Diona und ihr Dalmatiner

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„Aber ich könnte mich doch um eine Anstellung bemühen“, meinte Diona mit schwacher Stimme. „Wenn ich kein Glück habe, dann vielleicht, Ted, könnten Sie sich - etwas anderes überlegen, was ich - tun könnte.“

Sie zögerte ein wenig beim Sprechen. Sie hatte unglaublich viel Glück, daß Ted soweit von Hall wegfuhr. Doch sie wollte auf keinen Fall mit ihm zurückkehren, wenn er das Ziel seiner Reise erreicht hatte.

Als ob er ihre Gedanken gelesen hätte, meinte Ted nun: „Wenn Sie meinen Rat wollen, Miss Diona, dann gehen Sie zurück zu Ihrem Onkel und sprechen Sie noch mal mit ihm. Sie kommen sonst nur in Schwierigkeiten.“

„Wenn Sie an Räuber oder Diebe denken, Ted, dann kann ich Ihnen versichern, daß Sirius mich beschützen wird.“

„Vielleicht gibt es Schlimmeres als Räuber und Diebe.“

„Was wäre denn schlimmer?“

Ted wußte keine Antwort darauf, und sie fuhren schweigend weiter, bis Ted sagte: „Es ist schön, Sie bei mir zu haben, Miss Diona, aber ich glaube, es ist nicht gut, daß ich Sie so weit von zu Hause wegbringe.“

„Das erspart mir das Gehen, Ted. Ich laufe weg, und ich beabsichtige nicht, zurückzukehren.“

Wieder brütete Ted schweigend vor sich hin. Mit der Zeit begann Diona Hunger zu verspüren, trotz der Eier, die sie zum Frühstück gegessen hatte.

„Ich wollte eigentlich im ,Grünen Mann’ in Little Ponders End für einen Happen anhalten, aber wenn Sie nicht gesehen werden wollen“, schlug Ted vor, „dann fahre ich am besten einfach weiter.“

„Ich bin auch sehr hungrig“, gestand Diona, „und da ich bis jetzt nur einmal in Little Ponders End war, nämlich als ich zum Jagen ausritt, glaube ich nicht, daß sie mich wiedererkennen würden.“ Sie machte eine Pause, während sie fieberhaft nachdachte, und fügte hinzu: „Wenn ich vielleicht meinen Hut abnehme und ein Tuch um den Kopf binde, dann könnten Sie sagen, ich sei jemand aus dem Dorf, der Sie um Mitnahme gebeten hat.“

„Das ist eine gute Idee, Miss Diona“, fand Ted, „und wenn Sie draußen bleiben, dann bringe ich Ihnen Brot und Käse. Der Wirt hier ist eigentlich nicht neugierig. Er ist ein alter Mann und halb blind.“

Als die Hütten von Little Ponders End in Sicht kamen, öffnete Diona die Bänder ihres Hutes und schob den Hut unter den Sitz. Dann suchte sie aus dem Bündel ein Tuch, das sie mitgenommen hatte, für den Fall, daß ihr kalt würde.

Diona wußte wohl, daß es unmöglich gewesen wäre, einen dicken Mantel mitzunehmen. Der einzige Schutz gegen Kälte, falls sie sich nichts Neues leisten konnte, war der Schal, in den sie ihre Sachen eingewickelt hatte.

Das Tuch bestand aus blaßblauer Seide und sah aus der Entfernung nicht sehr teuer aus, wenn es auch ihrer Mutter gehört hatte. Sie band es sich um den Kopf und hoffte, wie eines der Dorfmädchen auszusehen.

Die Dorfwiese war bis auf zwei alte Esel und mehrere Enten auf dem Teich leer. Ted brauchte sein Pferd nicht anzubinden, denn es begann sofort, Gras zu fressen. Gemeinsam marschierten sie zum „Grünen Mann“.

Draußen befand sich wie gewohnt eine Holzbank, auf der später am Nachmittag die alten Männer des Dorfes sitzen würden. Jetzt saß niemand hier, so daß Diona Platz nahm, während Ted das Gasthaus betrat.

Kurze Zeit später kam er mit zwei Tellern zurück, auf denen mehrere große Scheiben Käse und Bauernbrot lagen. Es gab keine Butter, doch als Diona ein Stück des ofenwarmen Brotes abschnitt und es zusammen mit dem Käse aß, schmeckte es ihr ganz vorzüglich. Ted war in das Gasthaus zurückgegangen und kehrte nun mit einem Glas Most und einem Glas Bier zurück. Der Most war für Diona bestimmt, das Bier für ihn selbst.

Um die Aufmerksamkeit der anderen nicht auf sich zu lenken, aßen sie schnell. Dann bezahlte Ted im Gasthaus die verzehrten Speisen und Diona schritt zum Karren zurück und stieg hinauf. Sirius sprang neben ihr hoch, und so warteten die beiden bereits auf Ted, als dieser zurückkam.

Während sie losfuhren, sagte Diona: „Sie müssen mir sagen, wieviel ich Ihnen schulde.“

„Sie waren mein Gast, Miss Diona“, erwiderte Ted, „und wenn Sie weglaufen, dann brauchen Sie ohnehin jeden Penny für sich und Ihren Hund.“

„Aber ich kann doch nicht zulassen, daß Sie für mich zahlen“, protestierte Diona.

„Sie können mir Ihre Zeche zahlen, wenn Sie Ihr erstes Gehalt bekommen“, schlug Ted lächelnd vor. „Ich hoffe, daß Sie nicht lange darauf warten müssen.“

„Das hoffe ich auch“, erwiderte Diona bekümmert.

Sie fuhren weiter, und Diona begann darüber nachzudenken, wie angsteinflößend es war, ins Blaue zu leben, ohne zu wissen, wo man enden wird. Dann sagte sie sich, daß, wie besorgniserregend es auch sein mochte, nichts so schlimm sein konnte wie die Tatsache, daß Heywood, der der Gutsverwalter ihres Onkels und ein Mann war, den sie nie gemocht hatte, Sirius erschoß. Ohne Sirius wäre sie noch einsamer auf der Welt, als sie ohnehin schon war.

Welche Schwierigkeiten auch immer auf uns zukommen, sagte sie sich, Sirius und ich werden nicht nur zusammen sein, sondern ich bin auch ganz sicher, daß Papa uns beschützen wird.

Wenn es etwas gab, was ihr Vater gehaßt hatte, dann war es Grausamkeit jeder Art, und es war stets furchtbar für ihn gewesen, wenn er gezwungen gewesen war, ein Pferd aufgrund seines Alters oder einer Krankheit zu töten. Die Grausamkeit seines Bruders hätte er daher niemals gutgeheißen.

Und doch wurde Diona immer ängstlicher, je weiter sie sich von Hall entfernte. Erst jetzt merkte sie, wie unerfahren und unwissend sie war.

Dank der Beharrlichkeit ihrer Mutter war sie nicht nur von einer pensionierten Gouvernante, die im Dorf wohnte, sehr gut erzogen worden, sondern auch von dem Vikar, der gleichzeitig Lehrer war. Er hatte sie in vielen Fächern unterrichtet, und da er keine eigene Familie gehabt hatte, hatte der Unterricht ihm großen Spaß gemacht.

Diona hatte eine solche Zuneigung zu ihm entwickelt, daß sie ihn oft als ihren Großvater betrachtete, den sie nie gehabt hatte.

Wenn der Vikar noch am Leben gewesen wäre, hätte sie sich nun an ihn wenden und ihn um Hilfe bitten können. Doch dann sagte Diona sich, daß selbst dann ihr Onkel als ihr Vormund ihr verboten hätte, Hall zu verlassen. Menschen wie dem Vikar oder der Gouvernante, die jetzt sehr alt war, oder dem Dorflehrer, der sie in Rechnen und Geometrie unterrichtet hatte, würde sie nur Schwierigkeiten bereiten.

„Ich kann nicht begreifen, weshalb ich solch langweilige Dinge wie Mathematik lernen muß“, hatte Diona einmal zu ihrer Mutter gesagt.

„Diese Fächer trainieren deinen Verstand, mein Liebes“, hatte ihre Mutter erwidert. „Ich möchte, daß du eine gute Erziehung genießt, damit du, was auch immer in deinem Leben geschieht, dich stets selbstsicher fühlst.“

Damals hatte Diona nicht verstanden, was ihre Mutter gemeint hatte. Da der Vater ihrer Mutter ein außergewöhnlich kluger Mann gewesen war, der eine wichtige Stellung im Auswärtigen Amt bekleidete, hatte ihre Mutter gewollt, daß Diona wie ein Junge erzogen wurde.

Erst kurz bevor ihre Mutter starb, hatte Diona den Grund dafür begriffen.

Damals sagte ihre Mutter: „Ich hoffte und betete darum, deinem Vater einen Sohn zu schenken, mein Liebling, doch du bedeutest ihm genauso viel. Denn obwohl du eine Frau bist, kann er sich trotzdem mit dir über alles unterhalten. Ihr beide versteht euch genauso gut, wie wenn du ein Junge wärst.“

Als sie die Enttäuschung auf Dionas Gesicht gesehen hatte, hatte sie schnell hinzugefügt: „Dein Papa ist sehr stolz auf dich, weil du so hübsch bist, doch Schönheit genügt einem Mann mit Verstand nicht. Er braucht jemanden, der ihn mit neuen Ideen anregt, was vielen Frauen nicht gelingt.“

Diona hatte sie daraufhin geküßt und ihr versichert: „Ich habe mir immer gewünscht, daß Papa stolz auf mich ist. Du weißt, Mama, wie gern ich mich mit ihm unterhalte. Doch das kann ich nur, weil du so klug warst, mich so vieles lernen zu lassen, auch wenn es mir sehr schwergefallen ist.“

„Eines Tages wird dir dein Wissen nützlich sein“, hatte Mrs. Grantley geweissagt. „Das hatte mein Vater immer zu mir gesagt: Alles erweist sich als nützlich, wenn man es am wenigsten erwartet, und nichts von Wert geht je verloren.“

Diona hatte instinktiv gewußt, daß ihre Mutter nicht von materiellen Dingen sprach, und sie hatte gesagt: „Es ist ein schönes Gefühl, als ob man eine Schatztruhe in seinem Kopf hat, die einem niemand stehlen kann.“

Ihre Mutter hatte gelacht und dann gesagt:„Genauso meine ich es auch, und du hast viele, viele Schätze, mein Liebling, von denen du eines Tages feststellen wirst, daß sie von unsagbarem Wert sind. Das hoffe ich wenigstens.“

Während Diona an diese Unterhaltung zurückdachte, sagte sie sich, daß es wohl keine große Beanspruchung ihrer Intelligenz bedeutete, wenn sie ein Milchmädchen oder eine Hundewärterin werden würde. Wenn ich älter wäre, sagte sie sich, könnte ich vielleicht in einer Bibliothek arbeiten. Aber wer hat schon einmal etwas von einer Bibliothekarin mit Hund gehört? Sie schmunzelte über diesen Gedanken.

„Ich höre Sie gern lachen, Miss Diona“, sagte Ted „Ihr Lachen erinnert mich an Ihren Vater. Es konnte nie etwas so falsch sein, daß er nicht darüber hätte lachen können.“

„Das ist wahr“, sagte Diona. „Und da alles mit mir so falsch läuft, kann ich nur darüber lachen und hoffen, daß sich der Zustand bessert.“

„Das hoffe ich auch“, entgegnete Ted.

Doch Ted hörte sich nicht sehr optimistisch an, so daß Dionas Mut wieder sank.

Ihr Weg führte sie einen steilen Hügel hinauf. Oben angelangt, sah Diona vor sich die Umrisse eines sehr großen, beeindruckenden Hauses.

Mit seiner vom Dachgiebel flatternden Standarte, sah es im Schein der Nachmittagssonne so schön aus, daß Diona unwillkürlich ausrief: „Wie hübsch das hier ist! Wessen Haus ist das?“

 

„Das ist das Haus Seiner Lordschaft“, erwiderte Ted. „Das Gut, auf dem er wohnt, befindet sich genau auf der anderen Seite des Tals. Dorthin fahren wir.“

Diona schwieg einen Augenblick. Dann sagte sie, und es war, als ob jemand anderer aus ihr sprach: „Ich muß dorthin. Ich weiß, daß ich dort Hilfe finden werde.“

2

Der Marquis von Irchester war unerwartet nach Hause zurückgekehrt.

Da sich sein Organisationstalent auf alles erstreckte, was er besaß, hatten sich seine Bediensteten, obwohl sie nicht vorgewarnt worden waren, alle an die Arbeit gemacht auf Irchester Park, und der Küchenchef hatte ihm nur eine Stunde nach seiner Ankunft mit seinen exzellenten Fähigkeiten ein köstliches Essen zubereitet.

Er hatte gar nicht vorgehabt, so früh aufs Land zurückzukehren, nachdem die Saison in London zu Ende gegangen war, doch er hatte einen Abend zuvor zufällig von den Plänen des Prinzregenten für eine Party in Brighton erfahren und erraten, daß er ebenfalls auf der Gästeliste stand.

Ein Jahr zuvor war er zu der Erkenntnis gelangt, daß Brighton ihn langweilte. Selbst wenn er sich ein eigenes Haus mietete und nicht im königlichen Pavillon wohnte, mußte er trotzdem viele Stunden dort verbringen und dem zuhören, was er immer Höllenmusik nannte. Außerdem mußte er stets mit den Leuten reden, mit denen er bereits den größten Teil der Saison verbracht hatte. Wenn er den Prinzregenten auch verehrte und sich mit ihm verbunden fühlte, aufgrund ihrer gemeinsamen Liebe zu Bildern und Antiquitäten, die die übrige Umgebung Seiner Königlichen Hoheit meist nicht schätzte, so fand er doch, „genug war genug“.

Die sich ewig hinziehenden Mahlzeiten im Carlton House würden sich in Brighton nun wiederholen, wo der Küchenchef des Prinzen alles daransetzte, jeden anderen Küchenchef der Umgebung mit der Reichhaltigkeit seiner Zutaten und der Anzahl seiner Entrees auszustechen. Ganz plötzlich hatte der Marquis genug gehabt von all dem. Und doch gab es noch einen anderen Grund für seine vorzeitige Abreise.

Seine Liebesaffären hatten seit dem Krieg immer wieder für Gerede gesorgt, doch aufgrund seiner Vorsicht und Diskretion wäre es niemals zu einem Skandal gekommen.

Er war sehr genau, was sowohl seine Herzensangelegenheiten betraf, als auch die Führung in seinen Haushalten und den einwandfreien Zustand seiner Pferde. Aber er war auch so vornehm, so reich und außergewöhnlich gutaussehend, daß es für ihn unvermeidlich war, sich immer wieder in Gesellschaft von schönen Frauen zu befinden. Diese Beziehungen brachten ihn meist an einen Punkt, bei dem ein Schritt weiter, er sich in eine Situation gedrängt sehen würde, die er möglichst vermeiden wollte.

Nachdem er mit großer Hingabe in Wellingtons Armee gedient hatte, hatte er eine gewisse Rolle bei Säuberungsaktionen gespielt. Danach hatte er das Kommando über die Belagerungsarmee erhalten.

Als er dann schließlich nach Hause zurückkehrte, glaubte er wie so viele andere Soldaten, er müsse die Jahre nachholen, die er mit der Hauptsorge ums Überleben versäumt hatte.

London schien nur darauf zu warten, jedes erdenkliche Vergnügen anzubieten, und nach den Entbehrungen des Krieges boten Wein, Weib und Gesang eine anregende Abwechslung.

Der Marquis hatte Irchester House in Park Lane eröffnet und begonnen, strahlende Feste zu geben, die nur mit denen rivalisieren konnten, die der Prinzregent im Carlton House gab.

Wie es sich herausstellte, war er sehr anspruchsvoll in der Wahl seiner Gäste, so daß es als Ehre galt, von ihm eine Einladungskarte zu erhalten. Diese Einladungskarten waren auch von den berühmtesten Schönheiten sehr gefragt. Ambitionierte Mütter mit jungen Töchtern merkten jedoch sofort, daß der Marquis sich zurückhielt und sie nur ihre Zeit vergeudeten, wenn sie ihm nachstellten.

Vielleicht aufgrund seines Alters, galt sein Vorzug vornehmen verheirateten Frauen oder bekannt fröhlichen Witwen, die ihre Männer im Krieg verloren hatten.

Eine von diesen Damen, vielleicht die herausragendste, war Lady Sybille Maiden. Als Tochter eines Herzogs war sie eine äußerst ungünstige Ehe eingegangen, als sie sich mit erst achtzehn Jahren in Christopher Maiden verliebt hatte, der nicht nur als Mann, sondern auch in seiner Uniform hervorragend aussah.

Ohne diese Uniform fand sie ihn mit der Zeit allerdings langweilig, so daß ihre Ehe offiziell als zerrüttet galt, noch bevor er in der Schlacht von Waterloo ums Leben kam.

Zu dieser Zeit war Lady Sybille dreiundzwanzig Jahre alt, und sie war sich ihrer Vorzüge durchaus bewußt. Genau auf den Tag nach Ablauf des Trauerjahres, trat sie in London als strahlender Stern auf. Der Erfolg ließ nicht auf sich warten, und Lady Sybille genoß ihn in vollen Zügen.

Ihre Liebhaber waren Männer von Einfluß und beträchtlichem Vermögen, doch sie waren alle bereits verheiratet, bis sie vor erst sechs Monaten den Marquis von Irchester kennenlernte. Nun begann sie, andere Ansprüche zu stellen.

Nachdem sie in ihrer ersten Ehe unglücklich und gelangweilt gewesen war, beschloß sie, nicht wieder zu heiraten, bis sie ihre augenblickliche Lage bis zum letzten ausgekostet hatte.

Als Tochter eines Herzogs konnte sie mit ihrem Benehmen viel wagen und mußte dennoch nicht riskieren, daß ihr die Tür zu den berühmten Gastgeberinnen verschlossen wurde. Und bei ihrer außergewöhnlichen Schönheit gab es keinen Mann, der sich nicht bereit erklärte, ihr sein Herz und sein Vermögen zu Füßen zu legen. Daß sie deren Reichtum brauchte, lag auf der Hand, da ihr Vater nicht reich gewesen war und eine Reihe von Söhnen hatte, die von ihm abhängig waren. Maiden hatte ihr, gemessen an dem, was sie benötigte, sehr wenig hinterlassen.

Das hielt sie jedoch nicht davon ab, sich in einem Haus am Berkeley Square einzurichten und bei den teuersten Schneidern in der Bond Street arbeiten zu lassen.

Aller Augen waren auf sie gerichtet, wenn sie in ihrer von reinrassigen Pferden gezogenen Kutsche durch den Park fuhr. Lady Sybille wußte auch, daß sie mit achtundzwanzig Jahren nun den Höhepunkt ihrer Schönheit erreicht hatte.

Künstler von Rang flehten fast um die Erlaubnis, ihr Ebenbild, das nur vergleichbar war mit Aphrodite, Botticellis Simonetta und Fragonards bewundernswerten Frauen, auf Leinwand festhalten zu dürfen. Lady Sybille war sich durchaus bewußt, daß es nur eine Frage von ein paar Jahren war, bis sie die ersten Fältchen an den Augenwinkeln und die ersten grauen Haare in ihrem Goldschopf entdecken würde.

Sie wußte erst, was sie wollte, als sie den Marquis von Irchester sah. Lady Sybille hatte durch ihren Auslandsaufenthalt den Marquis nicht früher kennengelernt.

Der Prinz irgendeines obskuren Balkanstaates war in London aufgetaucht und ganz hingerissen gewesen von ihr. Sie hielt es jedoch für einen Fehler, ihre Verbindung zu dem Prinzen vor ihren englischen Bewunderern auszubreiten, die schnell dazu bereit waren, Fremde in Verruf zu bringen. So hatte sie ihm gestattet, sie mit nach Paris zu nehmen, das sich vom Krieg bereits erholt hatte und eine der ausgelassensten Städte Europas war.

Der Erfolg, den Lady Sibylle dort gekostet hatte, war ihr wie Wein zu Kopf gestiegen. Nach und nach ließ ihre Begeisterung für den Prinzen allerdings nach, und sie dachte daran, daß es an der Zeit war, nach Hause zurückzukehren.

Ihre Rückkehr wurde an ihrem ersten Abend in London äußerst erfreulich gefeiert, als sie einem Ball im Devonshire House beiwohnte, wo sie den Marquis kennenlernte. Natürlich hatte sie schon von ihm gehört, doch sie hatten sich nie getroffen, da Lady Sybille zu viel mit anderen Männern und der Marquis zu viel mit anderen Damen beschäftigt gewesen waren.

Nachdem sie ihn eine Weile im Salon beobachtet hatte, wo sich die Gäste versammelt hatten, bevor sie in den Ballsaal hinübergingen, hatte sie den Herzog gebeten, sie bekanntzumachen.

Während der folgenden zwei Monate wurde sich der Marquis nun des - inzwischen sehr vertrauten - Gefühls bewußt, daß er verfolgt wurde, obwohl es nur ein so scharfsichtiger Mensch wie er merken konnte. Er ließ sich nicht täuschen von den bemerkenswerten Zufällen, die Lady Sybille bei fast jeder Party neben ihn führten. Ob er durch den Park ritt oder beim Prinzregenten eingeladen war, Lady Sybille war stets ebenfalls anwesend.

Zuerst hatte er sich gesagt, daß er nicht sonderlich interessiert war. Sie war schön, das war nicht zu leugnen, doch er war sehr wählerisch in Bezug auf Menschen, denen er seine Gunst schenkte, und im Augenblick war er gerade damit beschäftigt, der äußerst verwöhnten Gattin eines ungarischen Diplomaten nachzustellen.

Der Marquis liebte es zu jagen. Hingegen konnte er es nicht ausstehen, gejagt zu werden. Unglücklicherweise entwickelten sich die Dinge immer zu seinen Ungunsten, da die Mehrzahl der Damen, mit denen er in Kontakt kam, ihn unaufhörlich jagte. Ihre Absichten waren so offensichtlich, daß er sich oft fragte, weshalb hinter einer so lieblichen Stirn nicht ein eigenständiger Gedanke herrschen konnte.

Der offene Neid seiner Freunde führte ihn wahrscheinlich dazu, daß er den Bemühungen Lady Sybilles nachgab. Und zuerst war er nicht enttäuscht.

Obwohl sie es schaffte, wie eine Göttin auszusehen, die gerade dem Olymp entstiegen war, verfügte sie doch über ein versengendes Feuer auf den Lippen und über die Leidenschaft eines Löwen, was das Verlangen eines Mannes bis zum äußersten treiben konnte.

Langsam erwachte der Verdacht in dem Marquis, daß Lady Sybille mehr von ihm wollte als eine vorübergehende Liebesaffäre.

Zynischerweise rechnete er damit, daß - so reizvoll ihre Verbindung auch sein mochte - sie ihn nicht länger als all die anderen beanspruchte, die ihn seit Kriegsende so amüsierten.

Sybille sprach natürlich nicht darüber. Dazu war sie zu schlau. Doch der Marquis verfügte über ein feines Gefühl, was ihm nicht nur beim Kommando über seine Soldaten nützlich gewesen war, sondern ihm fast auch einen Einblick in die Gedankenwelt einer Frau gewährte.

Der Gedanke wäre ihm selbst nie in den Sinn gekommen, doch plötzlich ahnte er, daß Lady Sybille an Heirat dachte.

Natürlich wußte der Marquis, daß er eines Tages wohl heiraten mußte. Seine Verwandten nahmen hin und wieder den Mut zusammen und machten ihm klar, daß es seine Pflicht sei, einen Erben zu zeugen. Es wurden sogar mehrere Söhne gefordert, damit sowohl die Erhaltung des Titels, der sehr weit zurückreichte, als auch des Eigentums gesichert war. Er hatte jedoch nach Rückkehr aus dem Krieg nicht die Absicht gehabt, seßhaft zu werden.

Seine Jahre bei der Armee hatten dazu geführt, daß er sich älter fühlte, als er war, und nun wollte er seine verlorene Jugend zurückgewinnen und das Gefühl, sein eigener Herr zu sein, was für einen Offizier unter Wellington unmöglich gewesen war.

Ich werde irgendwann einmal heiraten, sagte er sich, aber ich will nicht dazu gezwungen werden.

Der Marquis war der Ansicht gewesen, daß es genug auf seinen Gütern zu tun gab, zumal sein Vater drei Jahre, bevor er die Armee verlassen konnte, gestorben war. Aufgrund seines hohen Alters hatte sein Vater vieles vernachlässigt, und was doch schlimmer gewesen war, er hatte die falschen Leute gewählt, die sich um seine Güter kümmern sollten.

Der Marquis genoß nun jeden Augenblick, bei dem er immer wieder versuchte, die Perfektion zu erreichen, die er verlangte. Es war das Vergnügen, das er suchte, nicht die Fesseln der Ehe und die unvermeidliche Langeweile, an eine, wenn auch schöne, doch wahrscheinlich auch sehr kleingeistige Frau gebunden zu sein.

Zu einem seiner engsten Freunde hatte er einmal im White’s Club gesagt: „Wie kommt es, daß die Mehrheit der Frauen, mit denen wir einen Großteil unserer Zeit verbringen, so entsetzlich schlecht gebildet ist, daß es unmöglich ist, sich mit ihr zu unterhalten, abgesehen von einem Thema.“

Sein Freund, der im selben Regiment gedient hatte, hatte gelacht.

„Du weißt so gut wie ich, Lenox, daß der Engländer sein ganzes Geld in die Erziehung seiner Söhne steckt, während seine Töchter von halb schwachsinnigen Gouvernanten erzogen werden, die nicht in der Lage sind, ihnen all das beizubringen, was sie wissen sollten.“

„Das stimmt wahrscheinlich“, hatte der Marquis nachdenklich geantwortet.

Er erinnerte sich, daß, während er nach Eton und Oxford geschickt worden war, seine Schwestern zu Hause bleiben mußten in der Gesellschaft von kleinen grauen Frauen, deren Gesichter er schon vergessen hatte.

 

„Wahrscheinlich sind deswegen ausländische Frauen im ganzen viel intelligenter“, hatte er gemeint.

„Ich kann nicht behaupten, daß ich großen Wert auf den Verstand einer Frau lege“, hatte sein Freund erwidert.„Hauptsache, sie ist hübsch, sonst übersehe ich sie.“

Der Marquis hatte gelacht und an die etwas banalen Unterhaltungen denken müssen, die er mit Lady Sybille geführt hatte, wenn sie gerade einmal nicht im Bett gelegen hatten.

Vergangene Nacht im Carlton House hatte er gemerkt, wie sie aus irgendeinem Grund, der ihn jedoch argwöhnisch gemacht hatte, mit dem Prinzregenten im Vertrauen geflüstert hatte. Der Marquis hatte nicht hören können, um was es sich handelte, doch er zweifelte nicht daran, daß das Thema ihn betroffen hatte. Ihre Blicke hatten sich nämlich auf ihn gerichtet. Er hatte allerdings so getan, als ob er es nicht merkte. Als sich dann der Prinz zur Begrüßung eines Neuankömmlings erhoben hatte, hatte der Marquis Lady Sybilles Gesichtsausdruck gesehen, der dem einer Katze glich, die Sahne geleckt hatte.

Sein Instinkt hatte ihn gewarnt, daß sie etwas im Schilde führte. Daraufhin hatte er schnell ein Gespräch mit einem Konsul begonnen, der ebenfalls geladen gewesen war. Trotz allem war er entschlossen, herauszufinden, was da zwischen Lady Sybille und dem Prinzregenten gebraut worden war, und es war ausgerechnet der Konsul gewesen, der ihm unwissentlich den Schlüssel dazu lieferte.

„Ich nehme an, Mylord“, hatte der Konsul gesagt, „daß dies die letzte Party ist, die wir in diesem herrlichen Haus feiern dürfen, bevor Seine Königliche Hoheit nach Brighton abfährt.“

„Das nehme ich ebenfalls an“, hatte der Marquis erwidert.

„Meine Gattin und ich sind in den Königlichen Pavillon eingeladen worden“, war der Konsul mit einem selbstgefälligen Ton fortgefahren. „Wir freuen uns, daß Sie und Lady Sybille ebenfalls dort sein werden. Seine Königliche Hoheit deutete an, daß Sie ebenfalls seine Gäste sein werden.“

Der Marquis hatte den Konsul forschend angesehen und sich überlegt, was dieser wohl damit sagen wollte.

Der Diplomat hatte daraufhin scherzhaft den Finger erhoben und hinzugefügt: „Meine Frau hat mir Ihr kleines Geheimnis verraten, aber ich verspreche, daß ich sehr, sehr diskret sein werde, und natürlich bin ich auch ein ergebener Verehrer von Lady Sybille.“

Wenn sich plötzlich der Boden unter ihm geöffnet hätte, der Marquis hätte nicht überraschter gewesen sein können. Erst jetzt hatte er durchschaut, was Lady Sybille vorhatte, und er hatte sich gescholten, weil er so dumm gewesen war.

Lady Sybille bediente sich einer Waffe, der sich viele Frauen vor ihr schon bedient hatten: der öffentlichen Meinung.

In ihrem Fall hatte sie ganz oben angefangen mit der unmittelbaren Umgebung des Prinzregenten und hatte ihn nun selbst mit eingeschlossen.

Der Marquis hatte so einen Fall schon einmal kennengelernt, als nämlich ein Freund von ihm noch zögerte, ob er einer Dame, die ihn ebenfalls begehrte, einen Heiratsantrag machen sollte. Zu einer freien Wahl war es dann allerdings zu spät gewesen, denn er wurde - nicht einmal von der Dame selbst - zur Ehre gedrängt, sondern von ihren Freunden und Bewunderern.

Der Marquis hatte nun einen Augenblick gewählt, in dem sich sein Gastgeber gerade mit Freunden beschäftigte, hatte etwas knapp gute Nacht gewünscht und ohne ein weiteres Wort an Lady Sybille das Carlton House verlassen. Er war in sein Haus in Park Lane zurückgefahren und hatte sich genauso nachdrücklich überlegt, was er nun tun solle, wie er damals seine Schlachttaktik gegen die Franzosen ersonnen hatte.

Er war sich darüber im Klaren gewesen, daß er als erstes London verlassen und aufs Land fahren müsse. Bei seiner Ankunft im Irchester House hatte er sofort seinem Personal Anweisungen gegeben und seinen Sekretär, der bereits zu Bett gegangen war, zu sich gerufen, um mit ihm zu reden.

Dann hatte er sich hingesetzt und an den Prinzregenten einen Brief geschrieben, in dem er ihm für seine Gastfreundschaft dankte und ihm erklärte, daß er wegen Familienangelegenheiten unerwartet aufs Land gerufen worden war. An Lady Sybille schrieb er nicht. Er war so grausam, sie ihren Überlegungen zu überlassen, was geschehen war und was sie dagegen tun könne.

Nach dem Frühstück reiste er unverzüglich nach Irchester Park ab, und er beeilte sich dabei. Er fühlte sich wie ein Fuchs, dem die Jäger auf der Spur waren. Auf dem Land angelangt, beschenkte ihn die Schönheit seines Heims und dessen ruhige Würde mit einem Gefühl des Friedens, das wohltuend auf ihn wirkte.

„Plant Eure Lordschaft eine Party?“ fragte sein Butler.

„Im Augenblick nicht, Dawson“, erwiderte der Marquis. „Ich habe auf dem Gut viel zu tun und brauche Ruhe.“

„Die wird Eure Lordschaft hier finden, und es ist eine große Freude, Sie hier zu haben, Mylord.“

Der Mann sprach mit großer Aufrichtigkeit, was den Marquis freute, doch kaum war er allein, begann er, über sich selbst nachzudenken, und das machte ihn sehr zynisch.

Er gestand sich offen ein, daß er im vergangenen Jahr von der Gleichmäßigkeit der sogenannten schönen Welt immer gelangweilter geworden war. Es waren stets die gleichen Bälle, die gleichen Empfänge, die gleichen Abende im Carlton House, in Vauxhall, und es waren unausbleiblich immer die gleichen Frauen.

So schön, vornehm und begehrenswert sie auf den ersten Blick wirkten, so eitel, selbstsüchtig, neidisch und unglaublich hirnlos entpuppten sie sich, sobald man sie näher kannte. Ihre Gedanken kreisten ausschließlich um sie selbst.

Was will ich? Was wünsche ich mir? Auf diese Fragen konnte sich der Marquis bedauerlicherweise keine Antwort geben. Er sagte sich, daß, er den Krieg vermißte, die Aufregung, die Gefahr, aber damals hatte es wenigstens ein strahlendes Ziel gegeben, das Sieg hieß. Der Krieg war jetzt gewonnen, doch der Frieden war, wenn der Marquis ehrlich war, enttäuschend.

Was will ich? Immer wieder stellte der Marquis sich diese Frage, wenn er allein speiste oder auf die Terrasse hinausschritt, um die letzten Strahlen der untergehenden Sonne zwischen den alten Eichen des Parks zu betrachten. Nach einer Weile begannen die Sterne und die zunehmende Mondsichel am Himmel zu leuchten. Hinter dem Marquis stand schon seit fünfhundert Jahren das große Haus, das jedoch Anfang des letzten Jahrhunderts von seinem Urgroßvater vollkommen renoviert worden war. Daher war es auch mit Abstand das schönste Beispiel georgianischer Architektur in der gesamten Grafschaft.

Die riesigen Gesellschaftsräume waren jeder auf seine Art perfekt gestaltet. Außerdem besaß der Marquis Bilder, die den Neid des Prinzregenten und jedes Kunstkenners weckten. Hinter den Gärten, die nach originaler Vorlage gepflegt wurden, erstreckten sich Wälder, in denen man sich im Herbst mit mannigfaltigen Sportarten vergnügen konnte. Der Fluß, der sich auf der anderen Seite des Tals durch niedriggelegene Wiesen seinen Weg bahnte, bewässerte ein Sumpfgebiet mit Schnepfen und Enten, das gegen Ende des Jahres ein Paradies für Jäger darstellte.

Abgesehen davon besaß er riesiges Ackerland, auf dem er im Winter jagen und die edlen Pferde bewegen konnte, mit denen er seit seiner Rückkehr aus Frankreich seine Ställe gefüllt hatte.

Ich habe alles, sagte sich der Marquis, warum will ich mehr?

Dann wußte er, daß etwas fehlte, etwas, dem er keinen Namen geben konnte, von dem er aber wußte, daß es sehr wichtig war.

Da er sich über seine eigene Ruhelosigkeit ärgerte, zog er sich an diesem Abend früh in das riesige Bett des prächtigen Schlafzimmers zurück, in dem so viele seiner Vorfahren geboren worden und gestorben waren.

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