Buch lesen: «Henkersmahl»

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Bärbel Böcker

Henkersmahl

Kriminalroman

Zum Buch

QUOTENKNÜLLER Florian Halstaff, Talkshow-Redakteur, bereitet eine Sendung über unerklärliche Krankheits- und Todesfälle vor, die ganz Köln in Atem halten. Noch ist unklar, ob die Ursache Virusinfektionen oder Lebensmittelvergiftungen sind.

Während immer mehr Menschen sterben und die Polizei im Dunkeln tappt, überschlagen sich die Ereignisse: Auf dem Weg zur Arbeit erhält Florian einen dubiosen Drohanruf, kurz darauf wird die Show abgesagt – vom Unterhaltungschef des Senders höchstpersönlich. Als schließlich auch noch Florians bester Freund und Vorgesetzter auf mysteriöse Weise ums Leben kommt, wird Florian klar, dass er an dieser Geschichte dranbleiben muss. Offenbar hatte sein Freund in ein Wespennest gestochen und mächtige Lebensmittelkonzerne, geldgierige Winzer und gewissenlose Staatsdiener gegen sich aufgebracht. Aber: Wer ist schuld an den vielen Toten? Florian recherchiert und gerät selbst in Lebensgefahr.

Bärbel Böcker, geboren in der Volkswagenstadt Wolfsburg, studierte an der FU Berlin. Sie ist Sinologin, Publizistin und Germanistin. In den 80er-Jahren hielt sie sich zu Studienzwecken mehrfach in Südostasien auf. Nach ihrer Rückkehr arbeitete sie als Redaktionsmitglied für die Wirtschaftsfachzeitschrift China-Handel. Seit Mitte der 90er-Jahre ist Bärbel Böcker Mitinhaberin einer Kölner Film-, Fernseh- und Video-Produktions-GmbH. Sie lebt in Köln Rodenkirchen, wo auch die Wiege ihres Protagonisten Florian Halstaff steht. Mehr über die Autorin: www.Baerbel-Boecker.de

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Neuausgabe 2021

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung / Korrekturen: Daniela Hönig / Sven Lang, Katja Ernst

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Bildes von: © FrauEule / photocase.de

ISBN 978-3-8392-3454-9

Widmung

Für Renate

Zitat

»Was der Mensch sät, das wird er ernten«

Galater 6: 7–8

1

Dicker Zigarettenqualm schlug Peter Mallmann entgegen, als er die Wohnung in Köln Ehrenfeld betrat, die ihm selbst im Halbdunkel und fast leer geräumt noch völlig vertraut erschien. Seine Augen durchforsteten suchend den Raum, aber er konnte sie nirgends entdecken. Jemand, den er nicht kannte, hatte ihm die Tür geöffnet, war aber gleich wieder Richtung Musik entschwunden, die laut aus einem der hinteren Zimmer dröhnte.

Plötzlich sah er Vera, eine Studienkollegin, und war froh, als sie ihm eine Flasche Bier anbot. Wenigstens ein vertrautes Gesicht. Peter Mallmann verstand seltsamerweise kaum, was sie sagte, aber den Bewegungen ihres Mundes entnahm er, dass es etwas Lustiges sein musste. Beide lehnten nebeneinander an der Wand und Peter beobachtete, wie die Gäste der Party sich amüsierten. Vera sprach ununterbrochen.

Auf einmal spürte Peter Mallmann, wie ihm kalter Schweiß auf die Stirn trat. Ihre Worte wurden zu Blasen. Sie schienen ihren Mund zäh und wabernd zu verlassen, sich schillernd im Raum auszudehnen und zu zerplatzen, bevor sie ihn erreichten. Er zog seine Lederjacke aus und drückte sie ihr in die Hand. Vera sah ihn prüfend an. Fürsorglich klopfte sie ihm gegen die Schulter, aber für ihn fühlte es sich wie ein Hammerschlag an. Er musste hier weg, sofort, er brauchte dringend frische Luft. Als er sich in Bewegung setzte, schwankte er leicht und stützte sich an einer Stuhllehne ab.

Auf dem Weg ins Schlafzimmer, das einen Balkon zur Straße hinaus hatte, auf dem er und Yvonne so oft abends gemeinsam in den Nachthimmel gesehen hatten, kam er am Buffet vorbei. Er griff sich ein Stückchen Käse und hoffte, dass es ihm besser gehen würde, wenn er es aß, vielleicht würde es die Übelkeit vertreiben. Peter Mallmann kämpfte sich weiter voran durch die dichte Menge der Partygäste, und plötzlich sah er sie. Yvonne. Ihre rot gelockten Haare schwangen wild im Rhythmus der Musik, sie tanzte und schien nichts um sich herum wahrzunehmen. Ihre Bewegungen nahmen ihn gefangen, wie immer. Der Zauber wirkte noch. Er beobachtete, wie sie, einer Schlafwandlerin gleich, mit aufreizenden Bewegungen auf den Typen zutanzte, der ihm die Tür geöffnet hatte.

Peter Mallmann konnte den Blick nicht abwenden. Eine ungeheuere Welle der Wut kroch in ihm hoch und drohte ihn zu überrollen. Ein Ton verließ seine Kehle, der nicht ihm zu gehören schien. Sekunden später sah er, dass der Fremde wie eine Marionette zu Boden ging. Seine Schläfe war blutverschmiert.

Irgendjemand brüllte Peter an: »Sag mal, spinnst du?«

Eine andere Stimme drang an sein Ohr: »Der ist ja stockbesoffen.«

Peter sah, dass die Flasche, die er eben in der Hand gehalten hatte, zerschmettert in einer Pfütze aus Bier und Blut am Boden lag. Hatte er sie geworfen? Der Fremde rappelte sich auf, kam hoch und ging mit beiden Fäusten auf ihn los. Peter war unfähig, sich vom Fleck zu rühren. Er hörte ein Knacken, dann spürte er, wie etwas Warmes aus seiner Nase rann. Das Gesicht des anderen, das er zuvor nur verschwommen wahrgenommen hatte, nahm nun Konturen an, großflächig und eckig verzerrte es vor seinen Augen zu einer Fratze. Peter schlug zurück. Er traf den Fremden mit voller Wucht am Unterkiefer. Der andere taumelte, griff sich den abgebrochenen Flaschenhals vom Boden und versuchte, ihn Peter gegen die Schläfe zu rammen, aber Peter konnte sich gerade noch rechtzeitig abwenden, und die Scherbe streifte ihn nur.

Eine Frauenstimme schrie: »Hört auf. Hört sofort auf damit!«

Die Stimme gehörte Yvonne. Unter Tausenden von Stimmen hätte er sie erkannt. Peter hielt in seiner Bewegung inne und drehte sich langsam zu ihr um. In Zeitlupe sah er, wie sie auf ihn zu kam. Täuschte er sich, oder war da ein warmer Schimmer in ihrem Blick? Er wollte ihr sagen, dass er sie immer noch liebte, aber seine Stimme gehorchte ihm nicht. Seine Knie knickten ein und er spürte, wie er langsam zu Boden sackte. Dann wurde es dunkel um ihn herum. Ein seltsamer Gedanke ging ihm durch den Kopf: Woher weiß ich eigentlich, dass ich jetzt sterben werde?

2

Florian Halstaff hasste Kaschmirmäntel, den rheinischen Sauerbraten seiner Mutter und Kontrolle in jeder Form. Das war immer schon so gewesen, solange er denken konnte. Bereits als kleiner Junge hatte er es nicht ausstehen können, wenn Anna, die nach wie vor in der am Rheinufer gelegenen Rodenkirchener Villa seiner Mutter als Haushälterin beschäftigt war, mit festem Schritt die Stufen der Holztreppe nahm, um dann die Tür zu seinem Zimmer aufzureißen und sich streng nach dem Stand der Hausaufgaben zu erkundigen. Sie hielt es nie für nötig anzuklopfen, und kaum war sie im Raum, hatte sie auch schon sein Heft in ihrer kleinen, fordernden Hand. Ärger gab es vor allem, wenn die Seiten noch blütenweiß waren. Anstatt seine Arbeit zu erledigen, hatte Florian sich mit Comics, später mit dem Playboy vergnügt. Umso mehr fühlte er sich gestört, wenn Anna ihn in solchen Momenten gnadenlos in die Wirklichkeit zurückholte. Bis heute, und Florian war mittlerweile 36 Jahre alt, stieg in ihm ein Gefühl des Grolls auf, wenn ihn jemand unvermittelt aus seinen Gedanken riss oder gar kontrollieren wollte.

»Die Fahrkarten, bitte.«

Die Stimme des Mannes, der sich schwerfällig durch den mit Menschen verstopften Gang der Bahnlinie 15 bewegte, ließ Florian innerlich fluchen. Kontrolleure waren eine Spezies von Mensch, die ihm Gänsehaut verursachten. Erst recht an einem Montagmorgen. Außerdem hatte er sich bereits darauf eingestellt, einen ungestörten Blick in die Zeitung werfen zu können, bevor er an der Haltestelle Christophstraße in der Kölner Innenstadt aussteigen musste. Daraus würde nun nichts werden, denn der Kontrolleur würde jeden Moment vor ihm stehen und seinen Fahrschein verlangen. Trotzdem schlug Florian rasch die Zeitung auf, die Schlagzeile Mysteriöse Erkrankung – bereits 30 Fälle in Köln, hatte ihn neugierig gemacht. In dem dazugehörigen Artikel hieß es, dass es immer noch keine Erklärung für die Serie von Krankheitsfällen gäbe, die Köln seit zwei Wochen in Atem hielten – und ihn selbst auch.

Florian blickte auf. Er dachte an die Recherchen in seiner Talkshow-Redaktion, die auf Hochtouren liefen. Er und seine Kollegen wussten bislang nicht viel, planten aber morgen eine Sendung zum Thema und er konnte sich nach wie vor nicht vorstellen, wie sie überhaupt aussehen sollte.

Mit halbem Auge registrierte er, wie der Kontrolleur näher kam und dachte daran, dass er unbedingt zwei von der Krankheit betroffene Talkgäste finden musste, die bereit waren, ins Studio zu kommen. Alle Opfer hatten heftigen Schwindel verspürt, fünf von ihnen waren sogar ins Koma gefallen. Die Behörden tappten im Dunkeln. Niemand wusste, wodurch die Symptome ausgelöst wurden, aber langsam machte sich Panik in der Bevölkerung breit.

Florian Halstaff richtete seine Beine schräg Richtung Gang aus, um es ein wenig komfortabler zu haben. Mit einer Größe von knapp zwei Metern war er für jede Möglichkeit, einen Zentimeter mehr Raum zu ergattern, dankbar. Außerdem saß der Bund seiner schwarzen Jeans auf diese Weise etwas lockerer und schnitt nicht mehr so tief ins Fleisch.

Die metallisch klingenden Fahrgeräusche, die beim Drosseln der Geschwindigkeit entstehen, wurden übertönt von der Stimme des Kontrolleurs, der immer weiter in Florians Nähe rückte. Gerade herrschte er einen verlebt aussehenden Mittvierziger an, der letzte Nacht offensichtlich zu wenig Schlaf bekommen hatte, denn dunkle Ringe zeichneten sich unter seinen Augen ab.

»Nun mal her mit dem Fahrschein.« Der Kontrolleur, ein untersetzter Mann mit Halbglatze, stellte sich dem Fahrgast breitbeinig in den Weg.

Florian hob unwillkürlich den Kopf. Er sah, wie sich die Gesichtszüge des Mittvierzigers anspannten und wie seine Augen die des Kontrolleurs suchten. Zwei Sekunden hielt er ihrem Blick stand, dann schlug er seine Augen nieder und reichte dem Kontrolleur wortlos das Ticket, das er bereits in der Hand gehalten hatte.

Merkwürdig, dachte Florian und lehnte sich wieder in den Sitz zurück, dass sich so viele Menschen jeder Form von Autorität, ganz gleich, wie gering sie auch sein mag, unterordnen und bereit sind, selbst Schikanen widerspruchslos hinzunehmen. Ihm ging das Bild eines auf dem Boden liegenden Hundes durch den Kopf, der seinem überlegenen Feind die Kehle hinhielt. Florian schüttelte sich unwillkürlich. Die Bahn ruckte und verlangsamte die Geschwindigkeit. Eine freundliche Frauenstimme aus dem Lautsprecher tönte melodisch durch das Abteil. »Nächster Halt – Barbarossaplatz.«

Florian schloss den obersten Knopf seines hellen Trenchcoats und schlug den Kragen hoch. Eine weitere Station konnte er sitzen bleiben, aber schon gleich würde er im Strom unzähliger Menschen treiben, die wie er auf ihrem Weg zur Arbeit durch Bahnstationen hasteten, um den nächsten Zug nicht zu verpassen und pünktlich zur Arbeit zu kommen.

Das Klingeln seines Handys riss ihn aus seinen Gedanken.

Er sah auf das Display, aber es zeigte ihm keine Nummer an, sodass er nicht wusste, wer zu so früher Stunde schon etwas von ihm wollte. Florian drückte auf den grünen Knopf und meldete sich, unwirsch leicht die Stimme hebend.

Jemand, den er kaum verstand, fragte nach: »Florian Halstaff?«

»Ja. Florian Halstaff.« Seiner Stimme war anzumerken, dass er genervt war.

»Ich möchte ihnen einen guten Rat geben.«

Florian war nahe dran, das Gespräch direkt zu beenden, denn auf Spinner jeglicher Art konnte er am frühen Morgen gut verzichten. Verärgert fragte er nach: »Mit wem spreche ich?«

»Das spielt keine Rolle. Ich sage Ihnen nur eins, suchen Sie sich für die nächste Sendung ein anderes Thema.«

»Wie bitte? Was wollen Sie?« Florian richtete sich abrupt auf. Er fluchte innerlich und presste das Handy dicht an sein Ohr, aber der Lärm um ihn herum ließ nicht nach, und er konnte den Mann nur schlecht verstehen.

»Keine Talkshow über die Erkrankungen, habe ich gesagt. Verstanden?«

»Und warum nicht, wenn ich fragen darf?«

»Weil Sie sich sonst anstecken könnten, und das läuft nicht immer so glimpflich ab wie bei den anderen.«

Florian war verblüfft, doch bevor er etwas erwidern konnte, machte es klack. Der Anrufer hatte aufgelegt. Er runzelte die Stirn. Die Stimme hatte ziemlich jung geklungen. Er überlegte, ob er sie irgendwann schon einmal gehört hatte, aber seine grauen Zellen gaben ihm keinerlei Rückmeldung. Florian atmete tief durch und ignorierte das alarmierende Gefühl in seinem Bauch, das sich langsam zum Magen hin ausbreitete, und beruhigte sich mit dem Gedanken, dass der Anrufer wahrscheinlich irgendein Verrückter oder ein besonders witziger Kollege aus dem Showumfeld gewesen war. Florian seufzte. Es gab einfach zu viele Idioten auf der Welt. Er wischte den Gedanken an den Anrufer beiseite und sah wieder aus dem Fenster.

Eigentlich war es heute viel zu früh für ihn. Die Flasche Rotwein, die er gestern Abend genüsslich geleert hatte, trug vermutlich auch dazu bei, dass er nur schwer wach wurde. Florian lehnte sich zurück und schloss die Augen. Normalerweise fuhr er eine Stunde später ins Büro, die Redaktion begann in der Regel nicht vor halb zehn mit der Arbeit. Er hoffte, in Anbetracht der frühen Stunde und des seltsamen Anrufs wenigstens dem Kontrolleur zu entgehen. Der Zug würde jeden Moment in den Bahnhof Christoph­straße einfahren, doch er hatte Pech. Der Kontrolleur baute sich vor ihm auf und streckte fordernd die Hand aus. Zunächst zögerte Florian einen Augenblick, insbesondere, weil der Mann ihn nun anherrschte: »Mal ’n bisschen hoppla, ja?«

Er spürte, wie Ärger in ihm aufstieg, und war schlagartig hellwach. Zur vollen Länge aufgerichtet fixierte er den Mann und behielt die Karte fest in der Hand.

»Irgendwelche Probleme?«, fragte der Kontrolleur bissig.

»Ja.« Florian ließ sich kurz Zeit, bevor er weiter sprach. »Mit Menschen, die sich wie Sie auf verdammt widerliche Art aufspielen.«

Eine tiefe Röte breitete sich im grobschlächtigen Gesicht des Kontrolleurs aus, und an seiner linken Schläfe schwoll eine Ader gefährlich an. »Ich mache hier meinen Job, sonst nichts.« Der harsche Tonfall stand allerdings im Gegensatz zur nervösen Handbewegung, mit der er sich über die Glatze fuhr.

Die Bremsen der Bahn quietschten, und Florian musste aufpassen, dass er nicht das Gleichgewicht verlor. Er hielt sich an der nächst besten Stange fest. In diesem Moment kam der Zug zum Stehen. Florian riss dem Kontrolleur das Ticket aus der Hand und fasste den Mann, den er um anderthalb Köpfe überragte, fest am Kragen. Er zog ihn zu sich heran. »Demnächst erledigen Sie Ihren Job aber bitte mit etwas mehr Respekt!« Ohne sich noch einmal umzublicken, machte er einen großen Sprung durch die Tür und landete sicher auf dem Bahnsteig.

3

In der Redaktion, die ihre Räume in einem Altbau am Hansaring in unmittelbarer Nähe des Mediaparks hatte, ging es trotz der frühen Stunde – es war erst kurz nach halb neun – bereits hektisch zu.

Obwohl der Mediapark, errichtet auf dem Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs Gereon, als themenbezogener Stadtteil in der Medienbranche eine gute Adresse war, hatte Florians Chefin der Verlockung, in eines der modernen Hochhäuser umzusiedeln, widerstanden und war ihrem alten Büro am Hansaring mit dem Fischgrätparkett, den Stuckdecken und den großen Flügeltüren treu geblieben. Florian liebte Regine Liebermann dafür. Er fand es zwar schön, hin und wieder in der Mittagspause durch den Mediapark zu spazieren und sich ein wenig wie in Klein-Manhattan zu fühlen, wenn er auf den fast 150 Meter hohen Köln-Turm blickte, der den Dom und das Kölner Städtepanorama widerspiegelte, aber richtig wohl fühlte er sich grundsätzlich nur, wenn er von älteren Mauern umgeben war. Die Jahrzehnte, die die alten Gebäude auf dem Buckel hatten, verströmten eine ganz andere Aura, und diese zog er eindeutig der Kühle moderner Architektur vor. Inzwischen hatten sich im Mediapark mehr als 250 Medien- und Dienstleistungsunternehmen angesiedelt, und wenn große Leinwandstars zu ihren Filmpremieren einflogen und abends vor dem Cinedom im Scheinwerferlicht über den roten Teppich schwebten, stellte sich sogar etwas Hollywood-Glamour ein, was ihn jedoch nicht wesentlich beeindruckte.

Jetzt, da er die altehrwürdigen Büroräume von Profi Entertainment betrat, fühlte er sich sofort wie zu Hause. Sein Blick fiel auf die Garderobe, es war kein Bügel mehr frei. Rasch schlüpfte er aus dem Trenchcoat, stülpte ihn achtlos über eine grüne Wildlederjacke, die so teuer aussah, dass sie nur seiner Chefin gehören konnte, nahm die Zeitung aus der Manteltasche und ging mit schnellen Schritten zur Küche. Dabei bemerkte er ein neues Foto, das neben den zehn glasgerahmten an die Wand gehängt war. Allesamt zeigten sie Jörn Carlo inmitten von prominenten Talkgästen. Auf dem neuen Foto war der Moderator mit dem Oberbürgermeister und einer stadtbekannten Kabarettistin zu sehen. Carlo starrte mit gerecktem Hals gebannt in ihr tiefes Dekolleté.

Das ist wieder mal ganz und gar typisch für ihn, dachte Florian, gib ihm attraktive Frauen mit dicken Möpsen und Carlo ist zufrieden. Er gab dem Bild nicht mehr als einen halben Tag.

Florian riss sich von dem Foto los und hastete weiter. In den meisten Büros wurde schon gearbeitet. Telefone klingelten, Stimmengewirr drang an sein Ohr. Aber er brauchte erst mal einen Kaffee, bevor er anfangen konnte. Meistens wurde der Kaffee von Theo gekocht, dem Praktikanten, und Florian hoffte, dass noch eine Tasse für ihn übrig war. Von den Kollegen hielt es im Prinzip nie jemand für nötig, Kaffee aufzusetzen. Sie bedienten sich zwar gern, doch den Rest sollte Theo erledigen. Die Redakteurinnen und vor allem die Redakteure hatten eben Wichtigeres zu tun.

Als er die Küchentür öffnete, sah er zuallererst Jana. Er hatte bisher nicht oft mit ihr gesprochen, aber immer, wenn er ihr begegnete, war er überrascht darüber, wie gepflegt sie aussah. Florian fragte sich, ob dieser Eindruck vielleicht einzig ihrem Ultra-Kurzhaarschnitt zuzuschreiben war, der perfekt zu ihren klaren Gesichtszügen passte und besonders ihre schmale Nase und den breiten, dabei gut proportionierten Mund zur Geltung brachte. An ihrer Kleidung allein konnte es jedenfalls nicht liegen, denn es kam ebenso vor, dass sie derbe Stiefel zu ausgewaschenen Jeans und einem weiten Rollkragenpullover trug wie ein klassisch geschnittenes Kleid aus Rohseide. Heute hatte sie sich für die Jeans-Variante entschieden. Sie lehnte lässig an der Arbeitsplatte der Einbauküche. Florian bemerkte, dass sie sich langsam mit der linken Hand über ihr kurzes dunkelbraunes Haar strich.

Sie sagte: »Die Zeit ist ziemlich knapp, Max, und ich bin nicht sicher, ob ich das für dich machen kann. Wenn es auffliegt, werde ich Probleme bekommen.«

Max, Redaktionsleiter und damit sein direkter Vorgesetzter, antwortete grinsend: »Wie ich dich kenne, wirst du so geschickt vorgehen, dass niemand auch nur das Geringste merkt.«

Jana drehte den Becher zwischen ihren Händen. »Ich werde darüber nachdenken.« Sie sah von Max zu Florian und begrüßte ihn lächelnd: »Hi, auch schon wach?«

»Nicht wirklich.« Florian warf seine Zeitung auf den Tisch zu dem Stapel anderer Zeitungen, griff in das Regal neben Max und angelte sich eine Tasse. Obwohl der Frühling bereits in der Luft lag, war es morgens ziemlich frisch. Das heiße Getränk tat ihm gut. Er stellte sich neben Jana und sah Max, der immer noch schwieg, fragend an: »Störe ich?«

»Nein, ist schon in Ordnung«, antwortete Max. Er fühlte sich dazu animiert, eine Erklärung abzugeben. »Wir haben uns gerade Gedanken über die morgige Sendung gemacht.«

»Und was hat Jana damit zu tun? Soll sie uns eine neue Datenbank aufbauen?«

»Nein. Es geht um etwas ganz anderes«, sagte Jana und wandte sich wieder an Max: »Sag mal, wie ist denn überhaupt der Stand bei diesem mysteriösen Krankheitsthema?«

Florian fragte sich, was hier eigentlich vorging. Wahrscheinlich hatte Max die Kollegin am Wickel, um sie in letzter Minute noch in eine Aktion einzuspannen, von der er sich erhoffte, Weiteres über die Erkrankungen zu erfahren. Wenn Max an einem Thema dran war, ließ er nicht locker.

Florian kannte Max von Kindesbeinen an, sie waren befreundet, und inzwischen arbeiteten sie zusammen, bereits seit über einem Jahr. Max’ Ideenreichtum bei der Recherche und der Biss, mit dem er Sendungen vorbereitete, imponierten ihm. Dass die Chefin Max vor drei Monaten zum Redaktionsleiter befördert hatte, konnte er gut nachvollziehen.

Jetzt sagte Max, dessen struppiges blondes Haar noch feucht war von der morgendlichen Dusche, zu Jana: »Knapp 30 Personen hat es bislang erwischt. Fünf waren bereits bewusstlos, als sie ins Krankenhaus kamen. Angehörige oder Freunde haben sie gefunden. Derzeit versuchen Forscher vom Paul-Ehrlich- und Robert-Koch-Institut herauszufinden, ob es sich um eine epidemieartige Virusinfektion oder um eine Nahrungsmittelvergiftung handelt.«

Florian dachte laut nach: »Wer weiß, wann es den ersten Todesfall gibt. Die Betroffenen haben Glück gehabt, dass sie rechtzeitig ins Krankenhaus gekommen sind.«

»Wer allein ist und bewusstlos wird, hat vermutlich schlechte Karten«, sagte Jana trocken.

»Ja, das sehe ich auch so. Ich war im Krankenhaus und habe versucht, aus den Ärzten was rauszukriegen, aber ich hatte keine Chance. Angeblich gibt es bislang keine Erkenntnisse.« Über Max’ Gesicht flog ein Schatten, und er fügte hinzu: »Es gibt also weiterhin keine konkreten Anhaltspunkte, über die wir in der Sendung reden können. Das wird weder den Unterhaltungschef noch Carlo besonders freuen. Immerhin muss er eine Stunde lang etwas zu reden haben. Ich verfolge zwar mehrere Hinweise, aber das ist alles nach wie vor nicht spruchreif.« Er wandte sich an Florian. »Weißt du inzwischen etwas Konkretes?«

»Nein, nichts. Aber ich habe in der Bahn einen seltsamen Anruf bekommen.«

»Du auch?« Max’ Augen weiteten sich.

»Irgend so ein Durchgeknallter, der mich davor gewarnt hat, die Sendung zu machen.«

»Mich hat jemand angerufen, als ich am Frühstückstisch saß. Vielleicht war es derselbe. Meinte, wenn wir mit dem Thema auf Sendung gingen, würde mir das schlecht bekommen.«

»Und, kam dir die Stimme bekannt vor?« Florian sah Max gespannt an.

»Bin nicht ganz sicher, glaube aber nicht.«

»Mir sagte sie auch nichts.«

»Woher hatte der eigentlich unsere Telefonnummern?«

»Was weiß ich.« Max zuckte mit den Schultern und sprach weiter: »Schließlich ist es nicht schwierig, die Nummern herauszubekommen. Ein Anruf im Sekretariat und schon hat er sie.«

»Aber er muss gewusst haben, dass wir die Sendung vorbereiten.«

»Na und? Auch kein Problem. Vielleicht kommt er aus dem privaten Umfeld eines unserer Kollegen, oder er ist vom Sender. So eine Show ist schließlich kein Geheimnis.«

Jana hatte aufmerksam zugehört. Halb ernst, halb ironisch sagte sie nun: »Da kann einem ja richtig mulmig werden.«

Sie trat von einem Bein auf das andere und fügte lachend hinzu: »Glücklicherweise bin ich nur eine kleine EDV-Maus und damit außerhalb der Gefahrenzone.«

Florian und Max lachten nun auch.

»Na, warte es ab«, sagte Florian und grinste.

»Vielleicht sollten wir bei Regine eine Gefahrenzulage einfordern«, scherzte Max und fuhr fort: »Aber nun mal im Ernst. Entweder gibt es wirklich einen Zusammenhang zwischen dem Anrufer und den Erkrankungen, dann hören wir noch von ihm, oder er ist einfach nur ein Spinner. Für den Moment vergessen wir ihn am besten.«

»Vermutlich hast du recht.« Florian wandte sich gedanklich wieder den Erkrankungen zu. »Ich frage mich, ob die Mediziner wirklich nichts wissen.«

»Bestimmt gibt es inzwischen Hinweise, denen sie nachgehen. Aber solange die nicht gesichert sind, wird auch nichts der Öffentlichkeit mitgeteilt«, sagte Max und ergänzte resigniert: »Das kennen wir doch.«

Florian schwieg. Er goss sich Kaffee nach. Ein leichter Hauch von Parfum, mit einer Spur Sandelholz und Blütenessenzen versetzt, die er nicht einordnen konnte, stieg ihm trotz des bitteren Kaffeegeruchs in die Nase. Er überlegte. Es könnte eine Spur Bergamotte in ihrem Parfum enthalten sein, und vielleicht auch etwas Jasmin oder Veilchen. Florian war sich nicht sicher, aber es roch angenehm.

»Und, wie steht es mit den Talkgästen, alles im Griff?«, fragte Max.

»Ich bin noch dran, aber heute Nachmittag werde ich dir hoffentlich eine Traumbesetzung präsentieren können.«

Max bedachte Florian mit einem zweifelndem Blick. »Halt dich ran, wir brauchen wenigstens gute Leute, wenn wir schon kaum Fakten haben.« Er senkte die Stimme. »Möglicherweise hält das Gesundheitsamt bewusst Informationen zurück.«

»Warum sollten sie das tun?« Florian musterte ihn interessiert.

»Um keine Panik in der Bevölkerung auszulösen.« Max sah Florian ernst an. »Täglich steigt die Zahl der Erkrankungen. Wer weiß, wie viele es heute erwischt.«

Florian schwieg, ihm war unbehaglich zumute. Er war sich aber sicher, dass es nicht Wenige sein würden. Vielleicht schlürften sie gerade ebenso ahnungslos ihren Kaffee wie er. Auch er konnte theoretisch vergiftet sein. Oder sie atmeten ahnungslos die Luft, die den Virus bereits in sich trug.

Max seufzte und wandte sich an Jana: »Umso wichtiger ist es, dass wir für die Sendung etwas in Erfahrung bringen. Ich brauche die allerletzten Neuigkeiten aus der Uni-Klinik. Wenn du es schaffst, vor der Redaktionskonferenz. Die Situation ist ernst.«

»Liegen dir diese Informationen nicht längst vor?«, fragte Jana erstaunt.

»Im Prinzip ja, aber ich weiß garantiert noch nicht alles.«

»Was brauchst du konkret?«

»Namen und Anschriften der Opfer. Symptome bei Einlieferung, egal wo, Ergebnisse der Blutuntersuchungen und Analyse der Mageninhalte, sofern vorhanden. Ergebnisse der virologischen Forschung, was immer du an Daten kriegen kannst«, sagte Max.

Jana sah mit einem skeptischen Blick zu Florian, aber Max beruhigte sie mit den Worten: »Ist schon o. k. Florian wird es für sich behalten, dass du für uns in fremden Netzen surfst.«

Er lächelte Jana betont aufmunternd zu und klopfte Florian lässig auf die Schulter. Der trat unwillkürlich einen Schritt zurück und dachte, dass sich sein Freund erstaunlich gut mit Jana verstand. Wahrscheinlich hatte er sie längst angebaggert.

Jana sah zu Max. »Dein Wort in Gottes Ohr.«

Bereits halb aus der Tür fügte sie hinzu: »Also gut. Ich werde mir Mühe geben.«

Nachdem Jana den Raum verlassen hatte, ging Max zum Fenster und blickte hinaus. Sinnierend sagte er zu Florian: »Wer weiß, was die Leute gegessen und getrunken haben, bevor sie ins Krankenhaus gekommen sind?«

Florian zog einen Menüvorschlag seines italienischen Lieblingsrestaurants Alfredo, das ganz in der Nähe des WDR lag, aus der Tasche und las vor: »Variation von gebratenen Jakobsmuscheln und Langostinos auf Löwenzahnsalat, Gemüserisotto mit gegrillten Calamari, geschmorter Seewolf mit gestoßenem Koriander und zum Dessert weißer Pfirsich auf Muskatzabaione mit Pistazieneis.« Er sah Max grinsend an. »Na, das haben die, die jetzt flach liegen, hoffentlich nicht gegessen, denn ich habe vor, es mir am Wochenende einzuverleiben. Komm doch mit, ich lade dich ein.«

Max überlegte einen Moment. »Danke. So lecker das klingt, ich koche ab sofort nur noch selbst.«

»Du und selbst kochen?« Florian musste so heftig lachen, dass er einen Hustenanfall bekam.

»Jawohl, und du bist mein Gast.«

»Und was gibt’s? Hartgekochte Eier?«, stieß Florian hervor.

»In meinem unerschöpflichen Kochbuchfundus lässt sich bestimmt eine Kleinigkeit finden, die Gnade vor deinem Gourmetgaumen findet.« Max’ Stimme klang säuerlich.

Florian schnäuzte sich. Er war heute in wagemutiger Stimmung, das hatte er sich bereits in der Bahn bewiesen, und so sagte er: »Ich bin gespannt. Dann lass dir mal was einfallen.«

»Donnerstag?«

»O. k.« Florian machte eine kurze Pause: »Geht’s auch kalorienreduziert?«

»Hör mal, wenn du darüber nachdenkst, bei Alfredo essen zu gehen, brauchst du bei mir erst recht nicht mit einer Diät anzufangen.« Max’ Blick fiel auf den Bauch seines Freundes, und er grinste: »So schlimm ist es doch nun auch wieder nicht.«

Er nahm den auf dem Küchentisch liegenden Stapel Zeitungen auf den Arm und wurde ernst: »Aber zurück zum Thema. Viele Menschen denken tatsächlich so. Gegessen wird nur, was man selbst auf den Tisch gebracht hat und was aus vertrauenswürdiger Quelle stammt.«

»Jedenfalls solange nicht ausgeschlossen werden kann, dass es sich um verseuchte Nahrungsmittel handelt. Dabei meint man immer, die Menschen dürften nach BSE, Würmern im Fisch, verseuchten Futtermitteln und Gift in Fritten doch nicht mehr so empfindlich sein.«

»Mag sein. Wahrscheinlich ist den meisten nach all den Skandalen irgendwann sowieso egal, was sie essen«, überlegte Max und schlürfte seinen Kaffee.

Florians Blick fiel erneut auf Alfredos Menü und ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Nachdem er seit zwei Wochen keine Zigarette mehr angefasst hatte, entwickelte er daraufhin einen sehr gesunden Appetit. Er spürte jetzt, wie das Hungergefühl in ihm aufstieg, denn er hatte heute nicht einmal gefrühstückt. Nach dem Gang auf die Waage, den er zwei Wochen lang erfolgreich vermieden hatte, war der Schock auf nüchternen Magen umso heftiger gewesen. Das Display hatte 108 Kilo angezeigt. Als sich die Ziffern auch beim erneuten Wiegen nicht veränderten, hatte er seinen Kühlschrank konsequent ignoriert. Er hatte sogar der Versuchung widerstanden, ein Glas Milch zu trinken. Florian nahm sich fest vor, heute Abend die fettarme Variante zu besorgen, möglichst aus dem Reformhaus oder aus dem Bioladen. Auf seinen heiß geliebten Latte macchiato zum Frühstück wollte er auch in Zukunft nicht verzichten. Aber weitere Überlegungen zu diesem Thema hatten Zeit bis heute Abend. Florian zögerte kurz, entschloss sich dann aber, Max doch zu fragen: »Woher hat Jana soviel Ahnung von EDV, dass sie dir Informationen aus fremden Netzen beschaffen kann?«

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