Der blaue Vorhang

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»Ich habe ihr geschildert, wie originell und großartig Sie sind, Isadora. Und sie vertraut meinem Urteil. Ein Pianist ist vorhanden, er spielt, was Sie brauchen. Und lässt fragen, ob Sie auch zu Debussy tanzen würden?«

»Ich fürchte, für eine neue Komposition müsste ich erst längere Zeit proben. Aber sagen Sie mir doch, lieber Jacques, werde ich die Gäste Ihrer Frau Mutter zufriedenstellen? Sie wissen ja wohl, was das für Leute sind und können sie einschätzen. Es gibt immer noch Personen von Stand, die es ungebührlich finden, wenn eine Frau barfuß tanzt. Zu schweigen von meiner kurzen Tunika …«

Beaugnies lachte. »Es kann durchaus sein, dass einige der Habitués von gestern sind und sich empören, insbesondere deren Gattinnen. Ich garantiere für nichts. Aber bitte, Isadora, Sie wollen die Revolution in und mit Ihrer Bewegungskunst, dann müssen Sie auch riskieren, dass man Sie verhaftet.«

Mrs Duncan machte große Augen, aber Jacques beschwichtigte sie. »Kommen Sie doch auch mit, verehrte Mrs Duncan, und Sie werden sehen, dass Ihre Tochter einen Triumph feiert.«

Und so geschah es. Isadora wurde als die umwerfendste Erscheinung seit Delacroix’ Marianne apostrophiert. Der Maler Eugène Carrière nannte sie ein Wunder, auf das die Welt gewartet habe, er schrieb über sie: »Sie denkt an die Griechen und gehorcht ihrem inneren Selbst.« Der Dramatiker Victorien Sardou schloss sie in die Arme und flüsterte: »Nehmen Sie sich in Acht! Sie fordern die Götter heraus …«, und der Komponist André Messager, der sie am Klavier begleitete, sagte schlicht: »Du bist adorable (= anbetungswürdig).« Wie stets hielt Isadora im Anschluss an ihre Darbietung einen kleinen Vortrag: »Sie sagen, ich bewege mich natürlich. Aber wissen Sie auch, was das bedeutet? Es bedeutet, dass ich mein Instrument, den Körper, genauestens studiert habe, denn er ist die Basis von aller Natur, um die es im Tanze geht. Und weit darüber hinaus! Man kann kein Bewusstsein von Schönheit haben, kein Bewusstsein von der Schönheit unserer Erde und unserer Wahrnehmung von ihr, ausgedrückt in Architektur, Malerei, Skulptur und allen anderen Künsten, ohne ein Bewusstsein vom Körper zu besitzen, seiner Linien und Symmetrie, seiner Proportionen und edlen Formen …« Alle lauschten ergriffen, die nächste Einladung ließ nicht auf sich warten. Der Prinz Edmond de Polignac samt Frau, die Gräfin Greffulhe, die Herzogin d’Uzès erbaten sich den Vorzug, das waren die ganz großen Namen. Isadora zog, wie im Vorjahr in London, durch die Salons von Paris und gewann Herzen und Sinne eines verwöhnten und anspruchsvollen Publikums. Die Gagen waren bescheiden, obwohl ihre Gönner sehr reich waren – Madame de Polignac war die Mäzenin Winnaretta Singer, Tochter des millionenschweren Nähmaschinenkönigs –, aber es langte für die Miete und für das eine oder andere Festmahl. Mutter und Bruder waren zufrieden, und Isadora selbst war jetzt bereit, sich mehr zuzutrauen. Sie würde Privatvorstellungen in ihrem eigenen Studio geben, und sie würde Loïe Fuller aufsuchen, um sie zu bitten, ihre Beziehungen spielen zu lassen. Ihr schwebte die ganz große Bühne vor.

»Was meinen Sie?«, fragte sie Jacques. »Könnte ich auf der Opernbühne überzeugen? Ich denke da an einen Saal mit tausend Plätzen. Und ich allein auf den Brettern – mit nichts als einem Piano und meinen blauen Vorhängen, Sie wissen schon, die, die ich selbst genäht habe. Würde meine Kunst vor so einem Publikum bestehen können?«

Beaugnies runzelte die Stirn. »Das kann ich nicht sagen, man müsste es ausprobieren. Womöglich – ja! Sie sind eine Novität. Sie erregen die Gemüter. Ich glaube an Sie.«

Isadoras Blick schweifte durch das Studio und blieb an dem jungen Schriftsteller André Beaunier hängen, der am Fenster saß und las. »Kommen Sie«, rief Isadora, »lesen Sie uns vor!«

Beaunier blinzelte. »Interessieren Sie sich für Maupassant?«

»Aber ja, natürlich. Kommen Sie, André, ich möchte Ihre Stimme hören. Und wenn Sie mir einen ganz großen Gefallen tun wollen, geben Sie mir eine Französisch-Lektion.«


Unter ihren Verehrern Noufflard, Beaugnies und Beaunier wählte Isadora den unansehnlichsten, den klein gewachsenen, rundlichen, bebrillten André als ihren Favoriten aus, denn er war von allen dreien am meisten cérébrale. Lange Stunden las er ihr vor – Flaubert, Gautier und Maeterlinck und auch aus eigenen Werken. Streng als Sprachlehrer, hochkonzentriert als Zuhörer war er unermüdlich als Diskussionspartner, und Isadora freute sich über diese neue erfüllende Gesprächsbeziehung, die sie zunehmend korrekt auf Französisch führen konnte. Aber sie wunderte sich auch, dass der Freund auf ihre tastenden Versuche, ihn zu einer anderen Art von Beziehung aufzufordern, niemals einging. Sie nahm beim Spaziergang seine Hand, er zog sie bald zurück. Sie setzte sich nach der Vorführung einer neuen Tanzfigur neben ihn auf die Matratze – er erhob sich. Sie erlaubte sich zum Abschied einen Kuss auf seine Wange, er zuckte zurück. Was war da los? Gefiel sie ihm denn gar nicht? Er kam doch immer wieder. Eines Abends besorgte Isadora für Raymond und die Mutter Opernkarten, und als die beiden außer Haus waren, zog sie eine seidene Tunika an und arrangierte eine Kiste mit weißem Tischtuch, Blumenschmuck und allerlei Leckereien, dazu eine Flasche Veuve Clicquot. Wie abgemacht traf André ein, aber statt sich mit ihr zu Tisch zu begeben, trat er ans Fenster, holte ein Taschentuch hervor und begann zu schluchzen.

»Was in aller Welt ist geschehen?«, fragte Isadora.

André brauchte eine Weile, bis er sprechen konnte. »Oscar Wilde ist gestorben.«

»Oh. – Ich weiß, er ist ein herausragender Dichter. Das Bildnis des Dorian Gray. Aber ich wusste nicht, dass Sie ihn kannten –?«

André wandte sich um, erblickte die Kiste mit dem weißen Tuch, die Champagnerflasche und die Blumen im Haar seiner Freundin. »Adieu«, sagte er mit tränenerstickter Stimme und ging rasch hinaus.

Erst im Rückblick begriff Isadora. André kannte Oscar Wilde nicht persönlich, natürlich nicht, trauerte aber um ihn, weil er sich ihm nahe fühlte, denn er liebte wie der irische Dichter die Angehörigen seines eigenen Geschlechts. Er war ein »Uranier«, wie man damals sagte. Was ihn nicht daran hinderte, Freundschaften mit kultivierten Frauen zu pflegen, doch körperliche Nähe suchte er zu ihnen nicht. Isadora, die das nicht wusste, fühlte sich verschmäht und grollte. Die nächsten Abende ließ sie André links liegen und widmete sich dem gut aussehenden, liebenswürdigen Charles Noufflard. Diese Geschichte ging genauso enttäuschend aus wie die mit André, nur dass die Umstände sozusagen spiegelverkehrt gelagert waren. Charles, der sich zunehmend dazu ermuntert fühlte, führte Isadora in ein Etablissement mit Champagner-Souper und chambre séparée, und als er sie umarmte und küsste und den Gürtel ihres griechischen Gewandes löste, machte sie den Fehler, ihm zu gestehen, wie lange sie schon auf diesen Augenblick, auf die Liebe überhaupt, gewartet habe. Der Erste – nein, der wollte Charles nicht sein. Bestürzt hielt er inne und bat sie, sich wieder anzuziehen. Vielleicht dachte er auch an seinen Onkel, der bei seinem Ersuchen an ihn, sich Isadoras anzunehmen, sicher kein Séparée im Sinn gehabt hatte. »Du musst rein bleiben«, flüsterte er und half ihr mit den Schuhen. Isadora war den Tränen nahe. Sie zitterte am ganzen Leibe und verstand die Welt nicht mehr. Später, allein in der Nacht, dachte sie: ›Was die Männer mir verweigern, muss meine Kunst mir geben. Es soll wohl so sein, dass nur sie meine Liebe erwidert.‹ Tags darauf besuchte sie Loïe Fuller.


La Duncan wurde im Laufe des Jahres 1901 zu einem Geheimtipp unter den Pariser Freunden einer neuen Tanzkunst, Fuller hatte ihren Namen schon öfter gehört und war erfreut, sie zu treffen. Isadora tanzte für sie und überraschte sie. »Ich wusste nicht, dass so ein Tanz möglich ist«, sagte Loïe, »Sie sind formidable. Möchten Sie mich nicht auf meiner Tournee im nächsten Jahr begleiten? Wir könnten gemeinsam auftreten.« Und in der Tat, obschon ihre Darbietungen ganz unterschiedlich waren, gab es manches, was die beiden verband. Fuller gab Unterricht, und sie folgte dabei denselben Prinzipien wie Duncan. Beiden kam es auf die Eigenart, die Individualität des tanzenden Menschen an, und das war etwas völlig Neues im Vergleich zur traditionellen Tanzerziehung. Die gab einen festgelegten Kanon von Techniken weiter, in dem, schlicht gesagt, alle dasselbe machten. Aber die Zeit hatte sich gegen die Tradition gekehrt. Der neue Tanz hatte mit dem Ballett nichts mehr zu tun. Er suchte die Freiheit. Er suchte, so wie Duncan ihn vormachte, das bewegte Bild, das entsteht, wenn der Körper seinem persönlichen Ausdrucksverlangen folgt. Er suchte nach Fullers Beispiel den Wirbel, die Welle, den Feuerstoß, die entstehen, wenn Bewegung sich in beleuchteter Materie fortsetzt und zur phantastischen Erscheinung wird. Das war ein kühnes Programm, es war die Ouvertüre zum Ausdruckstanz und zum modern dance, und seine Vorankünderinnen kamen beide nicht zufällig aus Amerika, einem Land, in dem das klassische Ballett nie wirklich heimisch geworden war. Es fehlte ihm dort die kulturelle Wiege: der Königshof und seine Neigung zur subtilen Künstlichkeit in der Prachtentfaltung. Dafür hatte dieses Land immer etwas übrig für Wagemut und Experimentierfreude. Unterm Zeichen solcher hervorstechenden Charakterstärken hatte Amerika die beiden Pionierinnen einer neuen Tanzkunst nach Europa gesandt. Im Jahre 1900 kam aus den Staaten noch eine dritte Neuerin hinzu, die der Vollständigkeit halber erwähnt sein soll: die nach François Delsartes Lehre erzogene Tänzerin Ruth St. Denis.

 

Loïe Fuller versprach der Kollegin, sich bei ihrem Agenten für sie einzusetzen. Sie dachte daran, Duncans Darbietung in ihr Programm zu integrieren. Das war ein wichtiger Schritt vorwärts, denn bei den Duncans war nun lange schon Ebbe in der Kasse. Einiges Hin und Her gab es in Fragen der Musik. Würde auf einer großen Bühne Mrs Duncan oder jemand anderes am Piano zur Begleitung ausreichen oder brauchte man nicht gar ein ganzes Orchester? Das aber war kostspielig. Und immer wieder erhob sich die leidige Frage, was denn zu spielen sei. Es war seinerzeit unüblich, dass sich Tänzerinnen von einer Musik begleiten ließen, die nicht ausdrücklich als Ballett- oder Tanzmusik komponiert und gekennzeichnet worden war. Das aber taten sowohl Duncan als auch Fuller – sie tanzten nach großen Musikwerken der klassischen und romantischen Epoche, wobei Isadora es nicht richtig fand, zu sagen, sie tanze »nach Schuberts Ave Maria«, sondern darauf bestand, dass sie diese Klänge quasi verkörpere. Bei den Puristen unter den Verehrern von Brahms und Beethoven war indes eine solche Zweckentfremdung der Musik – wie sie es verstanden – irgendwie unerlaubt. Die Tänzerinnen mussten sich allerlei Vorwürfe anhören, etwa, dass sie Werke entweihten, die doch zum Hören mit geschlossenen Augen bestimmt seien. Aber das focht beide nicht an. Sie wussten, dass das, was sie mit ihren Körpern taten, nicht hinter der sublimen Ausdruckskraft zurückstand, die »ihre« großen Komponisten besessen hatten. Und Mrs Duncan ermunterte ihre Tochter, sich immer wieder neuen musikalischen Inspirationen für ihre Tänze auszusetzen. Raymond hatte einen interessanten Auftrag aus Amerika erhalten, er sollte dort eine Konzerttournee begleiten und packte seine Koffer. Jetzt wollte er aber noch schnell dafür sorgen, dass seine Schwester mit den neuesten musikalischen Meisterwerken vertraut würde. »Du musst zu Richard Wagner tanzen«, sagte er und brachte die Noten des Klavierauszugs vom Bacchanale aus dem Tannhäuser mit und dazu noch Isoldes Liebestod. »Wie für dich geschrieben«, sagte er zu seiner Schwester, bevor er sich verabschiedete.


Eines Tages im November klopfte es an die Tür des Ateliers, und herein trat ein Herr im Pelzmantel. Er stellte sich als deutscher Theateragent und Direktor »der größten Varietébühne Berlins« vor und bot Isadora einen Vertrag über 500 Mark pro Abend. Das war eine hohe Summe! Isadoras Augen glänzten, aber sie war vorsichtig.

»Berlin?«, fragte sie. »In welchem Rahmen würde ich dort auftreten?«

»Sie werden als die erste Barfußtänzerin der Welt annonciert werden«, sagte der Direktor und strahlte über das ganze Gesicht. Isadora sah an ihm vorbei.

»Mein Herr«, sagte sie streng, »von meiner Kunst machen Sie sich völlig falsche Vorstellungen. Niemals werde ich es zulassen, dass man mich als Barfußtänzerin bezeichnet, und ich werde auch auf keiner Varietébühne tanzen. Ich bin gekommen, um der Welt einen Begriff von der Schönheit –«

»Aber Mademoiselle«, unterbrach der Direktor, »was reden Sie denn da! An unserem Theater treten nur erste Größen auf!«

»Meinetwegen. Aber ohne mich. Ich tanze nicht zur Unterhaltung von Banausen. Meine Kunst ist für ein erlesenes Publikum gedacht.«

Der Direktor schob den Unterkiefer vor. Er dachte kurz nach und stieß dann hervor:

»Tausend?«

»Ich komme nicht einmal für zehntausend.«

»Aber Miss Duncan, der Vertrag ist schon fertig. Sie müssen nur hier unterschreiben.«

Da wurde Isadora böse. Sie scheuchte den Kerl hinaus und schrie dabei:

»Niemals! Was denken Sie sich! Mon Dieu!« und schlug die Türe zu. In ihren Memoiren erwähnt sie, dass dieser Herr sie zwei Jahre später in der Kroll-Oper zu Berlin tanzen sah und anschließend mit Blumen in ihrer Garderobe erschien. »Sie hatten recht«, hat er zu ihr gesagt, »in mein Varieté hätten Sie nicht gepasst.«


Zu jener Zeit machte Isadora die Bekanntschaft einer jungen Amerikanerin, mit der sie ihr Leben lang befreundet bleiben sollte: Mary Desti war sechs Jahre älter als Isadora, bereits geschieden, und einen kleinen Jungen hatte sie auch. Durch schieren Zufall traf Isadoras Mutter in einem Park auf Miss Desti, die dort mit ihrem Sohn Verstecken spielte. Mrs Duncan hörte ihre Muttersprache, sie rief erstaunt: »Hallo!« Was die junge Landsmännin denn hierher nach Paris verschlagen habe? »Ich will mehr als eine Hausfrau in Chicago sein«, antwortete Mary, »ich fühle es: in mir steckt eine Künstlerin.« Da konnte Dora nicht anders. Sie erzählte von ihrer jüngsten Tochter und lud Mary ins Studio ein.

»Ich habe gehört, dass Sie eine moderne Art der Tanzkunst pflegen«, sagte Mary zu Isadora, »ob ich wohl einmal zusehen darf, wenn Sie proben?«

»Das können wir gleich haben«, antwortete Isadora erfreut. »Warten Sie, ich bitte meine Mutter um einen Walzer.« Mrs Duncan erschien, sie spielte auf, und Isadora warf sich in die Klänge. Sie drehte sich, sie schwebte im Takt, aber sie war nicht kokett, stattdessen verwegen und ernst. Dann kam ein Nocturne von Chopin, die Tänzerin verwandelte sich, duckte sich, sie suchte etwas und schien zu verschwinden, um dann wie ein Vogel flatternd aufzusteigen. Mary blieb der Mund offen stehen. ›Das ist es‹, sagte sie zu sich, ›das ist Kunst. Schönheit und Größe, sie sind kein Trick und keine Meisterleistung, sie fließen vielmehr von selbst aus der menschlichen Seele, wenn nur ein Weg für den Körper gebahnt ist, auf dem sie sich mitteilen kann.‹

»Ich möchte Ihre Schülerin sein!«, rief Mary aus. »Bitte lehren Sie mich diese Bewegungen.«

Isadora musste erst einmal verpusten. Dann nickte sie.

»Sie möchten reguläre Stunden? Ich bin nicht billig.«

»Das ist kein Hindernis.«

»Gut. Kommen Sie morgen um die gleiche Zeit.«

Mary erwies sich als begabt, und Isadora sah ihre Schülerin fast täglich. Einmal, als sie die Rollen getauscht hatten und Isadora zusah, wie Mary einen Tanz zu einem Hirtengedicht von Theokrit improvisierte – Mrs Duncan trug es mit singender Stimme langsam vor –, rief die Lehrerin scharf:

»Stopp! So geht das nicht! Mary, Sie kopieren mich. Das dürfen Sie nicht tun, das ist ein Abweg. Ich will hier nicht La Duncan sehen, sondern Mary Desti!«

»Aber – ich möchte so tanzen wie Sie.«

»Hören Sie, Mary, wenn Sie so tanzen wollen wie ich, müssen Sie so tanzen, wie Sie – wie nur Sie selbst es können. Stellen Sie sich hierher. Schließen Sie die Augen und führen Sie Ihre Hände auf die Partie unterhalb des Brustbeins, ja, genau so. Dort sitzt der plexus solaris, das Sonnengeflecht, ein wichtiges Nervenzentrum. Von hier aus, von der Mitte kommen alle Gefühle, alle Regungen und Bewegungen. Spüren Sie es? Warten Sie, bis Ihre Mitte antwortet. Dann tun Sie einen Schritt oder einen Griff oder eine leichte Neigung des Kopfes. Beginnen Sie mit der Ruhe. Lassen Sie sich atmen. Horchen Sie in sich hinein. Schauen Sie in sich hinein.«

»Wenn ich in mich hineinschaue«, sagte Mary mit kleiner Stimme, »sehe ich – Sie!«

Isadora seufzte. »Kennen Sie den Essay des deutschen Romantikers Heinrich von Kleist ›Über das Marionettentheater‹? Wenn Sie den gelesen haben, werden Sie besser verstehen, worum es mir geht und worum es auch Ihnen als Bewegungskünstlerin gehen sollte. Kopieren ist immer ein Sich-nicht-Trauen und ein Sich-Zieren. ›Denn Ziererei erscheint, wenn sich die Seele in irgendeinem anderen Punkt befindet, als im Schwerpunkt der Bewegung‹, so Kleist. Wir sollten hier abbrechen und noch mal ganz von vorne anfangen. Was meinen Sie, Mary, haben Sie Lust auf einen Imbiss im Bistro an der Ecke?«

Wenn sie nicht Lehrerin und Schülerin waren, unterhielten sich Mary und Isadora ungezwungen, sie lachten viel und erzählten sich von früher. Isadora war ja auch in Chicago gewesen, und Mary kannte die Etablissements, in denen die 18-jährige Dorita damals aufgetreten war. Und beide konnten einfach drauflosreden, brauchten sich nicht mit der komplizierten französischen Sprache abzumühen.

»Wo ist der kleine Preston?«, fragte Isadora.

»Mit seiner Kinderfrau im Bois de Boulogne.«

»Sie sind well off genug, um eine Nurse zu bezahlen?«, fragte Isadora erstaunt.

»Oh, ja. Mein Exmann hat nichts getaugt, aber er zahlt.«

»Er akzeptiert, dass Sie mit dem Kind in Europa herumreisen und er den Kleinen nicht zu Gesicht kriegt?«

»Er hat nie Interesse an ihm gezeigt«, sagte Mary und kniff die Lippen zusammen, »aber lassen Sie uns das Thema wechseln.« Sie beugte sich vor und lächelte. »Kann es sein, dass ich Ihre erste Schülerin bin?«

»Oh, nein«, antwortete Isadora, »ich habe in San Francisco schon eine richtige kleine Tanzschule geführt. Hinter unserem Haus gab es einen Schuppen, und dort hat mein Bruder Augustin für uns ein winziges Theater gebaut. Wir gaben Vorführungen für Nachbarn und Freunde. Und die Nachbarskinder kamen zu mir, um tanzen zu lernen. Sie zahlten dreißig Cent pro Nase. So trug ich schon damals zum Familieneinkommen bei.«

»Was sagten denn Ihre Lehrerinnen dazu?«

»Gar nichts. Stumpfsinniger Drill, diese Elementarschule. Mit elf Jahren habe ich beschlossen, nicht mehr hinzugehen.«

Mary staunte. »So früh schon? Aber Sie erscheinen mir doch recht bewandert, zum Beispiel in Kunsttheorie. Und in Musik …«

»Alles, was ich gelernt habe, verdanke ich meiner Mutter und meinen Geschwistern. Mein Leben als Kind war praktisch laufender Unterricht daheim. Mit zehn lernte ich Deutsch und las Kant – verstehen tat ich ihn erst später, zugegeben. Und mit zwölf schon durfte ich Tanzlehrerin sein. Die Kinder liebten mich, sie kamen gern. Eigentlich wünsche ich mir auch heute wieder eine Schule.«

»Immerhin haben Sie ja jetzt schon mich als Schülerin. Die Anfänge sind gemacht.«

»Was bedeutet der Name Desti, Mary? Destination?«

»Er ist meine Erfindung – haben Sie das geahnt? Eigentlich heiße ich Dempsey. Das klingt nach gar nichts. In Italien gibt es eine Adelsfamilie mit dem Namen d’Este. In dieses vornehme Geschlecht habe ich mich sozusagen seitlich reingeschlichen.«

»Hm. Meinen Sie wirklich, man wird Mary Desti den italienischen d’Estes zurechnen?«

»Warum nicht?«

»Richtig so. Wir Nordamerikanerinnen stammen doch alle aus Europa. Mein Name Duncan ist schottisch, er kommt bei Shakespeare vor. Und was waren die Duncans? Könige! Meine Mutter kommt aus einer irischen Familie, meine Großmutter ist noch in einem Planwagen auf der Reise nach Westen geboren – und zwar mitten in einem Kampf mit den Indianern. Wir alle, meine Brüder, meine Schwester und meine Mutter haben den berüchtigten irischen Dickschädel.«


Nun war es also abgemacht: Isadora sollte mit Loïe Fuller auf Tournee gehen und im Rahmen ihres Programms auftreten. Sie fühlte sich am rechten Platz, denn die fée d’électricité zog genau das Publikum an, das Isadora vorschwebte. Loïe startete ihre Europatournee mit einem Dutzend ihrer besten Schülerinnen im Frühjahr 1902, erste Station war Berlin. Standesgemäß logierte das Ensemble im Hotel Bristol, Unter den Linden. Das vornehme Haus hatte erst vor Kurzem die erste Automobilausstellung Deutschlands beherbergt. Isadora zog allein durch die Straßen und Gassen der Reichshauptstadt, wie sie es gern tat, um das Gefühl für einen Ort zu bekommen. Sie hatte gehofft, ein nordisches Athen zu erblicken und war doch bald enttäuscht. Berlins preußischer Klassizismus bot die Antike als pedantische Kopie, steif und bedrückend. Zurück im Hotel beschied Isadora desillusioniert den Kellner auf Deutsch: »Geben Sie mir ein Bier, ich bin müde.« Sie brachte gern deutsche Ausdrücke und Redewendungen in ihren Sätzen unter.

Die Auftritte im Wintergarten waren erfolgreich, das Berliner Publikum applaudierte begeistert. Doch auch Loïe Fuller konnte nicht gut haushalten, zumal die Darbietungen der japanischen Tänzerin Sada Yacco, eine Protégée der Fuller, überhaupt nicht ankamen und viel Geld verloren ging. Das Hotel Bristol behielt, als die Truppe abzog, wegen unbeglichener Rechnungen das gesamte Gepäck als Pfand ein. So war es auch den Duncans einst in den USA und in London öfters ergangen, und Isadora begann zu zweifeln, ob sie es richtig gemacht hatte, als sie sich Fuller anschloss. Zumal sich während der Vorstellungen zeigte: Alles drehte sich um Loïe, sie selbst war Beiwerk. Über Leipzig und München ging die Tournee wie geplant nach Wien. Fuller lebte offen lesbisch, die jungen und ausgesprochen hübschen Mädchen des Ensembles, die als Walküren und Nereiden den Vordergrund der Bühne schmückten, waren ihr sehr zugetan. Ganz selbstverständlich streichelten sie die Hände und Brüste ihrer Angebeteten und küssten ihren Mund. Beflissen brachten sie Eisbeutel und Kräuterpackungen und verteilten Kissen im Rücken der Diva, die häufig unter Ischiasschmerzen litt. Isadora war zwar eingeweiht in die Lebensweise ihrer Kollegin, doch mit einer solchen Offenheit hatte sie nicht gerechnet. »Unsere Mutter hat uns bestimmt alle geliebt, aber selten liebkost. Und so war ich fast ein wenig erschrocken über diesen starken Ausdruck von wärmster erotischer Zuneigung. So etwas hatte ich noch nie erlebt.«

 

In Wien sollte Isadora eine befremdliche Erfahrung machen. Unter den Mädchen gab es eine Rothaarige, die alle nur Nursie nannten, denn tatsächlich war sie sehr rührig und kümmerte sich wie eine Krankenschwester um alle anderen – am meisten natürlich um La Fuller selbst – und sie trieb auch Geld für die Weiterreise auf. Dieses Mädchen hatte sich in Isadora verliebt, sie eines Abends vor aller Augen umarmt und geküsst. Isadora traute sich nicht, sich zu wehren, obschon sie sich überrumpelt fühlte. Es ergab sich dann, sicher nicht zufällig, dass Nursie im Hotel in Wien ihre Zimmergenossin war. »Eines Morgens gegen vier Uhr stand Nursie plötzlich auf, zündete eine Kerze an, trat an mein Bett und rief: ›Gott hat mir befohlen, dich zu erwürgen!‹«

Obwohl Isadora große Angst bekam, wusste sie doch instinktiv, dass man Menschen, die außer sich geraten, nicht widersprechen sollte und antwortete: »Ja, du hast vollkommen recht, ich bin bereit. Aber zuvor musst du mich noch ein Gebet sprechen lassen.«

Die List verfing, Nursie bekundete ihr Einverständnis und setzte sich brav auf einen Stuhl. Isadora aber sprang behände aus dem Bett und lief im Nachthemd und mit offenem Haar durch die langen Korridore, lauthals rufend »Lady gone mad!« (= Die Frau ist verrückt geworden!). Nursie blieb ihr dicht auf den Fersen, vier Angestellte des Hotels waren nötig, um die Furie zu stoppen und festzuhalten, bis ein Arzt kam. Isadora hatte nach diesem Vorfall endgültig genug. »Ich kann nicht mehr«, sagte sie zu Loïe. Und sie schickte ein Telegramm an ihre Mutter nach Paris: »Bitte komm sofort. Stop. Und hol mich ab.«


Isadora hatte allerdings in Wien auch eine ermutigende Erfahrung gemacht. Sie war nach einem Soloauftritt im Künstlerhaus am Karlsplatz bejubelt und mit Blumen überhäuft worden, und an diesem Abend kam der ungarische Theateragent Alexander Grosz in ihre Garderobe.

»Ihr Bacchanale war ein Traum, Sie sind einmalig! Wenn Sie Karriere machen wollen, kommen Sie mit mir nach Budapest.«

»Oh, ich danke Ihnen sehr. Ich bin zwar mit Loïe Fuller auf Tournee, wäre aber nur allzu bereit, auf eigenen Füßen zu stehen. Wann könnte es denn losgehen?«

»Sofort, wenn Sie möchten, ich besorge Ihnen eine Unterkunft in Budapest. Sie können in der wunderschönen venezianischen Urania auftreten, eines der besten Theater der Stadt.«

»Ich muss Sie aber warnen. Mein Tanz ist für die Elite, für Künstler, Bildhauer, Maler und Musiker geeignet, nicht für das breite Publikum

»Ah, das passt schon. Künstler sind die strengsten Kritiker, denen wird Ihre Art zu tanzen sehr gefallen, da bin ich sicher. Beim großen Publikum werden Sie dann erst recht Erfolg haben. Vertrauen Sie mir, ich habe viel Erfahrung in diesem Metier.«

Isadora zögerte ein wenig, denn es war das erste Mal, dass sie in einem Theater vor großem Publikum ihre Kunst darbieten sollte, und sie fürchtete sich sehr vor mangelndem Verständnis. Was, wenn die Zuschauer im Sperrsitz Münzen auf die Bühne würfen oder von ihr verlangten, die Tunika fallen zu lassen? Grosz redete ihr gut zu, und diesmal ließ sie sich überzeugen und unterzeichnete einen Vertrag. Ihre Mutter kam in Wien an, die beiden brachen sogleich mit Grosz nach Budapest auf. Isadora Duncans Debut dort im April 1902 bestand unter anderem aus Improvisationen zu Johann Strauss’ Donauwalzer, der inoffiziellen Landeshymne Wiens, und zu Franz Liszts Rákóczi-Marsch, der inoffiziellen Landeshymne Ungarns. Agent Grosz sollte recht behalten, die Menschen waren aus dem Häuschen. »Der erste Auftritt in der Urania wurde ein unbeschreiblicher Erfolg – ich tanzte dreißig Abende vor ausverkauftem Haus. Das temperamentvolle ungarische Publikum raste, die Menschen warfen ihre Hüte und Mützen auf die Bühne, alles sprang von den Sitzen auf und geriet in einen derartigen Rausch der Begeisterung, dass ich den Walzer viele Male wiederholen musste, bevor die Leute wieder halbwegs zur Vernunft kamen.«

Im Gegensatz zu Berlin machte Budapest mit seinen Bauten und seiner Atmosphäre einen tiefen Eindruck auf Isadora, die luxuriösen Gärten und breiten Boulevards, die Menschen in ihren farbenreichen Trachten und die Roma-Kapellen, die überall auf den Straßen und Plätzen aufspielten, gefielen ihr sehr. Deren Rubato, die Verlängerung oder Verkürzung von Tönen, die Beschleunigung oder Verlangsamung des Tempos, verbunden mit dem Versprechen, die ›geraubte Zeit‹ wieder zurückgegeben, beeindruckte sie. »Ein Zigeuner, der auf einer staubigen Straße in Ungarn spielt, war mehr wert als alle sogenannten Spitzenmusiker der Welt zusammen.« Sie war inspiriert. Und versuchte im Hotelzimmer, während die Mutter einen Rhythmus klatschte, das Rubato in Bewegung zu übersetzen, indem sie dem Takt mal vorauseilte, mal zurückblieb – dieses Ausscheren wurde zu einem ihrer typischen Stilmittel.

Das gute Essen, der kräftige Tokajer, den sie des Nachts mit Freunden und Bewunderern genoss, der Flieder, die Akazienblüten, die vielen Blumen der Stadt, deren Düfte die Luft erfüllten, dies alles vor dem Hintergrund ihres triumphalen Erfolgs, lässt ahnen, wie aufgeregt die Tänzerin Duncan damals war und wie unbesiegbar sie sich gefühlt haben muss.

»Es war überhaupt das erste Mal, dass ich in meinem Leben so gut und üppig zu essen bekam – und das Überangebot an Nahrung hob meine Stimmung. Dies alles bewirkte, dass ich meines Körpers richtig bewusst wurde und ihn nicht nur als Instrument des Ausdrucks geheiligter musikalischer Harmonien betrachtete.«

In der Doppelstadt, lange Zeit hieß sie Pest-Buda, begann Isadoras Weltkarriere. Und hier sollte sie auch ihre erste große Liebe, ihren »Romeo«, wie sie ihn nannte, kennenlernen.

Im Publikum der Urania befand sich ein junger Mann, ein talentierter Schauspieler des Nationaltheaters, der bedeutendsten Bühne des Landes: Oscar Beregi. Bei einem Souper nach Isadoras Auftritt wurden die Tänzerin und der Schauspieler einander vorgestellt. Und so beschrieb Isadora die erste Begegnung:

»Ich sah in zwei große schwarze Augen, die sich glühend in meine brannten, mit einer so feurigen Bewunderung und ungarischen Leidenschaft, dass in diesem Blick die ganze Bedeutung des Budapester Frühlings lag. Von diesem ersten Blick an waren wir schon in den Armen des anderen, keine Kraft auf Erden hätte das verhindern können.«