Nöte geraten: indische Wanderarbeiter*innen genauso wie südafrikanische Hausangestellte oder amerikanische Arbeitslose ohne Krankenversicherung. Sie alle werden nicht mehr nur vom Virus bedroht, sondern ebenso vom Kollaps des wirtschaftlichen Lebens.

Im Süden Europas zeigen sich die Folgen der langjährigen Austeritätspolitik. Um die Finanzmärkte zu stützen und den Zusammenbruch weiterer Bereiche der Wirtschaft zu verhindern, verschuldeten sich die Staaten 2007/08 stark. Die anschließenden »Hilfspakete« der Europäischen Union und des Internationalen Währungsfonds zur Rettung der Banken waren an harte Kürzungsvorgaben gebunden. Allein Italien hat in den vergangenen zehn Jahren 37 Milliarden Euro im Gesundheitswesen eingespart, davon 25 Milliarden während der Laufzeit der IWF-Kredite. 359 Spitäler wurden landesweit geschlossen und 70’000 Betten abgebaut.1 Kaum besser erging es Spanien: Noch im Zeitraum vom 1. Januar bis zum 1. März 2020, also kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie, gingen im Gesundheitssektor 18’320 Arbeitsplätze verloren.2

Doch allen Widrigkeiten zum Trotz blitzt in der Corona-Krise auch Hoffnung auf, entstehen Entschlossenheit und Handlungsbereitschaft. Weltweit bringen Regierungen in Rekordzeit die größten wirtschaftlichen Stützpakete der Geschichte auf die Beine. Die Menschen reagieren mit großer Hilfsbereitschaft. In den Nachbarschaften und Quartieren entstehen solidarische Netzwerke. Allein auf der Corona-Unterstützungsplattform hilf-jetzt.ch haben sich in den ersten Wochen der Pandemie über 100’000 Personen in etwas mehr als 1000 lokalen Gruppen organisiert. Die Krise straft alle Lügen, die kollektives Handeln, positive Opferbereitschaft, Empathie und Solidarität für längst tot erklärt haben. Gleichzeitig muss die konsternierte Weltöffentlichkeit die oft grotesken Pirouetten der vermeintlich starken Männer – von Trump bis Putin, von Johnson bis Bolsonaro – mit ansehen. Was diese nationalistischen Zampanos anzubieten haben, sind sozialdarwinistische Experimente, manipulierte Statistiken und die national-egoistische Sabotage der internationalen Bemühungen um Solidarität.

Der Nationalismus führt uns in die Sackgasse. Wir brauchen eine andere Weltpolitik. Die Kooperation der gesamten Menschheit ist ultimativ gefordert. Dabei müssen wir anerkennen, dass es eine Zukunft nur gibt, wenn sie das gute Leben für alle einschließt – weltweit.

Wir legen mit diesem Buch den Vorschlag für eine Politikwende vor, der zwar in der Schweiz ansetzt, aber über sie hinausweist und Spielräume für eine positive Rolle unseres Landes in der Welt öffnet. Ein Vorschlag, der sowohl revolutionär als auch pragmatisch ist. Die Service-public-Revolution knüpft an die starke Tradition und an eine lebendige Kultur der kommunalen Selbstverwaltung an. Ebenso schafft sie die Verbindung zu den neuen Bewegungen der Klimajugend und des Feminismus, zu zivilgesellschaftlichen Initiativen und zum Engagement von NGOs. Die Service-public-Revolution soll dabei konsequent internationalistisch sein. Das ist kein kleiner Anspruch, und das ist uns bewusst. Aber für Bescheidenheit bleibt uns keine Zeit mehr. Ob Klima, Corona oder die immensen sozialen Ungleichheiten: Der Zustand der Welt verlangt entschiedenes Anpacken und nicht Zaudern und Zögern.

Den Service public ins Zentrum zu stellen, bedeutet, den Bereich unserer Gesellschaft auszubauen, der nicht der Logik der Konkurrenz und der Gewinnorientierung unterworfen ist. Das bedingt zuerst eine Stärkung der bestehenden öffentlichen Dienste im Inland, von den Infrastrukturen bis hin zur Gesundheitsversorgung. Es bedeutet gleichzeitig, Verantwortung zu übernehmen für den Ausbau eines »Global Public Service«, eines GPS – jedoch nicht für Handy-Apps, sondern für eine globale Care-Gesellschaft. Statt der systematischen Demontage der UN-Institutionen der letzten Jahrzehnte fordern wir einen Ausbau und einen neuen Aufbruch. Angesichts der Corona-Krise stehen die Weltgesundheitspolitik und eine massive Stärkung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Brennpunkt. Dafür muss die Schweiz hier und heute einstehen, zum Beispiel, indem sie ihre Finanzbeiträge an die WHO massiv erhöht. Zum Beispiel, indem sie in weltweiter Kooperation mit allen interessierten Partner*innen eine globale »Pharma fürs Volk« aufbaut, einen öffentlichen Pharma-Cluster, der dringend benötigte, von den privaten Pharmakonzernen seit Jahren vernachlässigte Medikamente entwickelt, produziert und zum Selbstkostenpreis für die ganze Welt bereitstellt. Wir kommen in Teil III dieses Buchs darauf zurück.

Zunächst jedoch schildern wir in Teil I unsere Beweggründe, dieses Buch gerade jetzt zu schreiben. Da ist einerseits die Hoffnung, die gerade in Zeiten von Krisen wie der Covid-19-Pandemie davon genährt wird, dass Menschen sich viel solidarischer zeigen, als dies gemeinhin unterstellt wird. Und da ist andererseits die Fassungslosigkeit darüber, wie die herrschenden Klassen genau diese Solidarität immer wieder ersticken. Im 20. Jahrhundert war Hoffnung auf Aufbruch, als die Weltgemeinschaft nach der Katastrophenerfahrung von Faschismus, Holocaust und Zweitem Weltkrieg innert kürzester Zeit in Form der UNO und mit Völker- und Menschenrechten ein eindrückliches Rahmenwerk geschaffen hat. Und da ist Fassungslosigkeit darüber, wie dieses Rahmenwerk insbesondere seit den Anschlägen auf das World Trade Center 2001 dem Zerfall preisgegeben wird. Da war Hoffnung und Aufbruch, als sich die Menschheit in den 1980er Jahren das Ausmaß und die Dringlichkeit der Umweltverschmutzung und der Klimaerwärmung vergegenwärtigte und entschiedenes Handeln anschob. Da ist Fassungslosigkeit darüber, wie mächtige Konzerne und Regierungen diesen Elan ins Leere haben laufen lassen und alles daransetzten, die Glaubwürdigkeit der Klimawissenschaften zu diskreditieren, statt der Klimaerhitzung Einhalt zu gebieten. So darf es nicht weitergehen. Diesmal darf der Aufbruch der neuen Klimabewegung, der feministischen Bewegung, der weltweiten Demokratiebewegungen, der Black-Lives-Matter-Bewegung nicht wieder verpuffen.

In Teil II mit dem Titel »Kapitalismus und Care« gehen wir in vier Unterkapiteln zu den Stichworten Ungleichheit, Kapitalismus, Care und wirtschaftliche Messgrößen auf Zusammenhänge ein, die uns zentral scheinen für das Verständnis unseres Vorschlags. Teil III legt schließlich im Detail dar, was wir unter der Service-public-Revolution verstehen. In diesem Teil wollen wir verständlich machen, wie – ausgehend von dem, was an öffentlichen Diensten heute besteht – neue Horizonte erschlossen und die Verhältnisse in unserer Gesellschaft dauerhaft umgebaut werden können: nachhaltig, kooperativ, gendergerecht und solidarisch.

Dieses Buch ist in der kurzen Zeit von Anfang Mai bis Anfang Juli 2020 entstanden. Es fußt auf Überlegungen, die wir – teilweise unabhängig voneinander, teilweise bereits in früheren Kontakten – entwickelt haben, je auch im regen Austausch mit unseren jeweiligen Netzwerken. Was wir hier vorlegen, ist kein umfassendes politisches Programm. Aber wir sind überzeugt, dass wir einen Schwerpunkt setzen, der gerade jetzt exakt passt. Die Service-public-Revolution ist lange noch nicht alles. Aber ohne Service-public-Revolution ist alles nichts.

Es würde uns freuen, wenn unser Vorschlag Widerrede und breite Debatten auslöst. Wir laden alle Leser*innen ein, an dieser Debatte teilzunehmen, unter anderem auf www.service-public-revolution.ch. Auf dieser Site werden wir unsere Ideen weiterentwickeln, weiter gehende Informationen zur Verfügung stellen und Raum bieten für die Diskussion.

Bücher sind immer eine Weiterentwicklung all dessen, was andere schon geschrieben und gesagt haben. Wir schätzen uns glücklich, dass wir so vielfältige Anleihen bei vielen Autor*innen machen können. Unter den jeweiligen Abschnitten in den Teilen II und III führen wir unter »Weiterlesen« Literatur an, aus der wir viele unserer Anregungen geschöpft haben und die sich zur Vertiefung eignet. Im Interesse der Lesbarkeit verzichten wir auf Detailnachweise, sofern die entsprechenden Informationen rasch und öffentlich zugänglich verifiziert werden können (mittels einer kurzen Recherche im Internet). Wenn wir zitieren, geben wir die Quelle an.

Zum Gelingen dieses Buchs haben viele Menschen auch ganz konkret beigetragen. Wir danken (in alphabetischer Reihenfolge): Andres Frick, Andreas von Gunten, Ruth Gurny, Pierre-Yves Maillard, Samira Marti, Mattea Meyer, Anja Pfenninger, Katharina Steinmann, Yann Wermuth und Pascal Zwicky herzlich für das kritische Gegenlesen und für ihre Kommentare und Hinweise. Und bei Hans Baumann und Andreas Rieger bedanken uns dafür, dass sie für dieses Buch neue Berechnungen beigesteuert haben.

Ein großes Dankeschön gilt dem Rotpunktverlag, besonders Sarah Wendle und Mia Jenni, für die kritische und solidarische Begleitung. Und wir bedanken uns ganz speziell bei all jenen Freund*innen und Familienmitgliedern, die – einmal mehr – während der Arbeit an diesem Buch auf uns verzichten mussten.

Wir befinden uns in einem Epochenbruch. Wir sind konfrontiert mit der Klimaerhitzung, mit krassen globalen Ungleichheiten und der Zunahme internationaler Spannungen, mit der Übersäuerung der Meere und dem Zerfall der Biodiversität, mit einer Krise der Grundwerte und mit einer Wirtschaft, auf der immense Schuldenberge lasten. Weil wir uns mitten in diesem Umbruch befinden, ergeht es uns wie einer Schiffsmannschaft im Sturm. Es ist schwierig vorauszusagen, wann der Höhepunkt des Unwetters erreicht sein wird, wie heftig diese oder jene Woge in Relation zur nächsten ist und wie groß die Schäden sein werden, die das Schiff davonträgt. Mit Sicherheit aber verleiht die Welle der Corona-Pandemie und die nun einsetzende Weltwirtschaftskrise dem Sturm neue Wucht.

In diesem Buch versuchen wir, längere Zeiträume zu überblicken, um die gegenwärtigen Ereignisse besser einordnen zu können. Besonders interessiert uns der Zeitraum seit dem Ende der letzten umfassenden globalen Krise, die in die beiden Weltkriege von 1914–18 und 1939–45 mündete. Nach 1945 stand die Welt vor einem gigantischen Scherbenhaufen: 60 Millionen Kriegstote, zerrüttete Gesellschaften, das Trauma des Holocaust, ein ethisch-moralischer Tiefpunkt der Menschheitsgeschichte. Damals rappelte sich die Welt neu auf und leistete einen Schwur: Niemals wieder Krieg. Und: Niemals darf es wieder so kommen, dass der Laissez-faire-Kapitalismus die Welt in einen solchen Strudel der Vernichtung reißt.

In Rekordzeit gelang es, Meilensteine der internationalen Zusammenarbeit zu errichten. Im Juni 1945 gründeten sich die Vereinten Nationen mit dem zentralen Ziel, Konflikte ohne Gewalt bewältigen zu können. Am 10. Dezember 1948 verabschiedete die UNO-Generalversammlung die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Innerhalb weniger Jahre wurden Dutzende von Organen (wie die UNICEF) und Sonderorganisationen (wie die WHO) aufgebaut, um unter dem Vorzeichen globaler Kooperation für eine Welt zu sorgen, in der alle Menschen Anrecht auf ein würdevolles Leben haben sollten.

UMWELTSCHOCK, KLIMASCHOCK: KATASTROPHEN MIT ANSAGE

Noch im Windschatten jenes Aufbruchs legen 1965 die US-amerikanischen Umweltbehörden Präsident Lyndon Johnson einen Bericht vor, in dem sie vor den Auswirkungen des menschengemachten Klimawandels warnen. 1972 veröffentlicht der Club of Rome seine berühmte Studie »Die Grenzen des Wachstums«. Der Hauptautor Dennis Meadows und seine Kolleg*innen stellen fest: Das ungebremste Wachstum der Wirtschaft wird spätestens um das Jahr 2050 zu umfassenden Katastrophen führen.

Im Juli 1976 ereignet sich in der Roche-Fabrik Icmesa im italienischen Seveso eine Chemiekatastrophe, bei der eine unbekannte Menge des hochgiftigen Dioxins freigesetzt wird. Seveso entwickelt sich rasch zu einem Fanal, weil Roche alles daransetzt, die Katastrophe zu vertuschen – und es markiert den Beginn einer langen Serie von weiteren Umweltkatastrophen: das Reaktorunglück von Harrisburg (1979), die bis heute größte Ölkatastrophe im Golf von Mexiko (1979), der Brand in einer Chemiefabrik des US-Konzerns Union Carbide Corporation (heute Dow Chemical) in der indischen Stadt Bhopal mit bis zu 25’000 Toten und 500’000 Verletzten (1984), der Brand in einem Sandoz-Lager (heute Novartis) im Industriegebiet Schweizerhalle bei Basel (1986) und, ebenfalls 1986, die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl mit einem atomaren Fallout in weiten Teilen Europas. Seit Beginn der 1980er Jahre nimmt zudem das Waldsterben rasant zu. Als Hauptverursacher wird der saure Regen identifiziert, für den Schwefel- und Stickoxide verantwortlich sind.

Durch die Welt geht ein Ruck. Schon 1974 führen einige US-Staaten eine Katalysator-Pflicht für Neuwagen ein. 1979 findet in Genf die erste UN-Klimakonferenz statt, an der die Zusammenhänge von CO2-Emissionen und Klimaerwärmung unmissverständlich festgehalten werden. 1986 erlässt die Schweiz als erstes Land in Europa die Katalysator-Pflicht für Neuwagen, andere Staaten ziehen kurz darauf nach. 1987 beschließen 198 Staaten im Rahmen des Montreal-Protokolls das Verbot von Fluorkohlenwasserstoffen, kurz FCKW, die für die wachsenden Löcher in der Ozonschicht in der höheren Atmosphäre verantwortlich sind. 1988 wird in Genf das International Panel on Climate Change, der Weltklimarat, gegründet. 1992 treffen sich 109 Regierungsvorsitzende zum UN-Umweltgipfel in Rio de Janeiro. 154 Staaten unterzeichnen im Anschluss die Weltklimakonvention. Seither haben 26 Nachfolgekonferenzen stattgefunden. An der dritten dieser Konferenzen wird das Kyoto-Protokoll verabschiedet, das 2005 in Kraft tritt und erstmals verbindliche Ziele für die Reduktion der Treibhausgasemissionen festschreibt. In Abständen von sechs Jahren aktualisiert der Weltklimarat seine sogenannten Sachstandsberichte. Mit weiteren Sonderberichten hat er zudem seine Analysen über die Jahre verfeinert und die Ergebnisse aktualisiert. Das Fazit ist so eindeutig wie bekannt: Der menschgemachte Klimawandel stellt eine existenzielle Bedrohung für die Menschheit dar.

Die umwelt- und klimapolitische Erschütterung der 1980er Jahre geht tief. Ein grundlegender ökologischer Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft liegt in Griffweite. Die großen Ölkonzerne sind besorgt und geben interne Berichte in Auftrag, die mit verblüffender Genauigkeit voraussagen, was sich seither ereignet hat und was uns noch bevorsteht. Das Management reagiert. Zusammen mit anderen Unternehmen aus dem Öl- und Kohlegeschäft und mit tatkräftiger Unterstützung der US-Administration wird die Global Climate Coalition aufgebaut. Ziel dieser Vereinigung: die Streuung von Zweifeln an den wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Klimawandel. Zusammen mit anderen Leugner*innen des Klimawandels gelingt es dieser Koalition, namhafte Teile der politischen Eliten der USA und anderswo für ihre Interessen zu kapern. Die alarmierenden Berichte hingegen lassen sie in den Schubladen der Konzernhauptsitze verschwinden.

Das Ergebnis ist bekannt. Die Anstrengungen zur Senkung der Treibhausgase erlahmen, noch bevor sie richtig haben greifen können. Von 1990 bis 2018 nimmt der weltweite CO2-Ausstoß um über 60 Prozent zu. Auch Kyoto bringt keine Wende. Seit Verabschiedung des Kyoto-Protokolls ist es nicht gelungen, die weltweiten Treibhausgasemissionen zu stabilisieren oder zu reduzieren. Wir manövrieren praktisch ungebremst in die Klimakatastrophe.

Nun ist es ja noch halbwegs nachvollziehbar, dass die Erdölkonzerne das Klimaproblem herunterspielen. Aber wie kann es sein, dass die große Mehrheit der herrschenden Klassen, der Eliten in der Wirtschaft, in den Wirtschaftsfakultäten der Universitäten, in der Politik und in den Medien eine derart desaströse Politik mittragen? Obwohl Tausende von Studien einen dringenden Kurswechsel nahelegen? Obwohl sie permanent von einem Weltklimarat gemahnt werden, der strengste wissenschaftliche Sorgfaltsregeln befolgt? Obwohl sie konfrontiert sind mit einer stetigen Zunahme von höchst realen Klimaereignissen wie dem Anstieg des Meeresspiegels, dem Abschmelzen der Polkappen und der Gletscher, dem Absterben der Korallenriffe, der Zunahme von Waldbränden? Wie um alles in der Welt ist das möglich?

Grund zur Fassungslosigkeit bietet nicht nur die offensichtliche Leugnung der Klimakrise, sondern auch die Pseudolösungen, an deren Zahl es nicht mangelt: etwa die Emissionshandelssysteme, die – glaubt man ihren Befürworter*innen – das Problem wie von Zauberhand aus der Welt schaffen müssten, in Tat und Wahrheit aber genau das Gegenteil bewirken, weil sie dazu verwendet werden, die direkten, offensichtlich wirksamen Maßnahmen zu schwächen und zu diskreditieren. Oder auch die Absicht, die fossile Automobilflotte durch eine Elektro-Automobilflotte zu ersetzen, die eigentliche Material- und Energieschlacht also weiterzuführen, obwohl es keiner allzu großen Anstrengungen bedarf, zu erkennen, dass die Probleme damit nur verlagert werden – und dass diese Politik exakt der Strategie der Autokonzerne entspricht, die die Klimapolitik nutzen wollen, um sich zusätzliche Absatzmärkte zu erschließen.

Die Krone setzen dem Ganzen jene auf, die ohne Scham den Klimawandel als unausweichlich hinnehmen und deshalb vorschlagen, jede Anstrengung zu seiner Abwendung (oder maßgebenden Milderung) fallen zu lassen. Genau das tut zum Beispiel ein Bericht der Trump-Administration aus dem Jahr 2018. Der Bericht schließt sich der Einschätzung des Weltklimarats an und rechnet mit einem globalen Temperaturanstieg von vier Grad Celsius bis 2100. Dies würde aller Wahrscheinlichkeit nach bedeuten, dass Hunderten Millionen Menschen die Lebensgrundlagen entzogen werden. Zu Recht stellt der Bericht ferner fest, dass die bis dato ergriffenen Maßnahmen nicht ausreichen, um den Klimawandel aufzuhalten. Doch daraus folgert er nun nicht etwa, dass diese Maßnahmen ausgeweitet werden müssten. Ganz im Gegenteil: Da die Maßnahmen ohnehin unzureichend seien, könne man sie auch gleich ganz fallen lassen. Der Bericht dient damit der Rechtfertigung der trumpschen Antiumweltpolitik: Die CO2-Grenzwerte für Fahrzeuge werden gelockert, die Kohleminen länger als geplant laufen gelassen, die Methan-Begrenzungen für die Öl- und Gasindustrie aufgehoben und die Verwendung von klimaschädlichen Gasen in Kühlsystemen erleichtert.3 Bei genauerem Hinsehen entspricht diese Logik übrigens exakt dem, was in der Schweiz seitens der SVP und von Teilen der FDP immer wieder moniert wird: Anstrengungen zum Klimaschutz würden sich in der kleinen Schweiz nicht lohnen, dafür sei ihr Anteil an der Klimaproblematik viel zu gering. Das ist eine Art Miniaturausgabe der Argumentation im erwähnten Bericht. Und das in einem Land, das zu den drei weltweit führenden Handelsplätzen für Rohstoffe, Erdöl, Erdgas und Kohle gehört.

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