Sandwege. Wasserwege

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Sandwege. Wasserwege
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Bärbel Gudelius

Sandwege. Wasserwege

Meditationen über eine Wanderung in Mecklenburg

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort

Flucht aus Byzanz

Ja –

Die Route, 11. Juni bis 24. Juni 1994

Impressum neobooks

Vorwort

Meditationen über eine Wanderung durch Mecklenburg

für E. und P.

Im Juni 1994 gingen drei Menschen aus dem Rheinland – zwei Frauen und ein Mann – von Schwerin aus nach Osten: 14 Tage zu Fuß bis nach Feldberg, nördlich von Berlin.

Wir waren gewohnt zu wandern, mit Rucksack über mehrere Tage, meist in Landschaften mit Wäldern, mit Bergen und Tälern, Mittelgebirge, auch Hochgebirge. Nun aber lockte uns ein Land, das wir nicht kannten, nicht kennen konnten, Mecklenburg war uns verschlossen gewesen, wir hatten keine Verwandten dort, die man besuchen konnte; eine individuelle Streckenwanderung über mehrere Tage mit ungeplanten Übernachtungen – dafür hätten wir schwerlich eine Genehmigung bekommen. Aber nun, nach der Wiedervereinigung, war es möglich, wenn auch nicht immer einfach. Es gab ein paar kleinere Strecken, die wir fahren mussten – mit dem Bus, der Bahn und dem Schiff, anders wäre der Tag zu lang und nicht zu bewältigen gewesen. Abgesehen davon sind wir gegangen, durch einige der schönsten Landschaften Norddeutschlands.

Und das war es, was uns interessierte: die Landschaft. Über die DDR, über das, was in ihr passierte oder nicht passierte, haben wir nur selten mit den Menschen gesprochen, denen wir begegneten. Das war nicht Desinteresse, sondern eher die Scheu, zu fragen und über Dinge zu reden, von denen wir nichts verstanden. Und auf gar keinen Fall wollten wir mit Vorurteilen durch dieses Land gehen – wir ließen alles auf uns zukommen.

Der Text „Sandwege. Wasserwege“ entstand unmittelbar nach unserer Heimkehr und lag 20 Jahre lang in einer Mappe. Ich habe ihn wieder hervorgeholt und nur unwesentliche Änderungen daran vorgenommen.

Der Streckenverlauf findet sich im Anhang.

November 2014

Jede Bewegung über eine ebene Fläche,

die nicht von physischer Notwendigkeit

diktiert wird, ist eine räumliche Form

der Selbstvergewisserung –

Joseph Brodsky

Flucht aus Byzanz

erfahren: mhd. ervarn, ahd. irfaran bedeutete ursprüngl. „Reisen; durchfahren, durchziehen; erreichen“, wurde aber schon früh im heutigen Sinne gebraucht als „erforschen, kennenlernen, durchmachen“. Besonders wird das zweite

Part. erfahren seit dem 15. Jh. als Adjektiv für „klug, bewandert“ gebraucht.

Dazu gehört Erfahrenheit w (15. Jh.), während Erfahrung w (mhd. ervarunge) als Verbalsubstantiv im Sinne von „Wahrnehmung, Kenntnis“ verwendet wird (mhd. auch „Durchwanderung, Erforschung“)

Soweit der DUDEN, das Herkunftswörterbuch

Dagegen der BROCKHAUS, Ausgabe 1988:

Erfahrung, Inbegriff von Erlebnissen in einem geordneten Zusammenhang, ebenso die in ihnen gegebenen Gegenstände und die durch sie erworbenen Kenntnisse und

Fähigkeiten. Der Begriff der inneren E. betont das Erlebnis, der der äußeren E. den Gegenstand, insofern er wahrgenommen wird (sinnliche E.), durch planvolles Vorgehen wiederholt wahrgenommen werden kann (experimentelle E.) oder insofern durch Kenntnis (Lernen) und Übung (Kunstfertigkeit) die Fähigkeit des Umgangs mit dem Gegenstand oder mit gleichartigen Lebenssituationen(Praxis, i.w.S. Lebens-E.) erworben wurde. Auf die Gegenstände der sinnlich wahrnehmbaren Welt (Empirie) gründet v.a. die Naturwissenschaft ihre Erkenntnis. E. setzt einerseits Beobachtung und andererseits Begriffe und Kategorien der Einordnung voraus…

… so erfahre ich etwas über das Erfahren, Definitionen also und Verweise, auch Ursprünge, die aber auf Anderes verweisen, auf das Fahren nämlich, das nicht verwechselt sein will mit dem Fahren, das wir gewöhnt sind, das kaum noch mit Erfahrung zusammen zu bringen ist, das Fahren in einem Auto schließt einen ja gänzlich aus von jeder Erfahrung -

- das Fahren in jenem mittelalterlichen Sinne hingegen, das Fahren also als Gehen, einen Weg, eine Strecke gehen, ein Fahrender zu sein, Geselle oder Scholar, oder einfach ein Wanderer, ein Pilger; diesen Weg, diese Straße gehen und dabei spüren und erfahren, wie das ist unter den Füßen, den Sohlen, wie sich das anfühlt: der weiche Waldboden, der am angenehmsten zu begehen ist; der unsichere Sand, der bei jedem Schritt wegrutscht; der harte Asphalt, auf dem einem sofort die Füße weh tun; der Feldweg, dicht zugewachsen mit hohem Gras, mit Brombeerranken, Disteln; der steinige Hohlweg mit tief eingefahrenen Wagenspuren – das Gehen also reiht Punkte aneinander, Fahrenspunkte, Erfahrungspunkte, jeder Schritt ein Punkt, und dennoch wird die Erfahrung fließend, das Abrupte der Abfahrt und der Ankunft entfällt -

- und das entspricht dieser Landschaft, einer flutenden, fließenden, strömenden Landschaft, alles Wörter, die besser passen würden auf Flüsse und hereinkommende See, Wellen der Weizenfelder, der Mohnfelder, gelbe Wellen, rote Wellen, ich gehe, das heisst, ich fahre, ich erfahre etwas, ich erfahre diese Landschaft, indem ich in ihr bin, in ihr gehe, eine der intensivsten Formen des Reisens, das Reisen überhaupt sollte ja etwas sein, womit man eine Erfahrung machen kann ––

- dabei ist die zu erfahrende Landschaft in Wahrheit nicht erfahrbar, sie ist, so oft ich durch sie hindurch- und über sie hingehe, in allen vielfältigen Erscheinungen etwas außerhalb meiner selbst, manchmal eine intensive Erfahrung von Fremdheit; oder sie ist erfahrbar auf eine besondere Weise, die ich mir versuche anzueignen, die ich mir noch aneignen muss, es hat etwas mit Erinnerung zu tun, womit ich die Dinge, die Ereignisse, die Erfahrung des Gehens in mich hineinnehme, sie mir anverwandle, sodass sie ein Teil meiner selbst werden –

- dagegen, allerdings, sträubt sich die Landschaft,

- nein, nicht die Landschaft sträubt sich, wie sollte sie, nein, es ist keine Übereinstimmung da, sie kommt nicht auf mich zu, sie kommt auf mich zu in anderer Weise als mir lieb sein kann; dies sind nicht die grünen Hügel meiner Kindheit, in deren Geborgenheit ich immer schon war, sanfte gedehnte Hügelketten, mit weiten Wäldern, immer weiter gedehnt über den Horizont hinaus; dieser Horizont ist hier anders: eine flache Dünung von Kornfeldern, von Mohnfeldern, und das Licht über den sandigen Wegen ist anders als gewohnt, sehr hell und sehr hoch, der Himmel mit diesem Licht: durchsichtig bis an die Wolken, die in mächtiger Formation vor dem Wind segeln, der weht von der nahen See her, dem Baltischen Meer, das wir aber niemals zu Gesicht bekommen, Tanggeruch, vermischt mit Salz –

- und die Stadt am Abend hatte Schimmer und Glanz, die roten Steine des Doms leuchteten, auch das Schloss mit See und Schwänen, mit Türmchen, Mäuerchen, Spitzbogenfenster, so, im Stil des 16. Jahrhunderts, konnte nur das 19. Jahrhundert bauen, es ist zum größten Teil ein Umbau, das 19. Jahrhundert hat aus diesem alten Schloss ein neugotisches gemacht; aber der Park ist älter oder vielmehr seine Bäume sind es, große alte Bäume bis zum See hinunter, der Rasen geht direkt in den See über, ohne Begrenzung, weite geschwungene Sandsteintreppen und moosige feuchte Winkel, und die bunten Bootshäuschen am gegenüberliegenden Ufer: immer ist es das andere Ufer, an dem man gerne entlang gehen möchte. In der Nacht träumte ich von der Leichtigkeit des Gehens, eine Fröhlichkeit steckte in mir, eine Freude, die noch in den Morgen hinein wirkte -

- in Wahrheit ist das Gehen mühsam, Blasen unter den Fußsohlen machen das Weiterwandern schwierig, fast unmöglich, obwohl der Körper schmerzstillende Stoffe produziert, ein geheimnisvoller chemischer Vorgang, Alchimie des Körpers, die Eigenproduktion von opiaten Stoffen, vielleicht sogar hallizugenen, beim Gehen entstehen die merkwürdigsten Gefühlszustände, der Kopf wird immer leerer, leichtes Schwindelgefühl wie nach Sekt, ein euphorischer Zustand.

Auch der Dom ist ein Körper, eine körperliche und geistige Wirklichkeit am Abend, wir waren angekommen, hatten Zimmer gesucht, waren in die Stadt gegangen, die im Abendlicht lag, und das Abendlicht lag auf den roten Steinen des Doms und wir sahen zum erstenmal dieses tiefe Rot, dieses Krapp- und Magentarot, dieses Scharlach-, Kupfer-, Korallenrot, dieses Venezianer- und Rubinrot, Himbeer-, Purpur- oder Bronzerot, Türkisch- und Tizianrot, ein Rot wie Burgunder und Tomaten, wie Möhren und Johannisbeeren, ein Rot in allen Schattierungen unter einer tiefstehenden Sonne, unter der es leuchtete, glühte wie von innen heraus, der Dom war ein mächtiger, steil aufragender Körper, ein Organismus, ein Elementarereignis aus Stein, aus tausenden von Steinen, mit der Hand gefertigt, in mittelalterlichen Brennöfen gebrannten tausenden von Steinen, aufgeschichtet zu einem mystischen Gebirge in einem Land, das keine Hausteine verwenden konnte, weil es sie nicht gab, einem Land, das aus Erde Dome machte, das aus dem Glauben Gottesburgen machte; eine Manifestation eines Glaubens und gleichzeitig von etwas, was in diesem Glauben nicht von vorneherein angelegt, sondern erst im Laufe der Geschichte hinzugelegt wurde: Ausdruck von Macht –

 

- Macht der Landesherren, Macht der Hanse, Macht des Geldes. Jene, die sie erbauten, hätten gesagt: Macht des Glaubens. Für sie war die Verbindung von Macht und Religion selbstverständlich – etwas, was uns heute unbedingt fragwürdig erscheint. Es ist eine andere Art des Glaubens, eine für uns nicht mehr nachvollziehbare; ein vorsäkularer, ein unbedingter, kompromissunfähiger Glaube, der die Ringparabel eines Lessing mit tiefem Misstrauen betrachtet und vielleicht mit einer Bücher- und Dichterverbrennung beantwortet hätte -

- es ist ein Dom ohne Skulpturen, ohne Kapitellfiguren, ohne Chimären, Teufelchen und Monster, ohne Erzählungen in Stein, ohne Engel und Wasserspeier, und vielleicht hat dieses Fehlen mit dem Material zu tun, die Form ist eine Konsequenz des Materials; sie hatten ein unfehlbares Stilgefühl, diese Baumeister und Bauherren des Mittelalters, was man von späteren Jahrhunderten nicht mehr unbedingt behaupten kann –

- und innen war alles abgesperrt, mit Verbotsschildern an den Seilen, die kein Glaubensloser, kein Tourist übertreten durfte, etwa um das ferne Altarbild besser sehen zu können, oder die dunklen leeren Seitennischen, die Chöre und Kapellenkränze, die Gläubigen mussten also geschützt werden, behütet vor den Reden, den lauten Füßen der Touristen, die hier keinen Gottesdienst besuchen, sondern nur etwas sehen wollten, das Altarbild vielleicht, den hohen und dunklen Innenraum des Mittelschiffs, das Querhaus mit seinen Seitenschiffen, das Taufbecken aus dem 14. Jahrhundert –

- aber der Küster war der preußische Herrgott persönlich, in unserer Erinnerung später wuchs er ins Riesenhafte mit einem drohend ausgestreckten Zeigefinger, streng auf jene gerichtet, die, wenn auch nur scheinbar, die Absperrungen missachteten; ein Zeigefinger wie eine Pistole, fehlte nur die Uniform, der preußische Herrgott wollte seinen Gottesdienst, wir wollten nur schauen, also störten wir, so schreiben sie uns unser Andächtigsein vor.

Wie liebe ich die süddeutschen offenen Kirchen, selbst die barocken, die überladenen, glanzvollen, diese stille, helle Heiterkeit, das selbstverständliche Knien der Menschen in den Bänken, die Hände vor dem Gesicht, stumme, intensive Zwiesprache, ganz helle Sprache Barock, dort ist jeder auf seine Weise und zu seiner Zeit andächtig, keine Vorschriften, kein preußischer Herrgott mit ausgestrecktem Zeigefinger, so verließen wir den nordischen Dom, dessen Düsterkeit plötzlich beklemmend geworden war, der Glanz war matt geworden –

- aber dem preußischen Herrgot begegneten wir am nächsten Tag und in einer anderen Stadt noch einmal, eine Wiederholung, erst in der Wiederholung beginnen die Dinge, die Ereignisse sich einzuordnen und einzuprägen, Macht zu gewinnen.

Das Gehen auf dem alten, dem altertümlichen Kopfsteinpflaster, Katzenkopfpflaster oder wie man sagt, Variation der Bezeichnung je nach Landschaft vermutlich, es klingt etwas dumpf unter unseren Wanderschuhen, so uneben, die Steine verworfen, man muss aufpassen, um nicht zu stolpern beim Blick in die Höhe – und da ist der preußische Herrgott, in der vertrauen Uniform eines Polizisten, wir stehen vor dem Polizeirevier auf der Straße, um die Wanderkarte zu studieren zur Orientierung der Richtung, in der wir die Stadt verlassen müssen, der Herrgott hebt die Hand, deutet mit ausgestrecktem Zeigefinger auf uns, hinter uns: Der Gehsteig ist dort! – wir betrachten ihn verdutzt, sind solche Hinweise und Verweise nicht gewöhnt, der Herrgott hinwiederum ist nicht gewöhnt, dass man ihm nicht gehorcht und wiederholt streng und laut, indem er mit dem Zeigefinger auf uns zielt: Dort, ja dort hinter Ihnen, der Gehsteig! –

- Erstarrung, wir erstarren, dieser Ton, Kasernenhof- und Untertanenton, wir hatten ihn für alle Zeiten für überwunden gehalten, so gerieten wir in eine momentane Lähmung, wollten diesem preußischen Allmächtigen keine Allmacht zugestehen, so standen wir verblüfft, aber auch stur auf dem verworfenen Kopfsteinpflaster oder Katzenkopfpflaster. Diese Kreaturen, diese Machtmenschen mit ein bisschen Befugnis, die sich gleich zu angemaßter Autorität aufbläht, diese Zeigefingerpistoleros; wir bedeuteten ihm freundlich, dass wir wüssten, wo der Gehsteig sei, er jedoch stand tatsächlich da mit seinem ausgestreckten Pistolenfinger und erwartete, dass wir brav auf den Gehsteig rückten.

Der Wirt am Abend zuvor war ganz verblüfft – drei rucksackbepackte Touristen aus der Landeshauptstadt zu Fuß hierher, immerhin etwa 35 Kilometer –

- bei langem Gehen entstehen die merkwürdigsten Gefühlszustände, der Kopf wird immer leerer, unter der heißen Dusche normalisiert sich das, während auf dem Flur englische Stimmen, oder waren es polnische, das Etagenbad übern Flur gegenüber unseren Zimmern, die Badezimmertür ließ sich nicht abschließen, aber, wie E. sagte, es sind immer die anderen, die Eintretenden, die sich jäh erschrecken, wenn sie beim Öffnen der Tür einen nackten Menschen –

- die Zimmertapete schien so alt wie das Haus zu sein, eine von diesen braunen, mit gelblichem oder fahlem Muster, Lilien und Tulpen, ein düsteres Gemach mit burgähnlichem Doppelbett, dem Schutzengelbild darüber, mit Waschtisch und riesigem Kleiderschrank, und das Fenster ging zum Marktplatz hin, ein stiller quadratischer Platz, mit seinen alten Bürgerhäusern und geschlossenen Fenstern, alles in leisem Verfall begriffen, eine Art Stillstand, ganz lautlos, kein Mensch zu sehen - und so wandten wir uns ab, um hinunter in die Gaststube zu gehen. Denn es gibt Spargel, ganz frisch mit dicker goldgelber Soße, am Nebentisch die Männer mit der fremden Sprache, auch hier der Blick auf den Marktplatz mit dieser eigentümlichen quadratischen Anlage, wie in so vielen Städten im Osten, im Südosten, im Erzgebirge und nahe der tschechischen Grenze, dort fielen sie mir zuerst auf, eine städtebauliche Übereinstimmung; dieses Marktplatzquadrat, das überall immer noch und gewiss seit dem Mittelalter den Mittelpunkt bildet eines jeden Ortes, ist eine geschlossene Einheit, an allen Seiten von mehr oder weniger gut erhaltenen schönen alten Häusern eingefasst, hier waren einmal die guten Adressen jedes dieser Städte und Städtchen. Jetzt sind, in diesem Ort in Mecklenburg und nicht nur hier, die Häuser in einem oft bedenklichen Zustand –

- aber an diesem Abend habe ich, nach 35 Kilometern Fußmarsch, nur Sinn für Spargel mit holländischer Soße und neuen Kartoffeln, die Gaststube ist eine typisch deutsche Gaststube, wie wir sie von anderen Wanderungen in anderen Gegenden kennen, und so fühlen wir uns doch gleich wohl und fast wie zu Hause, an der Wand der Kachelofen, alte und einfache Tische und Stühle, Bierdunst und Essensgerüche von der Küche her, und die jungen Männer am Nebentisch entpuppen sich nun doch als Engländer, bei genauerem Hinhören, oder vielmehr als englischsprachig, es ist ein sehr merkwüdiges Englisch und ich bin immer noch geneigt, es für Polnisch oder eine ähnliche östliche Sprache zu halten, vielleicht ein Englisch mit keltischem Sprachklang und –laut, so ergehen wir uns in den wildesten Vermutungen: Schottland, Wales, Irland, und haben alle drei keine Ahnung, wie die dortigen Bewohner ihr Englisch aussprechen, aber wie verblüffend ist es, hier, in dieser kleinen Stadt östlich der Elbe diese merkwürdigen Sprachlaute zu hören.

Mecklenburg war nie preußisch, im Sinne einer politischen Zugehörigkeit. Selbständiges Herzogtum bis 1918, also auch noch nach der Reichseinigung 1872, und mit einer sehr typischen, die katastrophale politische und wirtschaftliche Lage spiegelnden Besonderheit: das mecklenburgische Volk (was im ganzen Reich bis 1918 hieß: die erwachsenen Männer) wählte in freien, allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlen seine Vertreter in den Reichstag nach Berlin; seine Vertreter in den mecklenburgischen Landtag zu wählen jedoch war ihm verwehrt aufgrund der immer noch gültigen landständischen Verfassung von 1755. Wobei es diese Landstände längst nicht mehr gab, sondern nur noch einen Stand: die Adelskaste der Guts- und Rittergutsbesitzer. Mit der Einführung der lutherischen Religion als Landeskonfession im Jahre 1549 auf dem Landtag zu Sternberg – genau das Sternberg, in dem wir die Nacht nach unserem ersten Wandertag verbrachten - war der geistliche Stand, vertreten durch Bischöfe, Prälaten und Äbte, ausgeschieden; tausende von Nonnen, Mönchen und Weltgeistlichen wurden vertrieben oder flohen in katholische Länder. Als selbständige Kraft wie die katholische Geistlichkeit trat die lutherisch-protestantische Kirche nicht auf, vielmehr waren ihre Pfarrer in einem derartigen Abhängigkeitsverhältnis von den Rittergutsbesitzern, dass man gut und gern von einer etwas gehobeneren Hörigkeit sprechen kann. Der ohnehin erst im Vorfeld der Französischen Revolution auch in den deutschen Ländern in Erscheinung tretende Dritte Stand, das Bürgertum, existierte in Mecklenburg praktisch nicht, auch nicht als Macht der Städte wie anderswo, sodass man in Mecklenburg von einem Ständestaat nicht sprechen kann.

Die ursprüngliche Macht der Stände, besser: des ersten, des Adelsstandes, war ein Ergebnis der Verschwendungssucht und Unfähigkeit der regierenden Fürsten und Herzöge. Da die Fürsten bis weit in die Neuzeit hinein den Staat als Goldesel betrachteten, der ihnen die schönsten Dukaten zu scheissen habe, waren sie in den seltensten Fällen einsichtig genug, zu verstehen, warum der Segen zu irgendeinem Zeitpunkt nachließ oder ganz aufhörte: dann nämlich, wenn Missernten, Wirtschaftsdepressionen oder Kriege die Zahlungsfähigkeit der steuerzahlenden Handwerker und Bauern einschränkte oder ganz zunichte machte – die Kirche war weitgehend von dieser Last befreit; der Adel hingegen war, ein Relikt des Mittelalters, lehnspflichtig, das heisst: er zahlte nur da an den Landesherrn, wo die ursprüngliche Verpflichtung zur Heeresfolge in eine Ablösung übergegangen war. Es gab für die Fürsten einen bequemen Weg, die Finanzmisere ansatzweise zu beheben: sie machten Schulden. Das Unbequeme an Schulden ist: sie müssen zurückgezahlt werden, mit Zins und Zinseszins.

Da war jedoch ein Reichtum in der Hand der regierenden Fürsten, mit dem sich gut handeln ließ: die landesherrlichen Domänen und gewisse Rechte. Beides konnte verkauft werden. Und es gab genügend Adlige, die Grund und Boden kaufen und bezahlen konnten, sodass sich bereits im 16. und 17. Jahrhundert eine Tendenz zum bäuerlichen Großbetrieb erkennen lässt. Diesen Grundherren war vor allem daran gelegen, auch die Gerichtsbarkeit über ihre Bauern zu erhalten; diese Rechte ließen sich ebenfalls käuflich erwerben. Damit war der Gutsbesitzer zum absolutistischen Herrscher in seinem Einflussbereich geworden. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts übernahm der Adelsstand in Mecklenburg die Schulden des Herzoghauses, wofür er das Recht der dauernden Steuerbewilligung erhielt, beschlossen und besiegelt auf dem Landtag im Jahre 1549, am 20. Juni – und dieser Landtag tagte auf der Sagsdorfer Brücke bei Sternberg, jene Brücke, über die wir, von Schwerin kommend, an diesem ersten Abend todmüde und hungrig und durstig nach Sternberg hineingingen.

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