Buch lesen: «Netzwerke in pastoralen Räumen»

Schriftart:

Miriam Zimmer/Matthias Sellmann/Barbara Hucht

Netzwerke in pastoralen Räumen

Herausgegeben von

Prof. Dr. Matthias Sellmann

und Dr. Martin Pott

Angewandte

Pastoralforschung

04

Miriam Zimmer Matthias Sellmann Barbara Hucht

Netzwerke in pastoralen Räumen

Wissenschaftliche Analysen – Fallstudien – Praktische Relevanz

echter

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

©2017 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Umschlaggestaltung Peter Hellmund

ISBN 978-3–429-04336-0 (Print)

ISBN 978-3–429-04911–9 (PDF)

ISBN 978-3–429-06331-3 (ePub)

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Inhalt

Einleitung

Miriam Zimmer, Matthias Sellmann, Barbara Hucht

WISSENSCHAFTLICHE ANALYSEN

Netzwerkforschung und Pastoraltheologie

Eine Diskursanalyse aus Sicht der Soziologie

Miriam Zimmer

„Christsein in strukturellen Löchern“ oder:

Die pastoraltheologische und pastoralplanerische Bedeutung der soziologischen Netzwerktheorie

Matthias Sellmann

FALLSTUDIE

„Pastoral vernetzt“

Interne und externe Beziehungen von Kirche zum Thema Krankheit im Sozialraum

Miriam Zimmer

PRAKTISCHE RELEVANZ

„Vertrauen und Verantwortung“

Die Idee der Netzwerkmoderation im Zukunftsbild des Erzbistums Paderborn

Barbara Hucht

Beziehungsprofile und Positionsanforderungen

Rollenbewusstsein in sozialen Netzwerken entwickeln

Miriam Zimmer

Wissen, Können und Motivation

Netzwerkkompetenzen stufenweise ausbauen

Miriam Zimmer, Matthias Sellmann, Barbara Hucht

Fazit und Ausblick

Miriam Zimmer, Matthias Sellmann, Barbara Hucht

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Miriam Zimmer, Matthias Sellmann, Barbara Hucht

Einleitung

Netzwerke sind heutzutage in aller Munde. Medien, Stadtquartiere, Wirtschaftsstandorte und Tourismusregionen bilden Netzwerke – nicht nur, um individuelle Chancen zu verbessern, sondern auch, um vor allem gemeinsame, übergeordnete Ziele zu erreichen. Netzwerke versprechen die Kumulation geballter Ressourcen, Vitalität und Innovation. Auch kirchliche AkteurInnen haben das Netzwerk als neue Strategie für sich entdeckt. Der Bedeutungsverlust der Kirchen in der heutigen Gesellschaft ist unabweisbar. Viele Menschen wenden sich von der einst so relevanten und mitgliederstarken Institution ab. Die katholischen Bistümer kämpfen sowohl gegen Priester- als auch gegen Gläubigenmangel und reagieren strukturell mit einer drastischen Vergrößerung der pastoralen Räume. Hier funktionieren jedoch alte pastorale Arbeitsformen nicht mehr und es stellt sich die Frage, wie sich in diesem Wandel angemessene neue Seelsorgebeziehungen gestalten lassen. Neue, der modernen, pluralen und individualisierten Gesellschaft angepasste Formen der religiösen Vergemeinschaftung werden entwickelt und ausprobiert.

Als mögliche Organisationsform dieser großflächigen Räume werden daher zunehmend netzwerkartige Strukturen propagiert (vgl. z. B. Zukunftsbild Paderborn, Köln, München-Freising, DBK-Papier „Gemeinsam Kirche sein“): Als fluide, offene und dezentrale Struktur sollen sie eine neue, lebendige Form der Interaktion von verschiedensten AkteurInnen in Bezug auf kirchliche und gesellschaftliche Themen befördern und dadurch Kirche handlungsfähiger machen. Auch im universitären, pastoraltheologischen Diskurs gelten Netzwerke als zukunftweisend. In der Debatte über die neue Sozialität kirchlicher Akteurinnen, kirchlicher Veranstaltungen und Gruppen wird auch an den theologischen Fakultäten im Netzwerk die Sozialform der Zukunft gesehen. Was dem Netzwerkbegriff aber für pastorale Zusammenhänge vor allem fehlt, ist eine konzeptuelle und praktische Konkretisierung. Was ist ein Netzwerk? Welche sind seine Komponenten? Was kann ein Netzwerk – und was kann es nicht? Wie kann man Netzwerke bilden oder bestehende Strukturen verändern? Sowohl die akademische als auch die praktische Auseinandersetzung bleibt Antworten auf diese Fragen bisher weitgehend schuldig.

Das Zentrum für angewandte Pastoralforschung (ZAP) und das Erzbistum in Paderborn versuchen im Kooperationsprojekt „Pastoral vernetzt“, Klarheit in diese Debatte zu bringen. Im Februar 2014 ist das Kooperationsprojekt „Denken in Netzwerkdynamiken als Steuerungsmodell großer pastoraler Räume“ gestartet. Als Pilotprojekt begleitet es den Umsetzungsprozess des im selben Jahr veröffentlichten Zukunftsbildes der Diözese Paderborn mit wissenschaftlicher Fundierung und in der pastoralen Praxis verwertbaren Erkenntnissen. Das Zukunftsbild ist das Resultat des zehnjährigen Konsultationsprozesses „Perspektive 2014“, in dem Mitglieder des Erzbistums aus verschiedensten Orten und VertreterInnen unterschiedlicher kirchlicher Ebenen über die Zukunft der Diözese berieten. Die Paderborner Veröffentlichung stellt die Arbeitsprämisse und das Leitbild der zukünftigen diözesanen Arbeitsweisen auf struktureller und inhaltlicher Ebene vor. Im Kooperationsprojekt findet nicht nur die theoretische Auseinandersetzung mit dem soziologischen Netzwerkbegriff statt; auch wurde im Erzbistum Paderborn bereits eine empirische Fallstudie durchgeführt, in deren Folge dort nun modellhaft Netzwerkmoderation praktiziert und reflektiert wird. Dieses Buch präsentiert die ersten Ergebnisse des Projektes. Es ordnet sie in aktuelle pastoraltheologische Debatten ein und bietet praktische Erkenntnisse und Ansatzpunkte zur konkreten Gestaltung kirchlicher Arbeitszusammenhänge in Kooperationen und Interaktionen.

Das Buch nimmt damit aktuelle innerkirchliche und pastoraltheologische Diskurse auf, reiht sich zugleich in kirchensoziologische und ekklesiologische Debatten über neue Sozialgestalten von Kirche ein und versucht die begriffliche Schärfung und Konkretisierung des Netzwerkkonzeptes aus mehreren Perspektiven. So wandelt sich Kirche und ihr Agieren vom institutionellen Akteur,1 der individuelle Wertesysteme und die persönliche Lebensgestaltung langfristig prägt, zum organisationalen Anbieter und Kooperationspartner, dem neue Erwartungen entgegengebracht werden.2 Diese neuen Interaktionsformen und - anforderungen können mithilfe der soziologischen Netzwerktheorie und ihrer empirischen Methoden sichtbar und verständlich gemacht werden. Die organisationssoziologische Frage, ob und inwiefern das Netzwerk an sich im soziologischen Sinne eine genuine Sozialform darstellt, muss hier weiter offenbleiben, ist jedoch in diesem Zusammenhang auch nicht von elementarer Bedeutung.

In den neu strukturierten Diözesen stehen die pastoralen MitarbeiterInnen der Pfarreien vor der Herausforderung, Netzwerkarbeit konkret und kleinteilig umzusetzen, während PlanerInnen in den Generalvikariaten versuchen, die großen Zusammenhänge neu zu strukturieren sowie Förderrichtlinien, Personaleinsätze und Stellenbeschreibungen netzwerkorientiert auszurichten. In vier Bereichen besteht akuter Bedarf, Netzwerke, deren Herkunft, Wesen und Relevanz gründlich zu analysieren und konsequent weiterzudenken: 1. in der begrifflichen Konkretisierung (Kap. 2), 2. der theologischen Verortung (Kap. 2, 3, 5), 3. dem Wissen um Strukturen und Mechanismen (Kap. 4) und 4. der handlungspraktischen Anwendung (Kap. 5–7). Der vorliegende Band soll zur wissenschaftlichen Fundierung in diesen vier Bereichen beitragen.

1. Der Netzwerkbegriff ist als Hoffnungskonzept der postmodernen Gesellschaft in vielerlei Diskursen auf breite Resonanz gestoßen. Allerdings wird er in Wissenschaft, Medien und Wirtschaft unterschiedlich rezipiert. In diesem Buch wird Netzwerk als bereits konsolidiertes soziologisches Konzept sozialer Beziehungen vor dem Hintergrund bestehender Theoriebildung und anerkannter empirischer Methodologie präsentiert und diskutiert.

2. Weiterhin werden das Netzwerkkonzept und das in ihm begründete relationale Denken und Handeln in diesem Buch über die spontanen assoziativen Bezüge des „Netze Auswerfens“ oder der eher unbeliebten „Spinne im Netz“ hinaus theologisch fundiert begründet und gerechtfertigt. Zudem wird diese „relationale Theologie“ gleichsam auf das Agieren von Kirche in der Welt und deren inhärente soziale Beziehungen angewendet.

3. Die Netzwerksoziologie hat bereits einiges Wissen und etliche Erkenntnisse über die Funktionsweise von Netzwerken, deren Strukturformationen und Produktivitätsvoraussetzungen sowie über kleinteilige Mechanismen unter bestimmten Strukturvoraussetzungen hervorgebracht. Diese Forschungsergebnisse sollen vor allem im Hinblick auf die Beziehungskonstellationen religiöser AkteurInnen vorgestellt werden. Darüber hinaus geht es darum, eigens für das Anliegen der sozialräumlichen Zusammenarbeit relevante netzwerksoziologische Erkenntnisse für Forschung und Praxis zu generieren.

4. Weiterhin will dieses Buch eine konkrete Handreichung zur Arbeit mit und in Netzwerken sein. Von der Perspektive auf die inneren Haltungen der Akteurinnen als Grundlage über Rollen und Kompetenzanforderungen bis hin zur übergeordneten organisationalen Ausrichtung sollen Anforderungen, Umsetzung und Konsequenzen von Netzwerkarbeit durchdacht werden. Die netzwerksoziologischen Methoden bieten so das Potenzial, proaktiv Beziehungen zu gestalten und damit Arbeitsprozesse zielorientiert zu modellieren.

Des Weiteren stellt dieser Band den Versuch dar, in dem beschriebenen Themenfeld drei Kluften zu überbrücken und im Sinne der Netzwerktheorie eine Broker-Rolle zwischen diesen strukturellen Löchern einnehmen.

Zunächst geht es darum, die theologische Abhandlung und die soziologische Auseinandersetzung aneinander anzunähern. Allein sprachlich stehen die beiden Fächer im Kontrast zueinander; aber auch im Umgang mit wissenschaftlichen Konzepten im Allgemeinen sowie mit dem Begriff des Netzwerkes im Besonderen divergieren sie mitunter beträchtlich. Während die Soziologie wissenschaftliche Zugänge zu Netzwerkmethode und Netzwerkarbeit theoretisch bereits umfassend diskutiert und probate empirische Methoden ausgearbeitet hat, sind diese Erkenntnisse in der pastoraltheologischen Forschung bislang nur sehr punktuell rezipiert worden. Ansonsten arbeitet die Pastoraltheologie diesbezüglich mit stark metaphorischen Verknüpfungen und lässt methodologische Überlegungen bisher weitgehend außen vor. Weiterhin wird versucht, die beiden wissenschaftlichen Traditionen in ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema zu verstehen und, die Vorteile beider Herangehensweisen aufgreifend, möglichst fruchtbar miteinander zu verschränken.

Eine weitere tiefe Kluft besteht im Diskurs zwischen netzwerksoziologischer Forschungsliteratur und Netzwerk-Ratgebern aus Wirtschaft, sozialer Arbeit und Medien, die sich vornehmlich auf praktische Erfahrungen berufen. Dieses Buch versucht, auch diesen Graben zu überbrücken, indem es an netzwerksoziologische Theorien anknüpft, eigene empirische Netzwerkforschung vorstellt, deren Erkenntnisse für die praktische Arbeit in Netzwerken fruchtbar macht und mit bestehender erfahrungsbasierter Ratgeberliteratur ins Gespräch bringt. Es wird sich also nicht mit einem der beiden Bereiche zufriedengegeben, sondern es geht darum, solide wissenschaftliche Forschung vorzustellen, die auch praktische Bedarfe ernst nimmt und hierfür Konzepte entwickelt.

Die dritte identifizierte Spaltung ist eine innertheologische, deren Überwindung sich das Zentrum für angewandte Pastoralforschung generell verschrieben hat: die Unverbundenheit zwischen praktischer Arbeit, Strukturentscheidungen sowie Maßnahmen in der organisationalen Steuerung der Kirche in Deutschland einerseits und der akademischen Pastoraltheologie andererseits. Die beiden Ebenen stehen sich meist distanziert-beobachtend gegenüber. Konzepte und Veröffentlichungen werden gegenseitig zwar wahrgenommen, schaffen aber meist nicht die Übertragung in den jeweils anderen Kontext. Dieses Buch soll am Beispiel sozialer Netzwerke durch eine kleinschrittige Auseinandersetzung mit der Soziologie entstammenden theoretischen Konzepten und deren Übertragung in die pastorale Praxis – und umgekehrt – genau diese Vermittlung leisten und dadurch für Mehrwert in beiden Feldern, der akademischen Pastoraltheologie und der praktischen Arbeit in den Diözesen, sorgen.

Der vorliegende Band richtet sich vor allem an pastorale PlanerInnen, Netzwerk- und ReligionssoziologInnen sowie TheologInnen, die sich mit aktuellen Veränderungsprozessen von Kirche wissenschaftlich, aber vor allem auch organisatorisch auseinandersetzen. Die Lektüre soll vor dem Hintergrund aktueller Herausforderungen abnehmender Kirchenbindung, organisationalen Wandels und kirchlicher Neuorientierungsprozesse eine konkrete Vorstellung davon vermitteln, was Netzwerke sind und wie sie im Bereich von Kirche gewinnbringend konzipiert werden können. Weiterhin soll sie zur erkenntnisreichen Beobachtung von sozialen Kontexten mit Fokus auf deren Beziehungsstrukturen beitragen. Darüber hinaus möchten wir mit diesem Band erste Anregungen bieten, um dieses Wissen auf die konkrete eigene kirchliche Arbeit in den Leitungs- und Planungsebenen der (Erz-)Bistümer sowie in den Sozialräumen der Pfarreien anzuwenden. Uns geht es darum, zu vermitteln, wie die eigene Beziehungsgestaltung dem Erreichen persönlicher und organisationaler Ziele einerseits sowie der Vermittlung der christlichen Botschaft und damit dem kirchlichen Auftrag andererseits dienen kann.

Alle Kapitel in diesem Buch bergen neue Erkenntnisse für die angesprochenen Bereiche. Allerdings können die einzelnen Kapitel angesichts der thematischen Breite des Bandes oftmals nur als Einstieg in eine tiefergehende Auseinandersetzung gelten. In den folgenden zwei Projektjahren sollen die Themen weiter fundiert und konkretisiert werden. Die AutorInnen wollen dem/r LeserIn die bisherigen Ergebnisse jedoch nicht vorenthalten, sondern – im Gegenteil – dazu ermutigen, die Fragestellung und die präsentierten Ansätze selbst weiter zu denken und eigene Vorgehensweisen zu entwickeln. Zu diesem Zweck schließt jedes Kapitel mit Ausblicken für die Forschung und für die Praxis.

Aus der Projektlogik ergibt sich folgender Auftau des Buches:

Zunächst zeichnet Miriam Zimmer anhand eines Blicks in die Forschungsliteratur zunächst die Genese soziologischer Netzwerkforschung nach, um daraufhin das Aufkommen des Netzwerkbegriffes in der Pastoraltheologie und seine dortigen Implikationen zu analysieren (Kapitel 2). Dabei wird deutlich, dass die Pastoraltheologie den Netzwerkdiskurs nicht einheitlich im Sinne der soziologischen Netzwerkforschung gebraucht, sondern vielerorts auch als Metapher für eine neue Form des Kirche-Seins.

Anschließend stellt Matthias Sellmann die kirchliche Relevanz der Koordination sozialen Handelns in Netzwerken dar (Kapitel 3). Durch die strukturellen Raumveränderungen ergeben sich neue Handlungsnotwendigkeiten, die gleichzeitig die Chance bereithalten, die binnenkirchliche Orientierung hinter sich zu lassen. Das Kapitel stellt damit eine neue Gemeindetheologie in handlungspraktischer und geistlicher Dimension vor, die in ihrer Konsequenz ein neues christliches Selbstverständnis impliziert.

Mit der Präsentation der empirischen Studie eines sozialräumlichen Netzwerkes zur Arbeit mit kranken Menschen stellt Miriam Zimmer mithilfe soziologischer Methoden schließlich real existierende Beziehungen von Kirche vor (Kapitel 4). Sie zeigt sowohl die spezifischen Eigenschaften dieser Netzwerkstruktur als auch – auf Basis qualitativer Daten –, wie die verschiedenen AkteurInnen das Thema Krankheit konzeptionieren und was Kooperation befördert oder behindert.

Barbara Hucht ermittelt in Kapitel 5, wie Netzwerkmoderation aus organisationsentwicklerischer Sicht zu denken ist. Diese Erkenntnisse vergleicht sie mit dem Verständnis von Führungshandeln im Zukunftsbild des Erzbistums Paderborn. Sie kann somit grundlegende Gemeinsamkeiten, aber auch Spannungen zwischen Anforderungen von Netzwerkarbeit und den formulierten Ansprüchen an kirchliches Führungshandeln sowie etwaige Entwicklungspotenziale aufzeigen.

Im Anschluss erläutert Miriam Zimmer ein wissenschaftlich-analytisches und zugleich praxisrelevantes Konzept von Netzwerkrollen (Kapitel 6). Auftauend auf der soziologischen und psychologischen Rollentheorie und ihren eigenen Forschungsergebnissen aus der Netzwerkstudie kann sie unterschiedliche Netzwerkrollen identifizieren und einen ersten Ansatz vorstellen, um diese zu systematisieren und für die praktische Arbeit fruchtbar zu machen.

Die drei AutorInnen entwickeln schließlich ein Modell der Netzwerkkompetenz (Kapitel 7). Dieses speist sich aus den verschiedenen Zugängen des Projektes und knüpft an die Erkenntnisse der Kompetenzforschung an. Das Netzwerkkompetenzmodell konkretisiert die Anforderungen an kirchlich Engagierte3, benennt die Potenziale von AkteurInnen und weist auf Lernperspektiven für unterschiedliche Handlungsebenen der Netzwerkarbeit hin.

Im Fazit (Kapitel 8) diskutieren die AutorInnen ihre aktuellen Erkenntnisse in Bezug auf die Forschung zu sozialräumlichen Netzwerken, die Praxisrelevanz vor allem für die kirchliche Arbeit in großen pastoralen Räumen sowie die zuvor aufgeworfenen Fragen. Dabei bleibt die Erkenntnis bestehen, dass dieses Buch nur einen Einblick in die praktische Netzwerkforschung vermitteln und einen ersten Ausblick auf zukünftige wissenschaftliche Fundierungen und praktische Konkretisierungen werfen kann.

Unser Dank gilt Dr. Andreas Henkelmann, Christine Zimmerhof, Benedikt Jürgens, Nina Hölscher für die wertvollen Kommentare, Beiträge und inhaltliche Unterstützung bei der Planung des Bandes und während der Erstellung der einzelnen Kapitel. Katharina Rahlf und Robert Lorenz von Splendid. Text- und Webdesign für präzises Lektorat und Layout. Dem ZAP und dem Erzbistum Paderborn, die durch die Projektierung des Netzwerkthemas und die finanzielle Unterstützung dieses Buch erst möglich gemacht haben.

1 Vgl. SELLMANN, Matthias: Katholische Kirche heute: Siebenfache Pluralität als Herausforderung der Pastoralplanung, in: Wilhelm DAMBERG / Karl-Joseph HUMMEL (Hg.): Katholizismus in Deutschland. Zeitgeschichte und Gegenwart, Paderborn 2015, S. 113–228; LUDWIG, Holger: Von der Institution zur Organisation. Eine grundbegriffliche Untersuchung zur Beschreibung der Sozialgestalt der Kirche in der neueren evangelischen Ekklesiologie, Leipzig 2010.

2 Vgl. KRECH, Volkhard / SCHLAMELCHER, Jens / HERO, Markus: Typen religiöser Sozialformen und ihre Bedeutung für die Analyse religiösen Wandels in Deutschland, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 65 (2013), S. 51–71.

3 Mit kirchlich Engagierten meinen wir hier alle Personen, die freiwillig, beruflich, ehren- oder hauptamtlich für die und im Namen der Kirche engagiert sind.

Wissenschaftliche Analysen

Miriam Zimmer

Netzwerkforschung und Pastoraltheologie

Eine Diskursanalyse aus Sicht der Soziologie

1 EINLEITUNG

Der Netzwerkbegriff, der in der kirchlichen Konzeptarbeit und pastoraltheologischen Auseinandersetzung zunehmend herangezogen wird, bezieht sich, wenn auch lose, immer wieder auf die soziologische Netzwerktheorie. Deren Ursprünge sind wiederum fast so alt wie das Fach Soziologie selbst und entspringen einer intensiven Debatte um ihren eigentlichen Gegenstand, ihre Theorien und folgerichtig auch ihre Methoden. Heute ist die Netzwerksoziologie eine der etablierten Strömungen der Soziologie, die in ihrer Geschichte immer wieder methodische Weiterentwicklungen und theoretische turns erlebt hat.

Um die theologischen Referenzen adäquat einordnen und die pastoralplanerischen Anliegen verstehen und bewerten zu können, bedarf es zumindest einer überblicksartigen Darstellung der netzwerksoziologischen Entwicklungen. So können am Ende dieses Textes eine Bewertung bisheriger „theologischer Netzwerkbegriffe“ und ein „produktiver Ausblick“ auf den zukünftigen Umgang mit Netzwerkkonzepten erfolgen.

Dieses Kapitel dient somit zunächst vor allem dazu, ein theoretisches Fundament, einen common ground, zu schaffen, auf dessen begrifflicher Konkretion theologische und kirchensoziologische Debatten, pastoralplanerische Konzepte und Evaluationsinstrumente auftauen können. Des Weiteren stellt sich dieses Kapitel auch der Herausforderung, zwischen den jeweiligen Fachsprachen – der pastoraltheologischen und der soziologischen – zu übersetzen, um die in der Einleitung erwähnte Kluft zwischen den beiden Fachtraditionen zu überwinden und somit an die Debatten beider Fächer anschließen zu können.

Im Folgenden wird zunächst die Genese der Netzwerksoziologie als theoretisches und methodisches Konzept nachgezeichnet. Anschließend werden die bisherigen Anwendungen der Netzwerkperspektive in der Kirchensoziologie und Pastoraltheologie dargestellt. Am Schluss soll eine Beurteilung über die Adäquatheit des Netzwerkkonzepts in der aktuellen Kirchensoziologie und Pastoraltheologie stehen.

2 DIE URSPRÜNGE DER SOZIOLOGISCHEN NETZWERKANALYSE

Die Begründung der Netzwerktheorie und -analysepraxis ist ein Gemeinschaftswerk. Die heutige Netzwerkforschung stammt aus der Zusammenführung paralleler, unterschiedlichen Fachtraditionen entspringender Entwicklungen vornehmlich in Deutschland und im angelsächsischen Raum. In Deutschland können wir Grundlagen der Netzwerktheorie in der Begründungsdebatte um die Soziologie als neue Fachdisziplin zu Beginn des 20. Jahrhunderts finden, während in Großbritannien und den USA die Netzwerkperspektive in der Psychotherapie und Anthropologie eher aus instrumentellem Interesse vorangetrieben wurde.

2.1 DEUTSCHLAND

Georg Simmel wird mit seiner Gegenstandsbestimmung der Soziologie (1908) als Begründer der relationalen Soziologie und theoretischer Ideengeber der Netzwerkanalyse betrachtet. Er beschreibt die Herausforderungen der damals neu zu begründenden Disziplin Soziologie in einem Dreischritt.

Simmel postuliert zunächst, dass Soziologie sich als Wissenschaft, welche die Gesellschaft zum Gegenstand hat, mit deren Konstitution und Formen beschäftigen muss. Diese Formen sind allerdings neben den vergesellschafteten Individuen vor allem die Wechselwirkungen zwischen ihnen.1 Somit ist Gesellschaft bei Simmel „einmal der Komplex vergesellschafteter Individuen, das gesellschaftlich geformte Menschenmaterial […]. Dann aber ist ‚Gesellschaft‘ auch die Summe jener Beziehungsformen, vermöge deren aus den Individuen eben die Gesellschaft im ersten Sinne wird“2.

Obwohl Simmel den Netzwerkbegriff nicht explizit benutzt, zeigen seine Ausführungen über die gesellschaftskonstituierenden Wechselwirkungen zwischen Individuen, dass der Begriff den Gedanken Simmels nicht fernliegt:

„[…] daß sie im allgemeinen noch nicht zu festen, überindividuellen Gebilden verfestigt sind, sondern die Gesellschaft gleichsam im status nascens zeigen – natürlich nicht in ihrem überhaupt ersten, historisch unergründbaren Anfang, sondern in demjenigen, der jeden Tag und zu jeder Stunde geschieht; fortwährend knüpft sich und löst sich und knüpft sich von neuem die Vergesellschaftung unter den Menschen, ein ewiges Fließen und Pulsieren, das die Individuen verkettet, auch wo es nicht zu eigentlichen Organisationen aufsteigt. Hier handelt es sich gleichsam um die mikroskopisch-molekularen Vorgänge innerhalb des Menschenmaterials, die aber doch das wirkliche Geschehen sind, das sich zu jenen makroskopischen, festen Einheiten und Systemen erst zusammenkettet oder hypostasiert. […] – all die tausend, von Person zu Person spielenden, momentanen oder dauernden, bewußten oder unbewußten, vorüberfliegenden oder folgenreichen Beziehungen […] knüpfen uns unaufhörlich zusammen. In jedem Augenblick spinnen sich solche Fäden, werden fallen gelassen, wieder aufgenommen, durch andere ersetzt, mit anderen verwebt.“3

In diesem Zitat wird zweierlei deutlich: Zum einen konstruiert Simmel bereits eindeutig die Beziehungsstruktur zwischen den Individuen als Mikro-MakroLink, was die spätere Netzwerkforschung weiter ausbauen und differenzieren wird. Zum zweiten ist seine Sprache, wenn von Fäden, Verknüpfen und Verweben die Rede ist, schon damals nahe an der Netz-Metapher.

In den folgenden Kapiteln seines Buches untersucht Simmel spezielle Formen und Dynamiken dieser Wechselwirkungen. Er leitet soziale Prozesse innerhalb von Beziehungs-Triaden, also Beziehungskonstellationen zwischen drei Individuen, ab. Diese bilden, bekannt als die „Simmel’schen Triaden“, bis heute die mikroskopische Grundlage für netzwerktheoretische Ableitungen.4 Zudem betrachtet er den Zusammenhang von Gruppengröße und -kohäsion.5

Auch der Kölner Professor Leopold von Wiese schlug mit seinen Arbeiten „Allgemeine Soziologie als Lehre von den Beziehungsbedingungen der Menschen“ (1924)6 und „Soziologie – Geschichte und Hauptprobleme“7, das 1926 erstmalig erschienen und bis 1971 in neun Auflagen herausgegeben wurde, eine ähnliche Richtung ein. Sein Konzept der beziehungswissenschaftlichen Soziologie war auch sein Forschungsprogramm:

„Für die beziehungswissenschaftliche Soziologie ist diese Art der Verbundenheit das Objekt der Forschung, zu dem auch jene geschichtlichen Zeitabschnitte Stoff darbieten. Man kann es auch so ausdrücken: Nicht das Produkt, sondern die Beziehungen der Produzenten sind das Forschungsgebiet. […] Die Bindungs- und Lösungsakte, die Näherungen und Entfernungen sind die Vorgänge, in denen sich das ganze zwischenmenschliche Dasein abspielt.“8

Dieses Zitat zeigt, dass eine auf sozialen Beziehungen beruhende soziologische Theoriebildung die Dynamik dieser Wechselbeziehungen einbinden muss.

Von Wiese grenzt sich dabei dezidiert einerseits von substantialistischen, sich an der Lehre biologischer Organismen orientierenden Ansätzen9 und andererseits von individualistische Gegenstandsbestimmungen10 ab. Rückblickend ist er als Ausgangspunkt für die Netzwerkanalyse insofern relevant, als er die Beziehungsstruktur schon seinerzeit als Netz erkannt und bezeichnet hat:

„Die Soziologie hat vielmehr das soziale und zwischenmenschliche Geschehen zum Gegenstande. […] Es gibt eine soziale Sphäre des menschlichen Lebens; es besteht neben den Körpern und Seelen von Einzelmenschen ein unsubstanzielles Netz von Beziehungen zwischen ihnen.“11

Zudem bemerkte von Wiese die Nähe der beziehungswissenschaftlichen Soziologie zu ihrer grafischen Veranschaulichung: „Schon die hier vorgenommene Heraushebung der Bedeutung der sachlichen Beobachtung zeigt, wie eng die beziehungswissenschaftliche Soziologie mit der Soziographie verknüpft ist.“12

Wie in diesen beiden Darstellungen zu erkennen ist, war die relationale Perspektive von der ersten Stunde an in der Fachdiskussion um die Definition der soziologischen Disziplin verankert. Die beiden Vordenker beschrieben den Stoff, aus dem die Gesellschaft ist – das Beziehungsnetz –, mit der Intention zur Theoriebildung. Die Untersuchungseinheiten, die Wechselwirkungen oder Verknüpfungen, charakterisierten sie als dynamisch und prozesshaft. Die auf dieser ersten Exploration beruhende theoretische Tradition der relationalen Soziologie ist bis heute vor allem im deutschsprachigen Raum fortgeschrieben worden.13

2.2 USA/ENGLAND

Parallel zu den theoretischen Debatten in Deutschland entwickelte der Psychiater Jacob Levi Moreno einen Therapieansatz, der nicht wie die Psychoanalyse auf die biografische Vergangenheit fixiert ist, sondern – ausgehend von aktuellen emotionalen Beziehungen zur sozialen Umwelt und zur Arbeit – für die Genesung psychisch Kranker sorgen sollte. In dem Buch „Who shall survive?“14 stellte Moreno seinen Ansatz der Soziometrie vor. Er berechnete empirisch die Popularität von SchülerInnen in Schulklassen und leitete daraus LehrerInnenverhalten ab; darüber hinaus stellte er soziale Beziehungen zum ersten Mal grafisch dar, indem er einzelne Akteure je nach Attribut durch Dreiecke und Kreise und die Beziehungen zwischen ihnen durch Verbindungslinien symbolisierte.15 Mit dieser neuen Darstellungsform und ihrer Interpretation schuf Moreno wesentliche Grundlagen für die spätere Netzwerkforschung; mehr noch: Die Art und Weise der Darstellung sozialer Beziehungen hat sich bis heute kaum verändert.

Der britische Sozialanthropologe Alfred Reginald Radcliff-Brown trug als Vertreter einer weiteren Fachtradition ebenfalls zur Entstehung der Netzwerkforschung bei. In seinem Werk „On Social Structure“ (1940) benutzte er als erster den Begriff des Netzwerks, um soziale Strukturen zu beschreiben: „But direct observation does reveal to us that these human beings are connected by a complex network of social relations. I use the term ‚social structure‘ to denote this network of actually existing relations.“16

Radcliff-Brown grenzte sich von einigen Soziologen ab, die seiner Meinung nach einzelne soziale Beziehungen in Dyaden genauestens beschrieben, während er seinen Gegenstandsbereich in der Untersuchung ganzer Beziehungsnetzwerke zwischen vielen Personen als sozialen Strukturen sah, in denen überindividuell immer wieder formgleiche Konstellationen zu finden seien.17 Möglicherweise distanzierte er sich mit dieser Aussage implizit vor allem von Simmels relationaler Soziologie, der im zweiten Kapitel seiner „Soziologie“ das Augenmerk dezidiert auf die Beschreibung von Dyaden und Triaden legte.

Aus dem strukturalistischen Ansatz Radcliffe-Browns entwickelte sich die sogenannte Manchester-Gruppe18, die den Netzwerkansatz mithilfe ethnografischer Studien methodisch19 und theoretisch20 weiterentwickelte. Diese Gruppe begründete auch die Praxis der Untersuchung von ego-zentrierten Netzwerken.21