Buch lesen: «Nur die Liebe zählt»
Nur die Liebe Zählt
Barbara Cartland
Barbara Cartland E-Books Ltd.
Vorliegende Ausgabe ©2018
Copyright Cartland Promotions 1987
Gestaltung M-Y Books
1 ~ 1890
Die Duchesse de Monreuil schritt mit der Grazie, für die sie in ganz Europa berühmt war, die Treppe hinunter. Der Hoteldirektor, der sich in der Halle aufhielt, eilte ihr entgegen.
„Guten Morgen, Madame“, begrüßte er sie auf Französisch.
Sie antwortete auf Portugiesisch, seiner und ihrer Muttersprache: „Guten Morgen, Senhor. Ein schöner Tag heute, nicht wahr?“
„Sehr schön, Madame. Die Sonne scheint überall, wohin Sie gehen.“
Als sie das Kompliment mit einem Lächeln quittierte, redete er weiter. „Der Wagen, den ich für Sie bestellt habe, wird in wenigen Minuten da sein. Möchten Sie im Salon warten, Madame?“
„Nein, ich warte lieber hier.“
Sie nahm in einem Sessel vor dem Schreibtisch Platz, der in der Mitte der großen Empfangshalle des Grand Hotels stand.
Das Kleid, das die Herzogin trug, stammte ganz offensichtlich aus Paris. An ihren Ohren und den langen, schlanken Fingern funkelten kostbare Juwelen.
„Erzählen Sie“, forderte sie den Hoteldirektor auf. „Was ist in Lissabon geschehen, seit ich zum letzten Mal hier war?“
Schon während sie die Frage stellte, wußte sie, daß sie das besser nicht getan hätte.
Als sie seinerzeit in der Stadt gelebt hatte, die als die schönste in Europa galt, hatte sie Qualen erlitten, die sie zu vergessen wünschte. Zweiunddreißig Jahre waren seit damals vergangen.
Trotzdem erinnerte sie sich noch an jedes Haus und jede Straße, als ob es erst gestern gewesen wäre. An das blaue Meer, das in der Sohne glitzerte, die prächtigen alten Gebäude, die Blumen, die überall blühten. Besonders deutlich erinnerte sie sich an die Blumen, die die Händler in Körben rund um die steinernen Springbrunnen zum Verkauf anboten.
Als sie am vergangenen Abend eingetroffen und ihr der für Lissabon typische Geruch in die Nase gestiegen war, wußte sie, daß sie einen Fehler begangen hatte. Wenn sie ihrem ersten Impuls gefolgt wäre, wäre sie heute morgen auf der Stelle wieder abgereist und nach Paris zurückgekehrt.
Es hatte einiger Willenskraft bedurft, dieses Land noch einmal zu besuchen. Jetzt ließ es ihr Stolz, der einen Teil ihrer Charakterstärke ausmachte, nicht zu, vor sich selbst als Feigling dazustehen. Sie mußte den Geist, der sie schon so lange verfolgte, endlich zur Ruhe bringen, diesen Geist, von dem sie befürchtete, er würde ihr bis ans Ende ihrer Tage keine Ruhe lassen.
Sie hatte versucht, ihn zu vergessen, wenn man ihr in Frankreich, Monte Carlo, Griechenland, Ungarn, Wien und in London gehuldigt hatte. Sie hatte sich eingeredet, daß sie nicht an ihn denken durfte. Und doch war er immer dagewesen.
Wenn sie die Augen schloß, sah sie vor sich so deutlich sein schönes Gesicht, als ob es gestern gewesen wäre.
„Liebling, kleine Ines, ich liebe dich.”
Seine tiefe Stimme klang ihr nach den vielen Jahren immer noch in den Ohren.
„Du bist mein, ganz und gar mein. Ich bin der einzige Mann in deinem Leben.“
Prophetische Worte, die sich als wahr erwiesen. Obwohl sie nicht mehr die Jüngste war, war es ihr nicht gelungen, sich von ihm zu lösen.
Mit einiger Mühe kehrte sie aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurück.
„Können Sie meine Neugier befriedigen?” fragte sie den Hoteldirektor, der neben ihrem Sessel stand. „Wer lebt jetzt, nachdem der Marques Juan de Oliveira Vasconles tot ist, im Palace da Azul?“
„Sein Sohn, Madame, der Marques Alvaro.“
„Sein Sohn? wiederholte die Duchesse. „Ich wußte nicht, daß er einen Sohn hat.“
„O doch, Madame. Der Marques Alvaro ähnelt seinem Vater sehr. Gebildet, gutaussehend, charmant ... ich denke, er muß inzwischen über dreißig sein.“
„Ich hatte ja keine Ahnung“, sagte sie leise.
„Madame, haben Sie den Marques Juan gekannt, als Sie damals hier waren?“
Die Duchesse schloß sekundenlang die Augen. Dann antwortete sie mit einer Stimme, die ihr selbst fremd in den Ohren klang: „Ja ... ich bin ihm begegnet.“
„Dann werden Sie sich bestimmt noch an ihn erinnern. Er sah phantastisch aus, wenn er eines seiner Pferde ritt.“
„Und der neue Marques - sein Sohn?“
„Er gleicht in jeder Beziehung seinem Vater. Die jungen Männer im Lande bewundern ihn als Reiter. Seine Pferde gewinnen bei den wichtigsten Rennen alle Preise.“
Der Hoteldirektor setzte lächelnd hinzu: „Wir sind sehr stolz auf den Marques Alvaro, genau wie wir stolz auf seinen Vater waren.“
Wieder schloß die Duchesse die Augen. Im Geist erblickte sie den Marques Juan, wie der Hoteldirektor ihn beschrieben hatte. Er saß auf einem mächtigen schwarzen Hengst und kam geradewegs auf sie zugeritten.
Als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, schien er direkt von den Bergen heruntergekommen zu sein. Nicht von ungefähr glaubten die einfachen Leute, daß dort die Götter wohnten. Ines hatte ihn immer als einen Gott betrachtet, von dem Augenblick an, als sie ihn zum ersten Mal gesehen, er sie in die Arme genommen und sein eigen genannt hatte.
Kein Mädchen, sei es auch noch so unschuldig und unerfahren, hätte dem Marques Juan widerstehen können.
„Vielleicht möchte sich Madame bei Ihrer Ausfahrt den Palace da Azul anschauen“, schlug der Hoteldirektor vor. „Er ist noch eindrucksvoller als früher. Der neue Marques hat sich die Renovierung einiges kosten lassen. Vor allem die Gärten sind einzigartig schön.“
Die Duchesse seufzte. Sie hatte die Gärten mit den Marmorspringbrunnen, deren Wasserfontänen in der Sonne in allen Regenbogenfarben funkelten, nicht vergessen.
Plötzlich schien der Duft der weißen und rosafarbenen Kamelien die Luft zu erfüllen. Juan hatte behauptet, die Götter hätten diese Blüten als passenden Hintergrund für ihre Schönheit geschaffen.
Da gab es japanische Brücken, Felsengärten, Pavillons und Grotten. An jedem einzelnen dieser Orte hatte Juan sie geküßt.
In den Gewächshäusern hatte er Orchideen für sie gepflückt, von denen es keine an Schönheit mit ihr aufnehmen konnte, wie er ihr ins Ohr geflüstert hatte.
Ja, sie erinnerte sich noch gut an den Palace da Azul mit seinen gotischen Zinnen, arabischen Minaretts, Renaissance Kuppeln und Terrassen.
Es war ein Märchenschloß gewesen und Juan der Märchenprinz, der darin lebte.
Niemals würde sie die heißen Sommer vergessen, die sie zusammen dort verbracht hatten.
Nur wenn seine Verwandten ihn besuchten oder wenn er zur Rennsaison seine aristokratischen Freunde einlud, wurde sie in das kleine Haus am Fuße des Hügels verbannt. Dort wurde sie von ein paar freundlichen älteren Dienstboten versorgt, bis sie wieder mit Juan vereint war.
Später wußte sie, daß sie in einer Traumwelt gelebt hatte. Wie ein Kind hatte sie sich nie darüber Gedanken gemacht, daß der Tag kommen mußte, an dem sie mit der Realität konfrontiert würde.
Juan hatte sie nach Paris mitgenommen und ihr Kleider und Juwelen geschenkt, wie sie sie in ihren kühnsten Träumen nie zu besitzen gehofft hätte. Sie hatte sich damit geschmückt, um für ihn schön zu sein.
Auf seiner Jacht hatten sie ausgedehnte Reisen in fremde Länder unternommen. Rückblickend konnte sie sich kaum noch an Einzelheiten erinnern. Woran sie sich erinnerte, das waren seine Küsse, seine Zärtlichkeiten und das selige Entzücken, das sie empfunden hatte, wenn sie in seinen Armen lag.
„Der Palace da Azul wird Ihnen bestimmt gefallen, Madame“, versicherte der Hoteldirektor. „Wenn wir unter uns waren, haben wir früher darüber gelacht. Schließlich war der Palast nicht für unseren König bestimmt. Inzwischen haben wir unsere Meinung geändert. Es residiert ein König darin - der Marques Alvaro.“
Die Duchesse überlegte, wie lange sie es noch ertragen konnte, weiter zuzuhören. Eine Unterbrechung rettete sie.
Neben dem Direktor stand ganz plötzlich ein Mädchen, das ihn flehend von der Seite anschaute.
„Senhor, gestatten Sie, daß ich den Damen, die hier wohnen, meine Handarbeiten zeige“, bat es mit leiser Stimme.
Er machte eine abwehrende Handbewegung, doch das Mädchen ließ sich nicht vertreiben.
„Ich bitte Sie, Senhor, helfen Sie mir. Sie haben es doch auch schon früher getan. Ich bin dem Verhungern nahe. Außerdem habe ich kein Geld, um Material für weitere Handarbeiten zu kaufen.“
Der Direktor war kein hartherziger Mann. Aus einem Impuls heraus wandte er sich an die Herzogin.
„Madame, ich rate Ihnen, sich die wunderbaren Handarbeiten anzuschauen, die diese junge Frau von Zeit zu Zeit hier anbietet. Seien Sie versichert, daß sie von höchster Qualität sind. Sie werden in der Stadt nicht leicht etwas Ähnliches bekommen.“
Die Duchesse, die völlig mit ihren Gedanken beschäftigt war, wollte schon ablehnen. Bei näherer Betrachtung konnte sie jedoch nicht umhin zu bemerken, daß dieses Mädchen außergewöhnlich schön war.
So schön wie sie selbst vor dreißig Jahren, als Juan sie zum ersten Mal gesehen hatte. Wie durch einen unerklärlichen Zauber glaubte sie plötzlich ihr eigenes jüngeres Gesicht zu sehen.
Das Mädchen unterschied sich in ihrem Äußeren beträchtlich von den üblichen Portugiesinnen. Es hatte dunkle Haare wie die Madonnen auf den Bildern in den Kathedralen, dazu merkwürdigerweise strahlendblaue Augen.
Die Duchesse glaubte zuerst, sich getäuscht zu haben. Dann stellte sie fest, daß die Augen unter den dichten, dunklen Wimpern von einem tiefen und leuchtenden Blau waren, das sie an das Mittelmeer denken ließ.
Das Mädchen hatte ein zartes, herzförmiges Gesicht mit einer kleinen, geraden Nase und einem hübsch geschwungenen Mund. Es hatte zweifellos nicht übertrieben, als es vom Verhungern gesprochen hatte. Die Konturen des Kinns wirkten unnatürlich scharf. Die Knöchel an den Handgelenken traten hervor. Die Finger, in denen sie das Päckchen mit der Handarbeit hielt, zitterten.
„Zeigen Sie mir, was Sie anzubieten haben“, sagte die Duchesse.
Das Mädchen kniete sich auf den Boden zu Füßen der Herzogin und faltete ein Stück graues Baumwolltuch auseinander. Darunter kam ein Nachthemd aus Seide mit ekrufarbenen Spitzenapplikationen zum Vorschein.
Ein Blick genügte, und die Duchesse erkannte, daß es sich in der Tat um eine außergewöhnliche Arbeit handelte.
So außergewöhnlich, daß sie in scharfem Ton fragte: „Haben Sie das ganz allein gemacht?“
„Ich wurde im Kloster erzogen, Donna“, erwiderte das Mädchen. „Die Nonnen sind für die Feinheit ihrer Handarbeiten bekannt.“
„Ich kaufe Ihnen das Nachthemd ab, wie auch alle anderen Teile, die Sie angefertigt haben“, sagte die Duchesse.
Das Mädchen stieß einen leisen Schrei aus. Die blauen Augen füllten sich mit Tränen.
„Ich danke Ihnen ... Sie haben mich gerettet. Als ich herkam, wußte ich, daß dies meine letzte Chance sein würde, um weiterzuleben.“
„Sie sind noch so jung. Wie können Sie da ans Sterben denken?“ fragte die Duchesse.
Dabei erinnerte sie sich noch gut an die Qualen, die sie selbst erlitten hatte, als sie entschlossen gewesen war, in den Tod zu gehen. Auch sie war, wenn auch auf ganz andere Weise, im letzten Augenblick gerettet worden.
„Das Leben ist etwas sehr Kostbares“, sagte sie laut, obwohl sie sich bei diesen Worten ziemlich scheinheilig vorkam. Ihr war es gar nicht kostbar erschienen, als sie im Alter dieses Kindes gewesen war. Sie hätte den Tod einem Leben ohne Juan und ohne Liebe vorgezogen.
„Ich habe noch zwei fertige Wäschestücke zu Hause“, erklärte das Mädchen. „Darf ich die Sachen holen und Ihnen zeigen, Donna?“
Die Duchesse lächelte über ihren Eifer. Wie einfach war es doch, großzügig zu sein, wenn man es sich leisten konnte.
„Bitte entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche“, sagte der Hoteldirektor. „Ihre Kutsche steht vor der Tür.“
Die Duchesse erhob sich aus ihrem Sessel.
„Sorgen Sie dafür, daß die Sachen, die diese junge Frau zu verkaufen hat, in meine Suite gebracht werden“, befahl sie. „Und bezahlen Sie, was sie dafür verlangt.“
Nach kurzem Nachdenken änderte sie ihre Meinung.
„Kommen Sie, ich werde Sie nach Hause bringen“, wandte sie sich an das Mädchen. „Dort können Sie mir zeigen, was Sie sonst noch gearbeitet haben.“
„Sie sind sehr großzügig, Madame“, mischte sich der Hoteldirektor ein. „Ich versichere Ihnen, daß diese junge Frau absolut vertrauenswürdig ist.“
„Das habe ich mir schon gedacht“, erwiderte die Duchesse.
Während sie durch die Halle ging, beeilte sich der Direktor, vor ihr die Tür zu erreichen, um diese zu halten.
Das Mädchen folgte ein wenig zögernd. Es überlegte, ob die Dame das Angebot ernst gemeint hatte, sie in der Kutsche mitfahren zu lassen, oder ob sie sie mißverstanden hatte.
Vor dem Eingang wartete ein offener Wagen. Die beiden Pferde, die das Gespann bildeten, wirkten wohlgenährt. Auf dem Bock saßen der Kutscher und ein Reitknecht.
Ein Portier in der Livree des Grand Hotels öffnete die Tür und half der Duchesse beim Einsteigen. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß sie bequem saß, legte er ihr eine leichte Decke über die Knie.
Da das Mädchen zögernd stehen blieb, forderte der Hoteldirektor es in scharfem Ton auf, ebenfalls einzusteigen. Es gehorchte, nachdem es der Herzogin einen ängstlichen Blick zugeworfen hatte.
„Beabsichtigen Sie wirklich, diese junge Frau nach Hause zu bringen, Madame?“ erkundigte sich der Direktor mit besorgter Miene.
Er befürchtete offenbar, die Fahrt würde in einen sehr unschönen Teil der Stadt führen.
„Ja, ich habe diese Absicht“, bestätigte sie. „Wo leben Sie, mein Kind?“ wandte sie sich an das Mädchen.
Die Adresse, die es nannte, befand sich in einer armen, aber respektablen Gegend in Meeresnähe. Der Direktor wiederholte sie für den Portier, der den Kutscher informierte.
Die Kutsche setzte sich in Bewegung. Da die Herzogin kein Wort äußerte, brach das Mädchen nach einiger Zeit das Schweigen. Es benutzte die Anrede, die es von dem Hoteldirektor gehört hatte.
„Sie sind sehr liebenswürdig, Madame. Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.“
„Wie heißen Sie?“
„Felicita Galvao, Madame.“
„Leben Sie bei Ihren Eltern?“
Eine kleine Pause entstand. Schließlich antwortete das Mädchen mit einer Stimme, der man den Kummer anmerkte.
„Mein Vater ist im vergangenen Jahr gestorben, meine Mutter vor zwei Monaten.“
„Wo leben Sie dann?“
„In der Pension, in der meine Mutter und ich die letzten sechs Monate ihres Lebens gewohnt haben. Die Wirtin hat viel Geduld bewiesen. Ich schulde ihr schon für zwei Monate die Miete und Geld für die Mahlzeiten.“
Als keine Reaktion erfolgte, fuhr das Mädchen fort: „Die Frau ist sehr arm. Wenn Sie mir heute nicht geholfen hätten, hätte ich ihr nicht länger zur Last fallen dürfen.“
„Was werden Sie anfangen, wenn Sie Ihr Geld bekommen haben?“ wollte die Duchesse wissen.
„Ich werde weiterarbeiten und hoffen, daß Gott mir hilft, wie er es heute getan hat, Madame.“
„Das sind nicht gerade sichere Zukunftsaussichten.“
Das Mädchen machte eine kleine hilflose Handbewegung, die ohne Worte zeigte, daß ihr gar nichts anderes übrigblieb.
„Wie alt sind Sie?“ fragte die Duchesse.
„Achtzehn, Madame.“
Das war wirklich eine seltsame Übereinstimmung. In diesem Alter - drei Tage, nachdem sie achtzehn Jahre alt geworden war - war die Herzogin dem Marques Juan zum ersten Mal begegnet.
Sie war allein am Strand spazieren gegangen, obwohl man ihr das verboten hatte. Es war niemand dagewesen, um sie zu begleiten, und sie hatte sich nach frischer Luft gesehnt.
Der Hund, den sie bei sich hatte, bot ihrer Meinung nach mehr Schutz als die alten Diener, die nur ungern die warme und gemütliche Küche verließen. Dazu kam, daß sie sich als dienstfrei betrachteten, wenn ihre Eltern abwesend waren.
Es war ein schöner, sonniger Tag gewesen. Eine leichte Brise wehte. Da sie allein war, hatte sie Schuhe und Strümpfe ausgezogen, um im Wasser waten zu können.
Voller Lebenslust warf sie einen Stock so weit wie möglich ins Wasser. Ihr Hund, der bellend herumgetobt hatte, schwamm sofort hinterher, um ihn zu holen. Der Anblick war so komisch, daß sie hellauf lachte. Die dunklen Locken flogen ihr wild um den Kopf. Vom schnellen Laufen war ihr Hut heruntergerutscht und hing an den Bändern auf ihrem Rücken.
Wieder warf sie den Stock ins Meer, und der aufgeregte bellende Hund folgte ihm.
In diesem Augenblick entdeckte sie den Mann, der sein Pferd hinter ihr angehalten hatte. Er kam ihr wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt vor. Kein Mann aus Fleisch und Blut konnte so aufregend, so majestätisch und so überwältigend gut aussehen. Sie starrte ihn an wie einen Geist. Aus irgendeinem unbekannten Grund vermochte sie den Blick nicht von ihm zu wenden.
Der Mann ritt ein wenig näher heran und fragte mit tiefer Stimme, die etwas Magisches hatte: „Wie heißen Sie?“
„Ines.“
„Ein hübscher Name für eine wunderschöne Frau,“
Sie errötete. Plötzlich wurde sie sich ihrer zerzausten Haare, ihrer bloßen Füße und der Tatsache bewußt, daß sie mit einer Hand den Rock raffte, um den Saum nicht naß werden zu lassen.
„Ich habe mit meinem Hund gespielt“, erklärte sie unnötigerweise.
„Das Tier hat in der Wahl seiner Herrin Glück bewiesen.“
So hatte alles begonnen.
Ines und er gingen am Strand entlang bis zu einem kleinen Hügel. Dort setzten sie sich ins Gras und redeten. Der Marques erkundigte sich nach allem Wissenswerten über ihre Person.
Sie erzählte ihm, daß ihre Eltern vereist waren. Ihr Vater besuchte eine Firma in Oporto, die ein neues Geschäftsgebäude errichten wollte. Er beabsichtigte, sich um die Planung zu bewerben.
„Ihr Vater ist also Architekt“, stellte der Marques fest.
„Ja. Von ihm stammen einige Bauten in Lissabon. Im Augenblick ist die Lage schwierig. Die Leute haben nicht genug Geld für die Bauweise, die mein Vater bevorzugt.“
Der Marques hörte interessiert zu, zumindest hatte es den Anschein.
Dann wechselten sie das Thema und sprachen über Dinge, die sie selbst betrafen. Ines wußte, daß sie etwas Verbotenes tat, willigte aber trotzdem ein, am Abend mit ihm zu dinieren.
Das wunderbare Mahl, das aus mehreren exquisiten Gängen bestand, fand bei Kerzenlicht statt. Als der Marques sie in seiner eleganten Kutsche nach Hause brachte, küßte er sie. Ines mußte sich eingestehen, daß sie sich auf den ersten Blick in diesen faszinierenden Mann verliebt hatte.
Faszinierend war genau das richtige Wort, um ihn zu beschreiben. Keine Frau, es sei denn sie wäre aus Stein, hätte Juan widerstehen können.
„Wir sind da, Madame“, sagte Felicita, der das Schweigen zu lange gedauert hatte, ein bißchen beklommen.
„O ja, natürlich“, erwiderte die Duchesse, die sich mühsam aus ihren Erinnerungen löste. „Laufen Sie, mein Kind, und holen Sie die Handarbeiten, die Sie mir versprochen haben.“
Auf Felicitas Gesicht erschien ein Lächeln, das sie noch schöner machte als zuvor.
„Ich habe beinahe Angst, Madame, Sie könnten verschwinden wie Aschenbrödels Kutsche und ihre Feen-Großmutter.“
„Ich werde nicht verschwinden“, versprach die Duchesse.
Der Reitknecht, der vom Bock gesprungen war, öffnete die Kutschentür.
Felicita sprang auf den Boden und lief die Stufen zu einem schäbigen Haus hinauf, als ob sie Flügel hätte.
Die Duchesse spürte förmlich die Erregung, die das Mädchen erfüllte. Als sie an dem Nachmittag nach ihrem Zusammentreffen mit dem Marques nach Hause gelaufen war, hatte sie Ähnliches empfunden.
Seltsam, daß dieses junge Mädchen ihr Juan so lebhaft ins Gedächtnis zurückrief. Es war beinahe so, als ob er plötzlich neben ihr säße.
Genauso deutlich erinnerte sie sich der Qualen, die sie fünf Jahre später erlitten hatte, als er ihr seine Ehe ankündigte.
Als sie an jenem verhängnisvollen Morgen erwachte, klopfte ihr Herz voller Vorfreude. Sie erwartete Juan, der an diesem Tag aus England zurückkehren wollte. Er war nach Ascot gefahren, um die königlichen Pferderennen zu besuchen. Sein bestes und schnellstes Pferd war zur Teilnahme am Golden Cup-Rennen gemeldet worden.
Juans Wunsch entsprechend, hatte sie für den Sieg seines Pferdes gebetet. Sie hatte außerdem gebetet, daß er nicht allzu lange fortbleiben und sie nach seiner Rückkehr genau so glücklich sein würde wie vor seiner Abreise.
Sie wartete in dem schönen Haus, das er im Außenbezirk von Estoil für sie gekauft hatte. Das kleine Haus in der Nähe des Palace da Azul war nicht geräumig genug, wenn er längere Zeit bei ihr zu bleiben wünschte. Außerdem fanden sie es beide unbequem, daß sie ständig im Palace ein- oder ausziehen mußte, wenn er verpflichtet war, Gäste einzuladen.
Daher bewohnte sie jetzt ein vergleichsweise großes und sehr bequemes Haus. Vier Diener sorgten für ihr Wohlbefinden. Ihr Garten konnte sich beinahe mit dem messen, der zum Palace gehörte.
Juan hatte sich ihrem Vater gegenüber sehr großzügig gezeigt und ihn auf seinen verschiedenen Besitztümern in ganz Portugal als Architekt beschäftigt.
Ihre Eltern hatten zunächst vor dem, was ihre Tochter tat, die Augen verschlossen. Auf Ines’ Mitteilung, daß sie sich entschlossen habe, sie zu verlassen, reagierten sie allerdings mit Bestürzung. Ihre Mutter weinte. Es blieb ihnen aber nichts anderes übrig, als sich in das Unvermeidliche zu fügen. Andererseits flößte ihnen der Marques Hochachtung und Ehrfurcht ein. Die Katastrophe war daher in ihren Augen nicht ganz so groß, wie sie es in einem anderen Fall wohl gewesen wäre.
Ines betrachtete den Marques, mit dem sie nach landläufiger Meinung in Sünde lebte, als ihren Ehemann. Er war der Mann, zu dem sie gehörte.
Der Gedanke, daß er bald wieder da war, versetzte sie in Erregung ~ ähnlich der, die sie an dem Tag empfunden hatte, als er ihr Liebhaber geworden war.
Heute abend werde ich in seinen Armen liegen und ihm sagen, daß ich ihn liebe und wie leer meine Tage ohne ihn waren, dachte sie, während sie ihr schönstes Kleid anzog.
„Ich liebe ihn“, teilte sie der Sonne und den Wellen mit, die gegen den Strand schlugen. „Ich liebe ihn“, sagte sie leise vor sich hin, während sie durch den Garten ging.
Sie schnitt Rosen ab, die das Wohn- und Schlafzimmer mit ihrem Duft erfüllen sollten. Der Blumenschmuck sollte einen schönen Hintergrund für ihre Liebe ergeben.
Juan kam gegen sechs Uhr abends. Als er in den Salon trat, stand sie einen Augenblick ruhig da und schaute ihn nur an. Dann flog sie schneller, als ihre Füße sie tragen wollten, in seine Arme.
„Juan!“
Die Stimme blieb ihr vor Aufregung in der Kehle stecken. Ihr Herz klopfte wie wild.
Als er sie küßte, wußte sie sofort, daß etwas nicht stimmte. Seine Lippen vermittelten ihr die gleiche Seligkeit, die sie immer bei seinen Küssen empfunden hatte. Nur von der Leidenschaft, an die sie gewöhnt war, war nichts zu spüren.
„Liebling, endlich bist du wieder da“, flüsterte sie inbrünstig. Es klang wie eine Hymne der Dankbarkeit, nachdem sie es so lange ohne ihn hatte aushalten müssen.
Als sie den Kopf hob und den Ausdruck in seinen Augen sah, fragte sie ängstlich: „Ist etwas nicht in Ordnung?“
Er entließ sie aus seinen Armen und ging durchs Zimmer. Mit dem Rücken zum Kamin, seiner Lieblingsstellung, blieb er stehen.
„Warum soll etwas nicht in Ordnung sein?“
„Ich weiß, daß es so ist“, erwiderte Ines. „O Liebling, was ist während deiner Abwesenheit geschehen?“
Ein Schweigen breitete sich aus, das so tief war, daß Ines ihr eigenes Herz klopfen hörte.
„Ich hatte nicht vor, heute abend darüber zu sprechen“, sagte der Marques schließlich.
„Worüber wolltest du nicht reden?“
Er sprach weiter, als ob er ihre Frage nicht gehört hätte.
„Wir haben uns so nahegestanden, daß es keinem von uns möglich wäre, sich zu verstellen.“
Ines sog hörbar die Luft ein.
„Was soll das bedeuten?“
Der Marques lächelte, ziemlich gezwungen, wie es den Anschein hatte.
„Reden wir von etwas anderem“, fuhr er in verändertem Ton fort. „Wie hast du die Zeit meiner Abwesenheit verbracht?“
„Ich habe an dich gedacht . . ., und jetzt möchte ich, daß du ehrlich zu mir bist. Es muß etwas Schwerwiegendes geschehen sein, um dich so zu verändern.“
„Was meinst du mit verändern?“
„Du weißt genau, was ich meine. O Juan, wie kannst du nur glauben, etwas vor mir verbergen zu können. Was ist los?“
Er holte tief Luft und schien die Schultern zu straffen.
„Wir kennen uns schon sehr lange, und ich sehe ein, daß ich dir die Wahrheit sagen muß“, erwiderte er. „Es wäre mir unerträglich, wenn du sie von: jemand anderem erfahren solltest.“
„Welche Wahrheit?“
Ines hatte das Gefühl, daß ihre Stimme aus weiter Ferne kam. Ihr war zumute, als ob sie bereits getrennt wären und sie aus einem anderen Land zu ihm spräche.
„Ich werde heiraten.“
Drei Worte, und ihre ganze Welt brach zusammen. Nur drei Worte, die sie vernichteten.
„Hier sind meine Handarbeiten“, sagte Felicita eifrig.
Die Duchesse erwachte aus ihren Tagträumen, um festzustellen, daß das Mädchen unbemerkt wieder in die Kutsche geklettert war und ihr gegenübersaß.
Auf Felicitas Schoß lag ein Hemd aus weißem Satin mit Applikationen aus weißer Spitze, die hauchzarten Blüten glichen. Bei dem zweiten Wäschestück handelte es sich um einen Unterrock, dessen Spitzeneinsätze vom Saum bis zum Knie reichten.
Die Duchesse wußte, daß sie für etwas Ähnliches in Paris astronomische Summen bezahlt hätte. Sie lächelte.
„Sie sind eine Meisterin Ihres Fachs“, sagte sie. „Ich werde Ihnen nicht nur diese Sachen abkaufen, sondern auch alles andere, was Sie für mich anfertigen.“
Felicita stieß einen Seufzer reinsten Glücks aus und klatschte in die Hände.
„Vielen, vielen Dank, Madame! Wie kann ich Ihnen nur meine Dankbarkeit beweisen? Ich möchte auf meine Knie sinken und ein Gebet sprechen, als ob Sie eine Heilige wären.“
Mit einem kleinen Schluchzer in der Stimme fuhr sie fort: „Vielleicht sind Sie das ja auch, und meine Mutter hat Sie geschickt, damit Sie mir helfen. Ich war so verzweifelt, daß ich schon dachte, ich müßte mich ins Meer stürzen.“
„Wie kann ein so schönes Mädchen etwas so Schreckliches auch nur denken?“
Die Duchesse glaubte die Stimme des Mannes zu hören, der sie gerettet hatte und dem sie ihr Leben verdankte.
„Ich wünschte, ich wäre so schön wie Sie“, antwortete Felicita.
„Meine Schönheit gehört der Vergangenheit an“, entgegnete die Duchesse. „Aber ich war schön, als ich in Ihrem Alter war.“
Sie war schön gewesen, nicht nur mit achtzehn Jahren. Wie eine Rose, die langsam erblüht, wurde sie immer schöner. Nicht nur Juan hatte sie bewundert. Er hatte sich gefreut, daß die Männer ihn ihretwegen beneideten.
„Der Prinz hält dich für die schönste Frau, die ihm je begegnet ist“, erzählte Juan ihr eines Nachts in Paris. „Er würde am liebsten versuchen, dich mir wegzunehmen.“
Ines lachte.
„Das würde niemandem gelingen. Ich gehöre dir. Dir ganz und gar von nun an bis in alle Ewigkeit.“
Prophetische Worte, wie sich später herausstellen sollte.
Es sah so aus, als ob man einen hohen Preis für die Schönheit bezahlen mußte.
Ines war es nicht gegeben, mehr als einen einzigen Mann zu lieben. Als Juan sie verlassen hatte, hatte er ihr Herz mitgenommen. Es würde nie wieder so schlagen, wie es für ihn geschlagen hatte.
Manchmal glaubte sie schon, kein Geschöpf aus Fleisch und Blut mehr zu sein, und kam sich so gefühllos wie ein Ölgemälde oder eine Marmorstatue vor.
Sie lächelte und lachte, war irritiert und ärgerte sich, doch die Lebensfreude, die sie zu Juans Zeiten gekannt hatte, kehrte nicht wieder.
„Haben Sie schon einmal etwas vom Marques de Oliveira Vasconles gehört?“ fragte die Duchesse als Folge ihrer Gedankengänge.
Felicita lächelte.
„Selbstverständlich, Madame. Man kann nicht in Lissabon leben, ohne von ihm gehört zu haben. Wenn ich meiner Pensionswirtin Glauben schenken darf, hat es in ganz Portugal nie wieder einen so gutaussehenden und charmanten Gentleman gegeben.“
„Kannte sie ihn?“
„Ihre Nichte, eine sehr nette Person, arbeitet als Hausmädchen im Palace da Azul.“
Das bedeutet, daß alles, was im Palace geschah, der Familie und den Verwandten des Mädchens zur Kenntnis gelangte. Die Portugiesen liebten Klatsch. Niemand konnte das besser beurteilen als die Duchesse. In diesem Lande wurden die Aristokraten zu Helden, die man wie Könige und Königinnen verehrte.
„Und was erzählt man sich über den derzeitigen Marques?“ fragte die Duchesse, weil sie es einfach wissen mußte.
„Daß er gut aussieht, elegant ist und daß sich schon viele schöne Frauen in ihn verliebt haben.“
„Er ist nicht verheiratet?“
„Nein, Madame, zur Zeit nicht.“
„Was heißt das: zur Zeit nicht?“
„Er war verheiratet, als er noch sehr jung war. Es handelte sich um eine arrangierte Ehe, die in einer Katastrophe endete. Der Marques und seine Frau lebten nicht glücklich zusammen.“
„Was ist geschehen?“
„Es heißt, daß seine Frau entgegen seiner ausdrücklichen Warnung eines seiner wildesten Pferde, das noch nicht ganz zugeritten war, aus dem Stall holte. Beim Sprung über einen hohen Zaun wurde sie abgeworfen. Dabei hat sie sich das Genick gebrochen.“
„Gab es in dieser Ehe keine Kinder?“
„Nein, Madame, die beiden waren erst ein paar Monate verheiratet. Ich weiß nicht, ob die Gerüchte stimmen. Angeblich haben sie sich ständig so laut gestritten, daß ihre zornigen Stimmen durch den ganzen Palace hallten. Der Marques soll froh gewesen sein, als er wieder frei war.“
„Hat er nicht noch einmal geheiratet?“
„Nein, Madame. Nach dem Tode seines Vaters haben ihn seine Familienangehörigen bestürmt, erneut eine Ehe einzugehen und sei es auch nur, um einen Erben zu haben. Er hat sich strikt geweigert.“
„Weshalb?“
„Weil er sich lieber mit vielen Damen statt nur mit einer amüsiert. Außerdem ist er sehr stolz.“