Buch lesen: «Schlittenfahrt ins Glück»
Schlittenfahrt ins Glück
Barbara Cartland
Barbara Cartland E-Books Ltd.
Vorliegende Ausgabe ©2015
Copyright Cartland Promotions 1985
ISBN 9781782137634
Gestaltung M-Y Books
1889
„Das bedeutet“, sagte Lord Dunbarton gewichtig, „daß dir lediglich das Geld bleibt, das dir deine Großmutter vermacht hat. Und natürlich dein Schmuck.“
„Ist das wirklich alles?“ fragte Nerita.
„Du scheinst zu vergessen, daß dein Vater als bankrotter Mann gestorben ist und alles, was er besaß, seinen Gläubigern gehört.“
„Alles?“
„Absolut alles! Seine Häuser, deren Einrichtungen, seine Kleider und so weiter.“
„Das ist nicht gerecht“, sagte Nerita leise.
„Nicht gerecht?“ wiederholte Lord Dunbarton indigniert. „Wenn du das nicht gerecht findest, dann überlege dir einmal, wie deine Tante und ich da stehen. Wir haben schließlich eine gewisse Stellung in der Gesellschaft, und als Haupt der Familie bin ich außer mir - jawohl, außer mir! Dein Vater hat unseren Namen in Verruf gebracht - das wird wohl auch dir klar sein, Nerita.“
„Aber ich weiß, daß er es nicht mit Absicht getan hat“, entgegnete Nerita kleinlaut.
„Das hätte auch noch gefehlt! Allein schon das Aufsehen, das er überall erregt hat, und wie er sein Vermögen zum Fenster hinausgeworfen hat! Man kann bloß hoffen, daß sein Verhalten allen Spielernaturen eine Lehre ist, egal, ob sie nun mit Karten oder Aktien herum jonglieren.“
Die Ereignisse der letzten zwei Wochen hatten Nerita so erschüttert, daß sie keine Worte zur Verteidigung ihres Vaters fand.
Natürlich hatte er nicht gewollt, daß es so enden sollte, aber irgendwie war es typisch für ihn gewesen, daß er es nicht vorausgesehen hatte.
Und so hatte er sich das Leben genommen und einen Entschuldigungsbrief an alle hinterlassen, die ihm vertraut hatten.
Daß der „Dynamische Dunbar“, wie man ihn nannte, zu einem Zeitpunkt finanziell ruiniert sein würde, da die Wirtschaft in England blühte, hätte niemand für möglich gehalten.
Nerita war in Rom gewesen, als es passiert war. Sie hatte ein Telegramm erhalten und war sofort nach England zurückgekehrt. Der Text – Komm schnellstens - stop - Onkel Henry - hatte sie vermuten lassen, daß ihr Vater erkrankt und nicht in der Lage sei, ihr persönlich zu schreiben, doch als sie im Haus ihres Onkels am Belgrave Square angekommen war, hatte sie längst die erschütternde Wahrheit gewußt.
Sie hatte es kaum fassen können, daß ihre heile Welt so plötzlich zusammengebrochen war. Sie hatte ihren Vater geliebt und vergöttert, und ihr ganzes Sein war auf ihn konzentriert gewesen.
Nach dem Tod ihrer Mutter vor drei Jahren waren sie schier unzertrennlich gewesen, doch Sir Ralph Dunbar hatte vor etwa einem Jahr darauf bestanden, daß Nerita ihre Ausbildung abschloß.
„Ich möchte“, hatte er gesagt, „daß du fließend Sprachen sprichst. Du weißt, daß ich mich nur mit intelligenten Menschen abgebe - ganz gleich, in welchem Land ich mich gerade aufhalte. Man soll dich nicht nur bewundern, weil du ein schönes Mädchen bist, sondern auch deiner Intelligenz wegen.“
Und so war Nerita erst einmal zu einer Familie in Paris gekommen, und als sie Französisch wie ihre Muttersprache beherrscht hatte, war sie nach Rom gegangen, wo sie sechs Monate hatte bleiben sollen.
Die sechs Monate wären eigentlich im April zu Ende gewesen, und Nerita hätte für die Sommersaison nach London zurückkehren sollen, aber der plötzliche Tod einer Tante mütterlicherseits hatte ihren Vater dazu veranlaßt, den Italienaufenthalt bis zum Herbst zu verlängern.
„Solange du Trauer trägst“, hatte er gesagt, „kannst du nicht ausgehen. Aber während des Winters wirst du dann alles nachholen. Wir werden auf dem Land einen großen Ball geben und natürlich auch in London Gesellschaften abhalten. Ich möchte nicht, daß du unter ferner liefen in die Gesellschaft eingeführt wirst, sondern groß herauskommst und all diejenigen verwirrst, die glauben, daß junge Mädchen langweilig sind.“
Das allerdings stimmte. Nerita wußte, und sie wußte es nicht nur von ihrem Vater, sondern auch von Freunden, daß das wohlerzogene englische Mädchen reichlich engstirnig, wohlbehütet und erschreckend ungebildet war.
Weil jedoch der „Dynamische Dunbar“ ein Weltmann war, weil ihm jede Tür in London, Paris, Rom und Berlin offen stand, deshalb sollte auch seine Tochter ein Mädchen sein, das man überall anerkannte und akzeptierte.
Sie wurde nicht in die Obhut einer überarbeiteten, schlecht bezahlten Gouvernante gegeben, die kaum mehr wußte als ihre Schülerin, sondern wurde von Hauslehrern erzogen, die Experten in ihrem jeweiligen Fach waren. Am meisten hatte sie jedoch von ihrem Vater und dessen Freunden gelernt. Die Unterhaltungen und Gespräche, die sie hatte mitverfolgen dürfen, hatten ihren Horizont enorm erweitert.
Nerita hatte ihrem Vater eine würdige Tochter sein wollen, denn alles, was in Zusammenhang mit ihm stand, mußte außergewöhnlich und unübertreffbar sein.
Wie ein kostbarer Stein, der funkeln mußte, um der Fassung gerecht zu werden, mit der ihr Vater sie ausgestattet hatte, hatte sie im vergangenen Jahr versucht, den letzten Schliff zu bekommen.
Doch jetzt war die Fassung über Nacht verschwunden, und sie konnte sich des Gedankens nicht erwehren, daß sie die Tragödie hätte verhindern können, wäre sie bei ihm gewesen.
Der finanzielle Verlust berührte sie nicht. Sie trauerte um ihren Vater. Um den Vater, der sie immer wie einen erwachsenen Menschen behandelt und sie wie ein kostbares Stück seiner Sammlung geliebt hatte.
Und was für eine Sammlung hatte er besessen! Die Neugierde hatte selbst Königin Victoria dazu veranlaßt, sie in Buckinghamshire zu besichtigen.
Die Gesellschaft hatte durch Jahre hindurch „die in der Stadt“ ignoriert und auf sie herabgesehen.
Aber der ,Dynamische Dunbar‘ hatte dem ein Ende gemacht.
Er war der zweitälteste Sohn des ersten Lord Dunbar, der in Indien zu großem Ruhm gelangt war, doch die Dunbars als Familie gingen weit in die Geschichte zurück, und sie zu ignorieren wäre nicht ganz einfach gewesen.
Der Familienbesitz in Wiltshire war renovierungsbedürftig, die Ländereien waren schlecht bewirtschaftet, und die Situation hatte sich nur wenig verbessert, als Henry, der älteste Sohn, eine Frau geheiratet hatte, die vermögend war.
Man hätte Violet nicht als reich bezeichnen können, doch sie besaß genug Geld, um mit ihrem Mann ein Leben führen zu können, wie die Gesellschaft es forderte.
Henry Dunbar, ein Mann, der nie einen falschen Schritt tat, war der Engländer, wie er im Buche stand: konventionell, sportlich, zurückhaltend und korrekt. Er war der zweite Lord Dunbarton und tat seinem Namen alle Ehre.
Sein jüngerer Bruder war es gewesen, der Höhen angestrebt hatte, von denen er nicht einmal zu träumen gewagt hätte, und der in Tiefen gestürzt war, die für ihn unbegreiflich und beschämend waren.
Doch durch Jahre hindurch hatte alles so rosig ausgesehen.
Ralph Dunbar mit seinem spektakulären Erfolg in der Finanzwelt war ein äußerst großzügiger Mensch gewesen, und als er dann auch noch zum Ritter geschlagen wurde, hatte sein Bruder Henry in den höchsten Tönen von ihm gesprochen.
Daß er ihn jetzt jedoch, wo er sich nicht mehr verteidigen konnte, derart heruntermachte, war für Nerita unbegreiflich.
Doch, was hätte ihr Vater auch zu seiner Verteidigung vorbringen können?
Obwohl sie wenig von diesen Dingen verstand, fand sie, daß es ihm absolut nicht ähnlich sah, alles auf eine Karte gesetzt zu haben.
Aber die Goldmine in Südafrika hatte ihn zu Spekulationen verführt, und die Berichte waren so positiv und ermutigend gewesen, daß er überzeugt davon gewesen war, er und seine Freunde hätten nach der Inbetriebnahme ein für allemal ausgesorgt.
Und so waren Werzenstein-Aktien in seinem Namen auf den Markt geschleudert worden.
Alles hatte dem ,Dynamischen Dunbar‘ voll vertraut, und Nerita war selbst Zeuge gewesen, wie man ihn in London, Paris und Rom gefeiert hatte.
Nach den ersten vielversprechenden Funden hätte es niemand für möglich gehalten, daß die Goldader versiegen und das ganze Projekt so katastrophal auffliegen würde.
Aber genau das war eingetreten, und jetzt stand Nerita mit einer Apanage von hundert Pfund pro Jahr da. Dazu kam, daß ihr Name besudelt war - wie ihre Tante sich ausgedrückt hatte - und ihre Heiratsaussichten daher gleich Null waren.
„Ich denke im Moment weiß Gott nicht ans Heiraten“, hatte Nerita erwidert.
„Das solltest du aber“, hatte ihre Tante gesagt, und ihr Ton war scharf gewesen. „Was aus dir noch werden soll, ist mir ein Rätsel, und glaube bloß nicht, daß ich dich mit der Schande, die an dir klebt, in die Gesellschaft einführe.“
„Das erwarte ich auch nicht von dir, Tante Violet“, hatte Nerita entgegnet.
„Dann kann ich dir nur raten mit deinem Onkel zu sprechen. Daß er Gentleman genug ist, die Tochter seines Bruders nicht im Stich zu lassen, brauche ich nicht zu betonen, aber von mir kann man nicht erwarten, daß ich Wunder vollbringe.“
„Im Moment steht mir der Sinn wirklich nicht nach einem Gesellschaftsleben“, hatte Nerita ruhig erklärt.
„Mag schon sein“, hatte ihre Tante entgegnet. „Aber so ein Trauerjahr ist schnell vorbei, und was geschieht dann?“
Diese Frage war nicht zu beantworten.
Natürlich konnte man nicht erwarten, daß diejenigen, die durch den Bankrott ihres Vaters in Mitleidenschaft gezogen worden waren, Nerita in ihre Kreise aufnahmen, geschweige denn auch noch einluden.
Ehe sie London verlassen hatte und nach Frankreich gegangen war, war das allerdings der Fall gewesen.
„Wegen Nerita brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen, Dunbar“, hatte sie einmal einen Freund ihres Vaters sagen hören. „Wenn sie das entsprechende Alter erreicht hat, geben wir einen Ball für sie und laden alle heiratsfähigen jungen Männer von Rang und Namen dazu ein.“
Er war nicht der einzige gewesen, der derlei Versprechungen gemacht hatte. Eine ganze Reihe von Damen der Gesellschaft hatten sich erboten, für das „arme mutterlose Kind“ Feste zu geben.
Daß ihr Vater diese Feste hätte finanzieren müssen, war als selbstverständlich angenommen worden, aber es war wohl wichtig, in der entsprechenden Form in die Gesellschaft eingeführt zu werden, und Nerita wußte, daß ihr Vater zu allem bereit gewesen wäre.
Er hatte nie von ihr verlangt, den Mund zu halten und die eigene Meinung zu unterdrücken. Und daß sie nach dem Tod ihrer Mutter bei offiziellen Diners hatte dabei sein dürfen, war eine Selbstverständlichkeit gewesen.
Nerita wußte, daß ihre Tante schockiert gewesen war und ihm wiederholt gesagt hatte, man könne ein junges Mädchen nicht „herzeigen“, ehe es in aller Form in die Gesellschaft eingeführt worden sei.
Aber Nerita war eben kein gewöhnliches junges Mädchen, und im Ausland waren die Verhältnisse sowieso anders gewesen. Im Gegensatz zu den halbgebildeten, schüchternen Engländerinnen, die Schwierigkeiten hatten, sich richtig auszudrücken, waren die Französinnen gleichen Alters viel gewandter, und die Russinnen und die deutschen Mädchen sprachen zwei bis drei Fremdsprachen fließend.
„Was ich so erstaunlich finde“, hatte sie einmal eine französische Comtesse sagen hören, „ist, daß sich Ihre reichlich oberflächlichen jungen Mädchen zu den politisch einflußreichsten und mächtigsten Frauen der Welt mausern können. Mir ist das ein Rätsel.“
„Onkel Henry“, sagte Nerita jetzt völlig ruhig, „ich denke, ich sollte mir eine Beschäftigung suchen.“
„Eine Beschäftigung?“ wiederholte ihr Onkel mißtrauisch. „Was meinst du damit?“
„Vielleicht finde ich irgendwo eine Anstellung.“
„Eine Anstellung?“ Lord Dunbartons Stimme überschlug sich. „Das ist ja geradezu lächerlich! Was sagen denn die Leute, wenn ich es zulasse, daß meine Nichte ihren Lebensunterhalt selbst verdient. Ganz abgesehen davon kann ich mir nicht vorstellen, daß du dazu in der Lage wärst.“
Nerita kniff die Lippen zusammen. Der Ton ihres Onkels war verletzend. Mit ihm und seiner Frau zusammen unter einem Dach leben zu müssen, wäre die Hölle gewesen. Sich pausenlos die Nörgeleien ihrer Tante und abfällige Bemerkungen über ihren Vater anhören zu müssen, geduldet zu sein und von denen gemieden zu werden, die noch vor nicht allzu langer Zeit ihren Vater in den Himmel gehoben hatten - sie würde es nicht ertragen können.
„Ich werde dir eine gewisse Summe zur Verfügung stellen“, sagte ihr Onkel. „Da du bei uns wohnen wirst, scheinen mir fünfzig Pfund pro Jahr angemessen. Mit den hundert aus dem Erbe deiner Großmutter und meinen fünfzig dürfte das ausreichend sein. Ausgaben für Garderobe fallen ja praktisch weg, denn gesellschaftliche Verpflichtungen, das hat dir deine Tante ja schon klargemacht, wirst du vorerst nicht haben.“
„Dessen bin ich mir durchaus bewußt, Onkel Henry“, entgegnete Nerita. „Vielen Dank für dein Angebot, aber ich werde dafür sorgen, daß ich mit dem Geld meiner Großmutter auskomme. Notfalls kann ich ja auch ab und zu ein Stück von meinem Schmuck verkaufen.“
Ihr Ton war trocken und geschäftsmäßig.
Lord Dunbarton sah sie an, als sehe er sie zum ersten Mal. Dieses Mädchen war nicht nur ausnehmend hübsch, sondern obendrein von einer Intelligenz, wie man sie nur bei wenigen Frauen fand.
Die meisten der großen Schönheiten, mit denen er bisher zusammengetroffen war, waren attraktiv, immer zu einem Flirt bereit und sich ständig bewußt, daß es ihre Lebensaufgabe war, auf Männer zu wirken. Falls sie intelligent waren, waren sie jedenfalls nicht so ungeschickt, es sich anmerken zu lassen.
„Du hast eben wie dein Vater gesprochen, Nerita“, sagte ihr Onkel. „Ehe du einen weiteren Gedanken auf derlei Unsinn verschwendest, merke dir, daß du hier in dieses Haus gehörst und gut daran tust, dir deine Ideen von einem selbständigen Leben aus dem Kopf zu schlagen.“
Irgendwann später, dachte er, kann sie sich ja einer wohltätigen Sache widmen. Aber vorerst muß einmal Gras über die peinliche Angelegenheit wachsen.
„Ich bin überzeugt davon“, fuhr er fort, „daß du hier und da deiner Tante zur Hand gehen kannst, oder auch mir einmal helfen kannst. Du mußt jetzt alles mir überlassen. Ich bin dein Vormund und werde für dich und deine Zukunft tun, was ich kann.“
„Vielen Dank, Onkel Henry.“
Nerita stand auf, weil sie wußte, daß eine weitere Diskussion nichts einbrachte.
„Ich werde jetzt nach oben gehen und auspacken. Ein Gutes hat das Ganze, ich brauche in der nächsten Zeit wirklich keine neuen Kleider. Nochmals vielen Dank, Onkel Henry. Du bist sehr gütig.“
Aus seiner Sicht gesehen ist er das auch, dachte Nerita, als sie die Treppe hinaufstieg.
Aber bei dem Gedanken, diese Güte annehmen zu müssen, sträubte sich alles in ihr.
Und ihre Tante, die sich lediglich für das Gesellschaftsleben interessierte, schämte sich nicht nur, sondern sie triumphierte auch.
Jetzt konnte sie behaupten, daß sie es hatte kommen sehen, aber sie war immer eifersüchtig gewesen, daß Neritas Vater so viel reicher gewesen war als sein älterer Bruder. Voller Neid hatte sie beobachtet, wie Nerita bereits als Schulmädchen bei den teuersten Schneiderinnen und Pelzmacherinnen eingekleidet worden war und von ihrem Vater Schmuck geschenkt bekommen hatte, von dem Lady Dunbarton nicht einmal zu träumen gewagt hätte.
Alles war natürlich von ausgesucht gutem Geschmack. Nichts Auffallendes oder Knalliges - Kragen und Manschetten von teurem russischem Zobel, ein kleiner Muff aus Hermelin, passend zu dem Kragen eines streng geschnittenen Mantels aus dunkelblauem Tuch.
Die Schmuckstücke passend für ein junges Mädchen: eine Perlenkette von seltener Schönheit und kleine Brillantbroschen in Form von Schmetterlingen, Sternen und sogar ein kleiner Salamander.
„Ich freue mich schon auf den Tag“, hatte ihr Vater gesagt, „an dem ich dir ein Diadem schenken kann, das so prachtvoll ist, wie das deiner Mutter.“
Und jetzt hatte Nerita erfahren, daß dieses Diadem wie überhaupt der ganze Schmuck ihrer Mutter in der Konkursmasse untergegangen war.
Ihre Pferde, ihr Pony und der Traberwagen, mit dem sie so gerne im Park spazieren gefahren war, alles war weg.
Am meisten tat es ihr um die Bücher und um die kleinen Kunstgegenstände leid, die sie gesammelt hatte.
Da nicht zu beweisen gewesen war, daß die Sammlung ihr persönlich gehört hatte, hatte sie auch diese verloren.
Nur ihre Garderobe - aus der sie teilweise herausgewachsen war - war zusammengepackt und zum Belgrave Square geschickt worden. In dem leeren Raum neben dem Schlafzimmer, das Tante Violet ihr zugewiesen hatte, stapelten sich die Lederkoffer und Hutschachteln.
„Emily, was machen wir bloß damit?“ hatte Nerita das Mädchen gefragt, das nun schon seit sieben Jahren bei ihr war.
„Ich kümmere mich schon um die Sachen, Miss Nerita“, hatte Emily geantwortet. „Alles, was Sie noch tragen können, wird hergerichtet und aufgebügelt, und den Rest schicke ich an ein Waisenhaus oder Kinderheim.“
„Das ist eine gute Idee“, hatte Nerita entgegnet.
Und jetzt hatte ihr Onkel Henry mitgeteilt, daß auch Emily gehen mußte.
„Du kannst dir kein Mädchen mehr leisten“, hatte er gesagt. „Ich bin davon überzeugt, daß deine Tante nichts dagegen hat, wenn du gelegentlich die Dienste eines unserer Stubenmädchen in Anspruch nimmst.“
Gelegentlich - das hieß, daß ihre Tante die Meinung vertrat, daß man die Dienste einer Hausangestellten nicht in Anspruch zu nehmen hatte, wenn man finanziell knapp gestellt war.
Nerita ging es absolut nicht darum, sich selbst um ihre Garderobe und dergleichen kümmern zu müssen, sondern um die Tatsache, Emily zu verlieren, die ihr seit dem Tod ihrer Mutter zu einer echten Freundin geworden war.
Sie hatte gehofft, Emily behalten zu können, doch während des Gesprächs mit ihrem Onkel war ihr klargeworden, daß dies unmöglich war. Selbst wenn sie in der Lage dazu gewesen wäre, für Emilys Gehalt selbst aufzukommen, hätte ihre Tante ihr einen ständigen Vorwurf daraus gemacht, daß sie das Mädchen ernährte und ihm Unterkunft gewährte.
Als Nerita jetzt in ihr Zimmer kam, war Emily immer noch damit beschäftigt, die Sachen auszupacken, die sie aus Rom mitgebracht hatten.
Emily sah Nerita sofort an, daß die Dinge noch schlechter standen, als bereits befürchtet.
„Sie sehen aber niedergeschlagen aus, Miss Nerita“, sagte Emily. „Setzen Sie sich erst einmal hin, und ich mache Ihnen eine schöne Tasse Tee.“
„Nein, Emily, bleiben Sie bitte hier. Ich möchte mit Ihnen sprechen.“
Das Mädchen sah seine junge Herrin mit ängstlichem Blick an.
„Sie haben leider recht gehabt, Emily“, sagte Nerita und warf sich auf das Bett. „Außer Großmamas Geld ist nichts mehr da.“
„Das habe ich befürchtet.“
„Und Sie darf ich auch nicht behalten, Emily, und das ist schlimmer als alles andere.“ Nerita schüttelte verzweifelt den Kopf. „Ich kann Sie doch nicht auch noch verlieren!“
„Wenn ich ehrlich bin, habe ich damit gerechnet, Miss Nerita.“
„Ich wollte erst einmal mit Ihnen darüber sprechen, Emily“, sagte Nerita, „aber es müßte doch möglich sein, daß Sie bei mir bleiben können. Wenn ich meinen Schmuck verkaufe - und dafür bekomme ich wahrscheinlich eine Menge -, dann könnte ich nicht nur Ihr Gehalt aus eigener Tasche bezahlen, sondern auch noch für Ihre Kost und Logis aufkommen.“
Emily schüttelte den Kopf.
„Darauf läßt sich Ihre Tante nie ein, Miss Nerita“, sagte sie.
„Sie müssen mir helfen, Emily“, sagte sie daher.
„Wobei?“ fragte das Mädchen.
„Ich bleibe nicht hier“, erklärte Nerita. „Unter keinen Umständen. Tante Violet hat mich noch nie leiden mögen, und sie wird es mich jetzt noch mehr spüren lassen, denn je. Sie wird mich so lange quälen, bis ich es nicht mehr aushalte und vielleicht Papas Beispiel folge.“
„So etwas dürfen Sie nicht einmal denken, Miss Nerita!“ sagte Emily entsetzt. „Ich spreche wirklich nicht schlecht von den Toten, aber Ihr Vater hatte kein Recht, das zu tun, was er getan hat, und das wissen Sie so gut wie ich.“
„Aber es muß doch einen Ausweg geben“, sagte Nerita wie zu sich selbst. „Mein Onkel hat es natürlich verboten und entgegnet, daß ich hier bleiben und meiner Tante zur Hand gehen muß, aber wir wissen beide, was das heißt.“
Emilys Lippen wurden schmal.
Sie war fünfunddreißig und hatte in mehreren großen Häusern gedient, ehe sie zu Nerita gekommen war. Im Zusammenhang mit der sogenannten Gesellschaft gab es kaum etwas, was sie nicht wußte.
Sie hatte Lady Dunbarton von Anfang an richtig eingeschätzt und hatte seit ihrer Rückkehr nach England keinen Hehl daraus gemacht, wie unsympathisch sie Neritas Tante fand.
„Ich nehme an“, sagte sie plötzlich, „daß wir nicht zu den netten Leuten zurückfahren können, bei denen wir in Rom gewesen sind, oder?“
„Nein, Emily, das können wir nicht“, antwortete Nerita. „Die Comtesse würde mich nicht für ganz im Haus haben wollen. Die Situation war jetzt schon kompliziert genug.“
Emily wußte, was Nerita mit dieser Bemerkung meinte.
Die jungen italienischen Adeligen, die eigentlich der Tochter des Hauses den Hof hätten machen sollen, waren von Nerita fasziniert gewesen, und die Atmosphäre war bereits recht gespannt gewesen, als Nerita das Telegramm erhalten hatte und den Aufenthalt in Italien abrupt hatte abbrechen müssen.
Nerita überlegte krampfhaft.
Von den Familien, bei denen sie im Ausland gelebt hatte, war sicher keine bereit, einem Mädchen, das ausnehmend hübsch, aber völlig mittellos war, auf unbegrenzte Zeit Gastfreundschaft zu gewähren.
„Es wird mir nichts anderes übrig bleiben, Emily“, sagte Nerita nach einer Weile, „als mir meinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Zum Beispiel als Gouvernante.“
„Als Gouvernante?“ rief Emily, als habe sie nicht richtig gehört.
„Warum denn nicht?“ fragte Nerita. „Papa hat schließlich genug Geld für meine Erziehung ausgegeben, und Kinder mag ich gern, auch wenn ich noch nie welche unterrichtet habe.“
„Sie sehen nicht aus wie eine Gouvernante, Miss Nerita, wirklich nicht.“
Emily dachte an die Gouvernanten, die sie in ihren anderen Stellungen kennengelernt hatte. Samt und sonders waren es arme altjüngferliche Frauen gewesen, die man selten lächeln, geschweige denn lachen sah.
Im Gegensatz zu den Kinderfrauen, die meistens geliebt wurden und um die sich alles drehte, waren Gouvernanten im allgemeinen verhaßt. Nicht nur die Kinder, die sie zu unterrichten hatten, mieden sie, wo es nur ging, sondern auch die übrigen Hausangestellten.
Keine Frau wurde freiwillig Gouvernante - finanzielle Notwendigkeit zwang sie zu diesem Beruf.
Meistens stammten Gouvernanten aus der Mittelklasse. Mit einem Pastor, einem Professor oder Bankangestellten als Vater und keinen finanziellen Mitteln im Hintergrund, entschlossen sich diese Frauen zu dem unbefriedigenden Beruf, weil sie keine Aussicht hatten, einen passenden Mann zu finden.
Ihre Lage war meist bitter: unwillige, oft störrische und unkonzentrierte Kinder zum Lernen zwingen zu müssen, war nicht leicht. Dazu kam, daß sie in den großen Häusern fast ausnahmslos ein sehr einsames Leben führten, weil sie bei keiner Gesellschaft, höchstens einmal zu einem inoffiziellen Tee zugelassen waren. Und sich mit den übrigen Hausangestellten anzufreunden, hielten sie für unter ihrer Würde.
„Sie sind weder Fisch noch Fleisch“, hatte einmal jemand gesagt.
Emily hatte höflich gelacht, aber nicht so recht verstanden, was gemeint war. Jetzt jedoch wußte sie, daß es stimmte.
Und ihre geliebte Miss Nerita spielte mit dem Gedanken, Gouvernante zu werden?
„Unmöglich!“ rief Emily daher.
„Welche Möglichkeiten habe ich denn sonst?“ fragte Nerita. „Ich habe doch keinen richtigen Beruf erlernt.“
Emily runzelte die Stirn und überlegte.
Sie liebte Nerita, wie sie noch nie einen Menschen geliebt hatte. Höchstens den jungen Mann, der sie verehrt hatte, als sie kaum siebzehn gewesen war.
Ihr Vater hatte ihn verjagt, und seitdem hatte es keinen anderen gegeben.
Das war traurig, denn Emily wäre eine gute Ehefrau und eine hingebungsvolle Mutter gewesen. Sie gehörte zu den Menschen, die andere verwöhnen, in den Arm nehmen und alles für sie tun wollten.
Nach ihren Stellungen bei weltgewandten Damen, die sehr wohl ohne sie hätten auskommen können, hatte Emily bei der damals zwölf Jahre alten Nerita alles nachholen können, was ihr bis dahin gefehlt hatte. Sie hatte endlich einen Menschen gefunden, den sie hatte bemuttern können.
„Wenn wir etwas finden könnten, wo wir beide gebraucht werden“, sagte sie jetzt, „dann machen Sie sich bitte wegen meiner Bezahlung keine Gedanken. Ich bleibe umsonst bei Ihnen.“
„Das erlaubt meine Tante bestimmt nicht“, entgegnete Nerita.
„Allerdings nicht, und deshalb braucht man sie gar nicht erst zu bitten“, erwiderte Emily.
„Sie hat sich schon immer darüber aufgeregt, daß ich ein Mädchen für mich ganz allein habe. Noch dazu jemand, der so tüchtig ist wie Sie, Emily.“ Nerita schüttelte den Kopf. „Das arme, abgearbeitete Ding, das sie täglich frisieren muß, wird pausenlos beschimpft und zurechtgewiesen, weil es Ihnen nicht das Wasser reichen kann.“
„Ich möchte bei Ihnen bleiben, Miss Nerita, aber ich weiß wirklich nicht, wie wir das machen sollen.“
„Es wird uns schon etwas einfallen“, sagte Nerita. „Eines steht jedenfalls fest: ich bleibe nicht hier, und wenn sich mein Onkel auf den Kopf stellt.“
„Sie werden wohl bleiben müssen, Miss Nerita.“
„Nein!“
Neritas Ton war so entschieden, daß Emily es aufgab.
Wenn Nerita einmal einen Entschluß gefaßt hatte, dann war nicht mehr daran zu rütteln, das wußte Emily aus Erfahrung.
„Sie hätten ein Junge werden sollen, Miss Nerita“, hatte sie einmal gesagt.
Nerita hatte sie daraufhin mit den großen grauen Augen so erstaunt angesehen, daß Emily hatte lachen müssen und eingesehen hatte, daß diese Idee wirklich absurd war.
Sie ist das schönste Mädchen unter der Sonne, dachte sie jetzt, und wenn jemand nicht dazu geboren ist, sich seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen, dann sie.
Nerita war von einer sehr ungewöhnlichen Schönheit, und wer sie sah, war von den großen, ausdrucksvollen Augen fasziniert.
Ihre Haut war wie weißer Marmor, ihr helles Haar hatte nicht den üblichen goldenen Schimmer, sondern erinnerte an einen Morgenhimmel, auf dem noch der graue Schleier der schwindenden Nacht lag.
Schlank und graziös - Nerita hatte von klein auf Ballett- und Reitunterricht erhalten -, war sie von einer Anmut, die einen Teil ihrer atemberaubenden Schönheit ausmachte.
Sie bewegte sich wie ein junger Faun, und es war nicht erstaunlich, daß sie in den schlicht geschnittenen, aber selten eleganten Kleidern, die nur ein Worth entwerfen konnte, an eine griechische Göttin erinnerte.
Zum ersten Mal kam Emily der Gedanke, daß eine Gouvernante auch peinlichen Avancen ausgesetzt sein konnte.
In einer ihrer Stellungen war die Gouvernante nicht nur vom Herrn des Hauses, sondern auch von dessen ältestem Sohn bedrängt worden.
Die Sache hatte geendet, wie sie hatte enden müssen: die Gouvernante war ohne Referenzen aus dem Haus gejagt worden, während die Männer, die der Anlaß dazu gewesen waren, unbeschadet davongekommen waren.
Emily hatte damals gedacht, daß das eben so war im Leben, aber daß dieses Leben eventuell Miss Nerita ebenso übel mitspielen sollte, diesen Gedanken wollte Emily nicht einmal an sich herankommen lassen.
„Es muß doch noch eine andere Möglichkeit geben, Miss Nerita“, sagte sie jetzt. „Vielleicht irgendeine Stellung in einer Bibliothek.“
„Wir machen folgendes, Emily“, entgegnete Nerita und stand vom Bett auf. „Morgen gehen wir zu so einer Stelle, wo man Hausangestellte bekommen kann, und erkundigen uns, was es für Angebote gibt.“
„Meinen Sie ein Vermittlungsbüro?“
„Genau!“ rief Nerita. „Ich erinnere mich noch daran, wie unsere Haushälterin nach dem Tod von dem armen alten Dawes meinem Vater vorgeschlagen hat, über so ein Büro ein tüchtiges Mädchen zu engagieren.“
„Stimmt, daran erinnere ich mich auch noch“, sagte Emily. „Damals kam Mrs. Jones, und sie war ja wirklich eine sehr tüchtige Kraft.“
„Wissen Sie zufällig, welches Büro sie vermittelt hat?“ fragte Nerita.
„Ich glaube schon. Es ist in der Mount Street. Ich war selber schon einmal dort, aber Sie können da nicht hingehen, Miss Nerita.“
„Natürlich kann ich da hingehen, Emily“, sagte Nerita. „Allerdings werde ich nicht so dumm sein, mich mit meinem richtigen Namen vorzustellen. Und außerdem werde ich behaupten, daß ich schon eine Stelle als Gouvernante hatte.“
„Das glaubt man Ihnen nicht, weil Sie kein Zeugnis vorweisen können.“
„Mit dem Einwand habe ich gerechnet, aber das dürfte das geringste Problem sein.“
„Wie meinen Sie das?“ fragte Emily.
„Ganz einfach“, antwortete Nerita. „Ich stelle mir und Ihnen eben ein Zeugnis aus.“
Emily sah Nerita entsetzt an.
Nerita hob beschwichtigend die Hand. „Lassen Sie mich erst ausreden, ehe Sie protestieren, Emily“, sagte sie. „Wenn Sie ein Zeugnis vorlegen, das von mir und mit meinem richtigen Namen unterschrieben ist, bekommen Sie im Moment nirgends eine Anstellung, habe ich recht?“
Daran hatte Emily bisher noch nicht gedacht, aber sie wußte, daß Nerita tatsächlich recht hatte.
Daß Sir Ralph keines natürlichen Todes gestorben war, hatte sich schnell herumgesprochen, und wahrscheinlich war niemand bereit, eine Hausangestellte „dieses Mannes“ zu übernehmen.
Nerita überlegte.
„Als ich damals die Einladungen für die Contessa geschrieben hatte“, sagte sie schließlich, „hat sie mir einen ganzen Stoß von ihrem Briefpapier gegeben. Ich glaube, in meiner Briefmappe liegen noch ein paar Blätter davon.“
„Ich sehe einmal schnell nach, Miss“, sagte Emily und verschwand im Nebenzimmer.