Der Marquis und das arme Madchen

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„Sie haben mich jetzt lange genug tyrannisiert”, erwiderte der Marquis. „Ich werde so lange hierbleiben, wie es mir paßt. Sie wissen genau, daß der Doktor nichts dagegen sagen wird, solange ich seine Anweisungen befolge.“

„Mein Vater ist nicht auf Sie angewiesen. Er hat genügend andere Patienten.“

„Aber nicht so wichtige wie mich!“ war die Antwort.

Er lächelte sie an.

„Das war eine sehr arrogante Bemerkung“, antwortete Rowena. „Und was meinen Vater betrifft, so sind alle Menschen, die leiden, für ihn gleich.“

„Aber wie Sie bemerkt haben werden, kann ich es mir leisten, zu bezahlen“, antwortete der Marquis.

Rowena preßte die Lippen zusammen und unterdrückte eine unfreundliche Antwort.

Sie hatte bemerkt, daß der Marquis, seit es ihm wieder besser ging, sie auf eine Weise herausforderte, die ihre Autorität den Geschwistern gegenüber untergrub. Noch vor einer Woche hätte Lotty es niemals gewagt, Tauben zu verlangen, wenn sie eigentlich Fleischpastete essen sollte.

Jetzt betrat sie das Zimmer und reichte dem Marquis den Teller mit der Pastete.

„Danke dir“, sagte er. „Das sieht aber wirklich sehr appetitlich aus.“

„Kann ich jetzt Ihre Tauben haben?“ fragte Lotty, die ganz außer Atem war.

„Mit Vergnügen“, antwortete der Marquis.

Sie nahm den Teller vom Tablett.

„Die Hälfte für mich und die andere Hälfte für Mark“, sagte sie. „Hermoine hat schon ihre Pastete gegessen, sie wird sicher nichts wollen.“

Lotty trug vorsichtig mit beiden Händen den Teller mit den Tauben hinunter.

„Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß wir bemüht sind, Eurer Lordschafts Gesundheit wiederherzustellen. Vielleicht ist es Ihnen bekannt, daß Tauben sehr viel nahrhafter sind als diese Pastete, die hauptsächlich aus Kartoffeln besteht“, sagte Rowena in spitzem Ton.

„Ich nehme an, daß diese Pastete aus dem restlichen Fleisch gemacht wurde, das ich gestern bekommen habe“, erwiderte der Marquis.

„Ich bin überrascht, daß Sie wissen, aus welchen Zutaten diese Pastete besteht. Ich glaube kaum, dass Sie jemals gezwungen waren, dieses Gericht zu essen.“

„Ich finde, sie schmeckt außerordentlich delikat. Und da ich nun nicht mehr hungrig bin, könne wir zum eigentlichen Thema zurückkehren. Geld!“

„Nicht bevor Sie Ihren Nachtisch gegessen haben”, erwiderte Rowena und ging einen Teller holen. “Hier sind einige frische Himbeeren aus dem Garten, die mit dem Quark sehr gut schmecken werden.“

„Vielleicht möchte Lotty es gerne essen?“ fragte er.

„Lotty ist verfressen. Und Sie sollten sie nicht noch ermuntern.“

Der Marquis aß einen Löffel voll von dem Quark. Er konnte sich nicht erinnern, seit seiner Kindheit welchen gegessen zu haben.

„Erzählen Sie mir etwas von sich“, bat er Rowena.

„Da gibt es nichts zu erzählen. Sie haben uns inzwischen alle kennengelernt, und Sie werden selbst festgestellt haben, daß wir eine ganz gewöhnliche Arztfamilie sind, die in einem kleinen Ort lebt. Ganz ohne Aufregungen, abgesehen von Zwischenfällen, die durch verrücktes Fahren auf Hauptstraßen verursacht werden.“

Die Augen des Marquis zuckten für einen Augenblick. Er hatte den Eindruck, daß Rowena ihn absichtlich ärgern wollte.

Dann sagte er: „Sie wirken eigentlich nicht wie eine normale Arztfamilie.“

Rowena lächelte.

„Hermoine ist auf dem besten Wege, eine Schönheit zu werden. Selbst die Chorknaben in der Kirche finden es unmöglich zu singen, wenn sie zugegen ist!“

„Da stimme ich mit Ihnen überein“, meinte der Marquis. „Und was Sie betrifft, bin ich überzeugt davon, daß Sie den Verkehr am Piccadilly zum Stocken bringen würden, wenn Sie in London auftauchen würden.“

Rowena sah ihn an, als befürchte sie, er wolle sie veralbern. Dann jedoch bemerkte sie den Ausdruck in seinen Augen und sagte: „Sie sollten nicht versuchen, uns den Kopf zu verdrehen, Mylord. Und bitte, schmeicheln Sie Hermoine nicht. Sie ist so romantisch, daß sie sich einbilden könnte, sie wäre in Sie verliebt. Wenn Sie dann wieder fort sind, werde ich die Schwierigkeiten haben, Hermoine wieder mit den Tatsachen vertraut zu machen und sie davon zu überzeugen, daß sie sich mit ihren Lektionen beschäftigt.“

„Ist das das Einzige, was Sie für die Zukunft des armen Mädchens tun wollen?“ fragte der Marquis.

„Und was soll ich sonst tun?“ entgegnete Rowena herausfordernd. Sie hatte festgestellt, daß der Marquis, seit er in dieses Haus gekommen war, viel Unruhe gestiftet hatte.

Er war jederzeit gegenwärtig. Nicht nur, weil sie für ihn sorgte. Er hatte auch etwas in dieses Haus gebracht, was vorher nicht da war.

Es war wie ein frischer Wind, der durch die kleinen Räume wehte. Selbst während er bewußtlos gewesen war, fühlte man seine starke Männlichkeit.

Jetzt, nachdem er das Bewusstsein wiedererlangt hatte, konnte sie mit ihm reden, mit ihm diskutieren. Irgendwie hatte sie den Eindruck, daß er sie ständig herausforderte.

Es machte sie wütend, daß er mit seiner ruhigen Arroganz den Eindruck erweckte, als sei er ganz besonders wichtig, und jeder müßte seinen Wünschen Folge leisten.

Auch konnte sie nicht begreifen, daß er es vorzog, in ihrem Hause zu bleiben, obwohl er nicht weit von hier ein viel größeres und bequemeres Zuhause hatte.

Oft kam sein Sekretär zu ihm. Schon der Anblick der Pferde verschlug Rowena den Atem.

Sein Diener erschien jeden Tag, um nach ihm zusehen. Er erzählte Rowena von den großen Besitzungen des Marquis und von seiner wichtigen Stellung in der Gesellschaft. All dies trug dazu bei, daß Rowena sich immer unbedeutender vorkam.

Der Marquis trank den Rotwein, der auf dem Tablett stand.

„Ich hätte gern noch ein Glas“, bat er.

„Ein Glas ist genug. Mehr ist nicht erlaubt“, antwortete Rowena.

„Unsinn!“ sagte er. „Ich bin durstig, und ich wünsche noch ein Glas zu trinken. Gießen Sie mir eines ein.“

Fast hätte Rowena ihm gehorcht. Dann jedoch entschied sie sich anders.

„Da müssen Sie meinen Vater fragen“, meinte sie. „Ich führe lediglich die Anordnungen des Doktors aus nicht die Ihren.“

Er lächelte auf eine Weise, die sie verunsicherte.

„Sie wollen mich nur dafür bestrafen, daß ich Lotty vorhin meine Tauben gegeben habe. Hören Sie auf, die autoritäre Amazone zu spielen, und geben Sie mir noch ein Glas.“

„Und wenn ich mich weigere?“

„Dann stehe ich auf, und hole mir selbst eines.“

„Das würden Sie nicht wagen!“

„Sind Sie sich da so sicher?“ drängte er.

Ihre Augen trafen sich, und sie hatte das Gefühl, als wäre dies ein Kampf, wer den stärkeren Willen besaß. Da sie jedoch befürchtete, er würde seine Drohung wahrmachen, gab sie schließlich nach.

„Nun gut“, sagte sie. „Tun Sie, was Sie wollen. Aber wenn Sie heute Nacht entsetzliche Kopfschmerzen bekommen, machen Sie mich nicht dafür verantwortlich.“

„Sie wissen doch sicher, daß man einem Patienten immer seinen Willen lassen sollte?“ fragte der Marquis.

Zufrieden beobachtete er, wie sie aus der Karaffe, die der Diener gebracht hatte, den Wein von Swayneling Park in sein Glas goss.

Rowena antwortete nicht und der Marquis sagte: „Warum so ruhig? Ich bin daran gewöhnt, daß Sie auf jede meiner Bemerkungen eine Antwort haben. Deshalb beunruhigt es mich, wenn Sie nichts sagen.“

„Ich behalte meine Gedanken lieber für mich, da ich glaube, daß Sie noch nicht stark genug sind, sie aufzunehmen“, war Rowenas Antwort.

Der Marquis lächelte.

„So ist es schon besser. Und nun bringen Sie mir bitte meine Brieftasche.“

„Ich habe eine Aufstellung gemacht, was Sie meinem Vater schuldig sind“, sagte Rowena. „Wollen Sie sie sehen?“

„Natürlich!“

Sie öffnete eine Schublade, nahm die Liste heraus und legte sie aufs Bett.

Er las sie genau und langsam durch. Dann sagte er: „Mein liebes Mädchen, das ist absurd! Glauben Sie wirklich, daß ich die Dienste Ihres Vaters nur halb so hoch einschätze wie die meines Veterinärs, der sich um meine Pferde kümmert?“

„Papa wird sehr zufrieden sein, wenn er diesen Betrag erhält.“

„Ich werde Ihrem Vater später das zahlen, was ich für angebracht halte“, erklärte der Marquis. „Auf jeden Fall ist es absurd, was Sie mir für meine Unterkunft und Verpflegung berechnen.“

„Es ist mehr, als ich jemals von anderen verlangt habe. Und auch das war in den meisten Fällen zuviel“, erwiderte Rowena lächelnd.

Der Marquis zog einige Banknoten aus der Brieftasche und reichte sie ihr. „Hier sind zwanzig Pfund. Und damit keine Unklarheiten entstehen: das ist für Unterkunft und Verpflegung. Die ärztliche Behandlung werde ich später mit Ihrem Vater persönlich abrechnen.“

Rowena ging einen Schritt zurück, als hätte er sie gestoßen. „Glau ... glauben Sie wirklich, ich würde einen solchen Betrag von Ihnen annehmen?“ fragte sie.

„Sie haben keine andere Wahl“, erwiderte er. „Wenn Sie nämlich in dieser Sache Schwierigkeiten machen, werde ich meinen Sekretär beauftragen, einen entsprechenden Betrag bei den hiesigen Geschäften für Sie zu hinterlegen.“

„Das werden Sie nicht tun!“ rief Rowena ärgerlich. „Und um eines klarzustellen, Mylord, wir verlangen keine Mildtätigkeit von Ihnen.“

„Ich verlange einigen Luxus dafür. Sie haben selbst gesagt, daß ich wieder zu Kräften kommen muß. Ich möchte in Zukunft Lammkeulen, Hühnerbrust, Rindersteaks und einige andere Delikatessen essen, von denen man viele, wie mir gerade einfällt, von meinem Gut beschaffen kann.“

„Wir werden diese Dinge nicht annehmen!“ rief Rowena aus.

„Sie enttäuschen mich. Ich hatte den Eindruck, daß eine gute Geschäftsfrau in Ihnen steckt. Und jetzt zeigen Sie, daß alles nur Humbug ist. Sie füttern die Reichen auf Kosten der Armen. Und das nur aus einem dummen, unrechten Stolz heraus, den Sie sich nicht leisten können.“

 

„Wie können Sie es wagen, in dieser Weise mit mir zu sprechen!“

Aber noch während sie dies aussprach, wußte Rowena, daß sie all diese Dinge, die der Marquis ihr anbot, so gut brauchen konnten. Und da es den Kindern zugutekommen würde, wußte Rowena, daß sie am Ende doch nachgeben würde.

2

„Darf ich hereinkommen?“ flüsterte eine Stimme an der Tür.

Der Marquis drehte seinen Kopf ein wenig und sah Hermoine, die durch die Tür lugte.

„Rowena wird sicher böse sein, wenn sie mich hier entdeckt, aber ich wollte Ihnen mein neues Kleid zeigen.“

Der Marquis hatte vor einigen Tagen einen Rückfall erlitten. Sir George war aus London gekommen und hatte ihm absolute Ruhe verschrieben.

„Es ist nichts weiter als ein Fieber“, hatte er Dr. Winsford erklärt. „Eigentlich war es zu erwarten. Ich bin überzeugt, daß ihm nichts fehlt, was nicht durch Ruhe wieder geheilt werden kann.“

Der Marquis fühlte sich jedoch sehr krank. Seine Kopfschmerzen waren zurückgekehrt, und er war froh, wenn die Medikamente, die man ihm gab, ihn in tiefen Schlaf fallen ließen, in dem er alles, auch die Schmerzen vergessen konnte.

Wenn er wach war, bemerkte er, daß Rowena wieder die sanfte Persönlichkeit geworden war, wie am Anfang.

Er ertappte sich dabei, daß er auf den Klang ihrer Stimme lauschte und auf die sanfte Berührung, mit der sie seinen Kopf hielt, wartete.

Im Augenblick jedoch ging es ihm besser und er lächelte Hermoine zu. Das Mädchen kam vorsichtig näher und trug stolz ihr neues Kleid.

Sein geschultes Auge konnte erkennen, daß es aus billigem Material war. Jedoch ließ das grünliche Blau des Kleides das Blau ihrer Augen leuchten. Es war der perfekte Rahmen für ihre reine Haut.

Nicht zum ersten Mal dachte er daran, welche Schönheit Hermoine in ein oder zwei Jahren sein würde. Richtig gekleidet wäre sie eine Sensation in der Gesellschaft Londons.

Aber er hatte in der Zwischenzeit auch eingesehen, daß dies wohl niemals der Fall sein würde. Und doch konnte er nicht umhin, die Tatsache zutiefst zu bedauern, daß diese schönen Mädchen in dem kleinen Ort Little Powick begraben sein würden, wo niemand ihre Schönheit sehen konnte.

Rowena und Lotty waren auf eine klassische Weise schön, wogegen die Schönheit von Hermoine einen wie ein Hammerschlag traf.

„Wie konnte ein gewöhnlicher Landarzt solche Schönheiten hervorbringen?“ fragte sich der Marquis, wie schon so oft zuvor.

„Gefällt es Ihnen?“ fragte Hermoine, während sie sich vor seinem Bett drehte.

„Du siehst sehr attraktiv aus“, sagte der Marquis. „Aber ich habe den Eindruck, du weißt das selbst.“

„Ich wollte, daß Sie mich hübsch finden“, strahlte Hermoine ihn an. Einem jüngeren Mann hätte der Blick aus ihren strahlend blauen Augen sicher den Atem genommen.

„Hast du es selbst gemacht?“ fragte der Marquis.

„Einen großen Teil. Rowena hat es zugeschnitten, und ich habe die einzelnen Teile zusammengenäht und die Rüschen am Hals und an den Ärmeln entworfen.“

Dann seufzte sie. „Ich wünschte, jemand würde mich zu einer Party einladen. In Little Powick gibt es niemals Partys.“

„Und wie steht es mit den Leuten auf dem Lande? Ich nehme an, daß es dort doch des öfteren Feste gibt.“

Hermoine lächelte ihn an.

„Sie sollten doch wissen, wie diese Leute sind. Wenn die irgendwelche Feste oder Empfänge geben, dann bleiben sie unter sich. Die Töchter von Ärzten sind meistens nicht gut genug.“

Der Marquis antwortete nicht. Er wußte nur zugut, wie recht sie hatte.

„Als der alte Squire noch lebte, hat er Mama und Papa einmal im Jahr eingeladen. Papa war nicht sonderlich begeistert davon, aber Mama meinte, daß sein Abendanzug sich über den Ausgang freuen würde.“

Der Marquis erinnerte sich daran, daß sein Vater den örtlichen Arzt in dieser Weise behandelt hatte. An dessen Kinder konnte er sich nicht erinnern. Aber bestimmt ähnelten sie den Winsfords in keiner Weise, wenn er welche gehabt hat.

Hermoine begann darüber zu reden, daß ihr großes Hobby das Zeichnen war. Am liebsten würde sie Mode entwerfen.

„Aber man braucht dafür einen Lehrer. Und da Vater es sich nur leisten kann, uns Unterricht in langweiligen Fächern wie Mathematik und Geschichte zu geben, werde ich dieses Ziel wohl nicht erreichen. Ich habe Rowena einmal von meinem Wunsch erzählt, aber sie sagte nein.“

„Rowena hat auch gesagt, daß du in dieses Zimmer nicht gehen sollst!“ ertönte es von der Tür.

Schuldbewußt drehte sich Hermoine um.

„Sie wollte mir nur ihr neues Kleid vorführen“, erklärte der Marquis. „Ich habe Ihre Nähkünste bewundert.“

„Ihnen ist absolute Ruhe verordnet worden“, bemerkte Rowena. „Und wie Sie wissen, habe ich den Kindern befohlen, dieses Zimmer nicht zu betreten.“

„Das war gestern“, erwiderte der Marquis. „Heute fühle ich mich bereits viel besser. Und ich glaube nicht, daß es gut für mich ist, ständig allein vor mich hin zu brüten.“

Rowena brachte ihm ein Glas selbst gemachter Limonade. Er trank einige Schlucke und reichte ihr dann das Glas wieder.

„Ich würde heute Abend gerne ein Glas Champagner trinken. Würden Sie Johnson bitte Bescheid geben?“

Rowena sah ihn zweifelnd an.

„Wir sollten Papa erst fragen“, meinte sie.

„Das ist Zeitverschwendung“, widersprach der Marquis. „Sie wissen so gut wie ich, daß er mit allem einverstanden ist, was mich gut fühlen läßt.“

„Nun gut, ich werde es Ihrem Diener ausrichten, wenn er zurückkehrt“, erwiderte Rowena steif.

Mit einem Leuchten in den Augen sah Hermoine den Marquis an. „Ist Johnson nach Swayneling Park gefahren? Vielleicht bringt er wieder einige von diesen leckeren Pfirsichen mit.“

„Hermoine!“ empört rief Rowena es aus.

„Ich werde sehr böse sein, wenn er nicht alle Früchte und Gemüse mitbringt, die du dir wünschst“, sagte der Marquis.

„Sie sind sehr freundlich“, warf Rowena ein. „Aber wir möchten Sie nicht belästigen.“

„Ich brauche sie für meine eigene Genesung“, erklärte der Marquis. „Und ich hoffe, daß ich heute Abend ein richtiges Essen bekomme. Ich habe diese Suppen satt, mit denen Sie mich in den letzten Tagen gefüttert haben!“

„Sie wissen genau, daß Sie nichts Anderes essen durften, solange Sie Fieber hatten“, antwortete sie.

„Ich will mich auch gar nicht beschweren. Aber ich fühle mich heute besser und habe Hunger.“

„Ihnen geht es auch viel, viel besser!“ Hermoine sagte es ganz aufgeregt. „Das heißt, daß wir Sie besuchen dürfen und mit Ihnen reden können. Es war so langweilig, immer nur auf Zehenspitzen herumlaufen zu dürfen, wenn wir an Ihrem Zimmer vorbeigingen. Dabei hätte ich Sie so viele Dinge fragen mögen.“

„Was denn, zum Beispiel?“ fragte der Marquis.

„Genug jetzt. Du gehst jetzt hinunter. Der Lord muß jetzt Ruhe haben“, befahl Rowena. Als sie die Enttäuschung in Hermoines Gesicht sah, fügte sie hinzu: „Wenn Seine Lordschaft nicht zu müde ist, darfst du später noch einmal kommen und Gute Nacht sagen.“

„Ich will aber jetzt mit ihm reden“, trotzte Hermoine.

„Wir haben uns über ihre Hobbys unterhalten. Hermoine erzählte mir, daß sie gerne Mode entwerfen würde.“

„Genauso gut könnte sie auf den Mond wollen!” sagte Rowena gereizt.

„Mama hat auch gesagt, jeder Mensch sollte ein Hobby haben. Was ist Ihr Hobby?“ fragte Hermoine den Marquis.

„Versuch doch ’mal, es zu erraten“, erwiderte dieser.

„Hat es mit Pferden zu tun?“

„Nein.“

Er sah Rowena an.

„Was es auch ist, ich bin überzeugt, daß es sehr teuer und sicher auch sehr persönlich ist.“

„Was ist es denn? Bitte sagen Sie es uns!“ drängte Hermoine.

„Genealogie“, antwortete er.

Hermoine sah ihn verständnislos an. Der Marquis blickte zu Rowena, als wolle er sie auffordern, es Hermoine zu erklären.

„Ich glaube“, begann sie langsam, „es hat etwas mit jemandes Vorfahren zu tun.“

„Das stimmt“, bestätigte der Marquis. „Es geht darum, den Ursprung einer Familie zu erforschen.“

„Heißt das, daß Sie Ihren Stammbaum machen?“ fragte Hermoine. „Ich habe in einem Buch einmal einen aufgemalt gesehen. Ich glaube, es war der des Königs Charlemagne.“

„Ein sehr gutes Beispiel“, erwiderte der Marquis. „Mein eigener geht in der Tat weiter zurück als zu Wilhelm dem Eroberer, und er beinhaltet nicht weniger als vier Könige.“

„Das nenne ich wirklich ein aufregendes Hobby”, rief Hermoine begeistert.

Rowena erwiderte nichts. Der Marquis betrachtete ihr Profil und sagte dann: „Ich habe den Eindruck, daß Sie denken, ich verschwende lediglich meine Zeit mit derlei Forschungen, Miss Rowena.“

„Nun, Mylord, ich kann mir vorstellen, daß Sie eine Menge Zeit zur Verfügung haben, um sie zu verschwenden. In diesem Hause aber müssen wir uns mit den Lebenden beschäftigen, nicht mit den Toten.“

„Genau diese Antwort habe ich von Ihnen erwartet“, sagte der Marquis, und Rowena ärgerte sich, daß ihr keine originellere Bemerkung eingefallen war.

Sie wußte nicht, woran es lag, aber seit der Marquis sich wieder ein wenig erholt hatte, hatten sie begonnen, sich mit Worten zu bekämpfen. Irgend etwas hatte er an sich, was sie ständig herausforderte. Sie wußte, daß dies nicht die Einstellung war, die sie einem Patienten gegenüber haben sollte. Aber sowie er nicht mehr litt, empfand sie seine überlegene Ausstrahlung als irritierend.

Er war so überzeugt von sich, so selbstsicher. Er strahlte Eleganz und Autorität aus, und fast beleidigt stellte sie fest, daß er die Aufmerksamkeit der ganzen Familie auf sich zog. Wenn sie alle beisammen waren, Mark, Lotty und Hermoine, konnten sie alle über nichts Anderes reden als über den Marquis. Und sie wußte, daß Hermoine nicht nur von ihm sprach, sondern des nachts auch von ihm träumte.

Mark warf sofort seine Lehrbücher in die Ecke, wenn die Pferde des Marquis erschienen.

Von dem Augenblick an, als der Marquis entdeckt hatte, wie arm sie waren, kamen die schönsten Früchte, das zarteste Fleisch und alle delikaten Gemüse von Swayneling Park in so großen Mengen, daß das Vorratsregal von Rowena, das gewöhnlich leer war, nun fast überfüllt war von Marmelade, Gelees und Säften, die sie und Mrs. Hanson kochten, bevor ein großer Teil der Früchte verderben konnte.

Auch Mrs. Hanson hatte ihre Ablehnung gegen den Gast abgelegt, besonders, als auch noch ein Küchenmädchen von Swayneling Park herübergeschickt wurde, um in der Küche zu helfen und sogar den Fußboden säuberte. Nur Rowena war so etwas wie gekränkt von der Tatsache, daß der Marquis das Kommando im Hause übernommen zu haben schien.

Der Diener und das Küchenmädchen kamen am Morgen und gingen erst am Abend wieder. Jeden Tag brachten sie große Körbe mit Nahrungsmitteln mit.

Auch Mr. Ashburn, der Sekretär des Marquis, erschien jeden Tag. Niemals ging er, ohne Rowena zu fragen, ob sie noch irgend etwas für das Wohlbefinden des Marquis benötige. Dieser jedoch verbreitete eine solche Aura der Überlegenheit und ließ Rowena deutlich fühlen, daß er die Umgebung für seinen Herrn als absolut ungeeignet ansah, daß sie sich zurückhalten mußte, ihm nicht zu sagen, daß ihr einziger Wunsch war, daß der Marquis so schnell als möglich wieder nach Hause zurückkehrte.

Jedoch wußte sie, daß weder ihr Vater noch Sir George damit einverstanden sein würden.

Sie befürchtete aber, daß der Einfluß, den der Marquis hatte, es sehr schwer machen würde, die Kinder nach seinem Weggang wieder an das normale Leben zu gewöhnen.

,Er verdirbt die Kinder für das Leben, das sie in Zukunft werden führen müssen’, dachte sie bei sich.

Jetzt konnte sie sich nicht zurückhalten. Sie sagte: „Ich habe gedacht, daß Eure Lordschaft sich ein produktiveres Hobby ausgesucht hätte, als in alten staubigen Manuskripten nach den Vorfahren eines so überaus wichtigen Sohnes zu suchen, der den Namen der Familie am Leben halten sollte.“

„Ich bin nicht der einzige mit einem solchen Hobby“, war die Antwort des Marquis. „Auch Julius Caesar beschäftigte sich mit seinen Vorfahren.“

„Ich würde gerne etwas über Genealogie erfahren, erzählen Sie mir bitte etwas davon“, bat Hermoine. „Wenn Sie sich dafür interessieren, dann muß es einfach interessant sein.“

 

„Danke“, erwiderte der Marquis.

Rowena hatte den Eindruck, daß er, nur um sie zu ärgern, begann, Hermoine über dieses Thema zu erzählen. Eine Weile ließ sie ihn gewähren, dann jedoch sagte sie bestimmt: „Es ist jetzt Zeit für Sie, zu schlafen, Mylord. Und du, Hermoine, weißt genau, daß du den Tisch decken solltest.“

„Immer muß ich etwas tun, was mich nicht interessiert“, murrte Hermoine. „Ich glaube, es wäre besser für meinen Kopf, zuzuhören, was Seine Lordschaft zu erzählen hat. Stattdessen muß ich mich damit beschäftigen, wieviele Tassen und Teller zum Abendessen benötigt werden.“

Da sie es jedoch gewohnt war, Rowena zu gehorchen, ging sie zur Tür. Sie warf dem Marquis noch einen Blick zu und sagte: „Ich möchte noch viel mehr hören, Mylord, und ich möchte auch gerne einmal Ihren Stammbaum sehen.“

„Den werde ich dir zeigen“, versprach der Marquis.

Rowena zog die Rouleaus ein wenig herunter, damit die Sonne den Marquis nicht stören konnte.

„Es tut mir leid, daß mein Hobby Sie nicht interessiert“, sagte er zu ihr.

„Das ist es nicht“, antwortete sie. Sie wandte sich vom Fenster ab und ging auf ihn zu.

„Ich weiß, daß Sie freundlich zu uns sein wollen, Mylord“, begann sie. „Und ich schätze die Dinge, die Sie uns haben zukommen lassen, seit Sie hier sind.“

Sie machte eine Pause und suchte sorgfältig nach den passenden Worten.

„Ich möchte nur nicht, daß Sie die Kinder in einer Weise unterstützen, daß sie Sie nach Ihrem Fortgehen so vermissen werden, daß ihr Zuhause ihnen wie ein langweiliger uninteressanter Ort erscheint.“

„Ich glaube, Sie wollen mir schmeicheln“, sagte der Marquis.

„Nein, das will ich ganz und gar nicht“, erwiderte Rowena scharf. „Ich stelle nur fest, daß wir zwar in Ihrem Leben völlig unwichtig sind, Sie jedoch bereits eine sehr wichtige Rolle in unser aller Leben eingenommen haben.“

Sie stieß einen Seufzer aus, bevor sie fortfuhr: „Mark kann über nichts Anderes mehr reden als über Ihre Pferde. Ihr Reitknecht hat ihn einige Male darauf reiten lassen. Was glauben Sie wohl, wie er sich fühlen wird, wenn dann nur noch der alte Dobin da sein wird, auf dem man einher trotten kann, wenn Vater ihn nicht gerade braucht, um seine Patienten zu besuchen?“

„Sie sind doch aber auch der Meinung, daß es für einen Jungen wie Mark völlig normal ist, an Pferden interessiert zu sein?“

„Interessiert... ja. Aber nicht besessen davon. Und dazu noch von Pferden dieser Art. Wahrscheinlich wird er solche nie wieder zu Gesicht bekommen, geschweige denn darauf reiten können!“

Der Marquis antwortete nicht, und nach einer kleinen Weile fuhr sie fort: „Und Hermoine glaubt, wie Sie sicher bemerkt haben, daß Sie der attraktivste und aufregendste Mann dieser Welt sind. Wie soll sie jemals Gefallen an einem gewöhnlichen jungen Mann finden, wenn sie in ein bis zwei Jahren in das entsprechende Alter kommt?“

„Sie schmeicheln mir schon wieder!“ warf der Marquis ein.

„Ich bin nicht um Sie besorgt. Sie werden von hier fortgehen und in Ihr Leben zurückkehren, das nichts, aber auch gar nichts mit dem unseren zu tun hat. Und zweifellos werden Sie nach einigen Wochen nicht einmal so etwas wie einen flüchtigen Gedanken an uns haben. Aber ich fürchte sehr, daß der Eindruck, den Sie hier hinterlassen, kaum mehr auszulöschen ist.“

In ihrer Stimme erklang so etwas wie ein Schluchzen, und nach einem kurzen Augenblick sagte der Marquis: „Über zwei Mitglieder Ihrer Familie haben Sie bisher nichts gesagt Lotty und Sie selbst.“

„Lotty wird die schönen Pfirsiche vermissen und all die anderen guten Dinge, die sie jetzt genießen kann“, erwiderte Rowena. „Aber das ist kein entfernt so großes Problem wie Mark und Hermoine.“

„Und was ist mit Ihnen?“

„Ich werde Sie so schnell wie möglich wieder vergessen, Mylord!“

„Und Sie glauben, daß das so einfach sein wird?“

„Ich bin sicher, das wird es sein. Eine Sternschnuppe kommt nicht so schnell ein zweites Mal vorbei, und man sagt, daß auch ein Blitz nicht ein zweites Mal am gleichen Platz einschlägt.“

„Wenn ich Ihnen sage, daß es für mich sehr schwer sein wird, Sie zu vergessen, würden Sie mir glauben?“

„Eher glaube ich an die Existenz von Aphrodite und all den griechischen Göttern.“

Rowena schritt zur Tür, ehe sie hinzufügte: „Es ist jetzt Zeit für mich, Ihren Tee zu holen. Ich hoffe, Eure Lordschaft wird sich an meine Worte erinnern und von jetzt an weder Hermoine noch Mark in ihren Träumen unterstützen.“

Sie verließ den Raum, noch bevor der Marquis etwas erwidern konnte, aber seine Augen hingen an der Tür, und er war tief in Gedanken versunken.

Am folgenden Nachmittag kam Mr. Ashburn, nachdem er bereits seinen morgendlichen Besuch gemacht hatte, noch einmal zurück und brachte einen Kasten voller Manuskripte, die er neben das Bett des Marquis stellte. Nachdem der Sekretär wieder gegangen war, kam Rowena mit neugierigem Blick ins Zimmer.

„Ich dachte, Sie würden vielleicht interessiert an meinen Nachforschungen sein, die Sie gestern mit soviel Anstrengung versucht haben, herabzuwürdigen“, sagte der Marquis. „Ich habe sehr lange daran gearbeitet, und ich ziehe in Erwägung, einen Almanach über die alteingesessenen Familien Englands zu veröffentlichen.“

Rowena antwortete nicht, und der Marquis fuhr fort: „Da Sie so interessiert sind, möchte ich Sie informieren, daß der Gothaer Almanach in Deutschland bereits seit 1764 erscheint und sämtliche adligen Familien enthält.“

„Und Sie glauben, daß wir in England auch einen solchen Almanach brauchen?“ fragte Rowena.

„Warum nicht? Es ist ein außerordentlich interessantes Gebiet.“

„Das mag schon sein. Ich bin trotzdem der Meinung, Mylord, daß Sie sich mehr um die Lebenden kümmern sollten und versuchen sollten, ihnen zu helfen“, erwiderte Rowena. „Jetzt, da der Krieg vorüber ist, gibt es Millionen, die Hilfe benötigen. Wenn man den Zeitungen glauben kann, besteht ein außerordentlicher Bedarf an Kinderheimen für Kriegswaisen.“

„Es gibt eine Menge Waisenhäuser auf meinen Gütern“, warf der Marquis ein. „Und ich glaube, daß der Duke of Wellington sich in vorzüglicher Weise um die Verwundeten kümmert. So sehr Sie das auch verurteilen, Rowena, ich habe ein großes Interesse an meinen Vorfahren.“

Er griff in den Karton und reichte ihr ein Manuskript. Im Augenblick, als sie es ansah, änderte sich ihr ablehnender Gesichtsausdruck. Sie hatte noch nie etwas so Schönes gesehen. Es war eine Illustration mit Blumen und Figuren in allen möglichen Farben. Es sah aus wie ein kleines Kunstwerk.

„Dies ist der Teil meines Familien Stammbaums, der im vierzehnten Jahrhundert von Sir Robert Swayne zusammengetragen wurde“, erklärte er. „Er war ein direkter Nachkomme der Swaynes, die in der Armee von Wilhelm dem Eroberer kämpften.“

Er reichte ihr ein Manuskript nach dem anderen und erklärte ihr die wichtigsten Dinge. Sie zeigte die gleiche Begeisterung über diese Kunstwerke, die wahrscheinlich auch Hermoine zum Ausdruck gebracht hätte.

Da waren Manuskripte im Illustrationen im Gotischen Stil. Es gab Schriften aus dem vierzehnten Jahrhundert mit naturalistischen Illustrationen. Sie sah ein Kunstwerk von flämischen Künstlern, die den Duke of Burgundy zeigten, der mit den Swaynes verwandt war.

„Das ist ja wunderschön!“ rief Rowena aus. „Welch ein Glück, daß dies alles so lange aufbewahrt werden konnte!“

„Unsere Familiengeschichte wurde durch alle Generationen hindurch sehr sorgfältig aufbewahrt und weitergeführt“, erwiderte der Marquis. „Mein Vater war sehr daran interessiert. Und ich habe alles über Jahre hinweg gesammelt.“

Er lächelte.

„Wir sind sogar in einer Geschichte erwähnt, die in Frankreich von einem Pater Anselme de St. Marie geschrieben worden ist. Daher habe ich entdeckt, daß die Familie der Swaynes auch viele französische Zweige hat.“

„Sind von diesen denn heute noch einige am Leben?“ fragte Rowena.

„Einige“, erwiderte er.

Er zeigte ihr noch einige andere Manuskripte und legte dann alles sorgfältig in den Karton zurück.

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