Der Herzensdieb

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Als Jake ihr die Kutschentür öffnete, sagte sie leise: „Keine Bemerkung zu irgend jemanden über das, was heute abend geschehen ist. Weder zu den anderen Dienern im Haus noch zu Ihren Freunden in der Stadt.“

„Ich werde schweigen, Mylady.“

„Informieren Sie auch Hancocks entsprechend.“

„Sehr wohl, Mylady.“

Lady Roysdon trat in die Halle, in der die Kerzen der späten Stunde wegen nur noch niedrig brannten. Da sie nichts hatte, um ihren schmucklosen Hals zu verhüllen, lief sie so schnell an dem Nachtwächter vorbei, daß sie schon halb auf der Treppe war, ehe er die Tür hinter ihr geschlossen hatte. Es war ein älterer Mann, den sie aus London mitgebracht hatte, weil sie seine Verläßlichkeit schätzte.

„Gute Nacht, Danvers“, rief sie über ihre Schulter zurück.

„Gute Nacht, Mylady, hoffentlich haben Sie einen angenehmen Abend verbracht. Es warten einige Briefe auf Sie.“

„Darum werde ich mich morgen früh kümmern“, erwiderte sie hastig und entschwand in ihrem Schlafzimmer. Ihre Zofe - eine ältere Frau, wußte, daß ihre Herrin zu dieser Stunde keine Unterhaltung wünschte und entkleidete sie schweigend. Als sie das Kleid schon auf dem Arm hatte, um es mitzunehmen, sagte sie nach einem Blick auf die Schmuckschatulle, die auf dem Frisiertisch stand.

„Ihre Smaragde, Mylady, wo sind sie?“

„Ich habe sie sicherheitshalber abgenommen.“

„Sicherheitshalber?“

„Du mußt doch davon gelesen haben, daß hier in der Gegend Banditen ihr Unwesen treiben. In der Stadt gibt es überall Anschläge mit Warnungen an die Gäste, auf der Hut zu sein.“

„Deshalb führt ja auch der neue Reitknecht eine Donnerbüchse bei sich.“

Wenn Jake tatsächlich eine solche Waffe bei sich gehabt hatte, hat er jedenfalls keinen Gebrauch davon gemacht, dachte Lady Roysdon.

Laut bemerkte sie: „Schon gut, Hannah, mach dir keine Sorgen. Wir reden morgen früh darüber.“

Als die Dienerin gegangen war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, traf Lady Roysdon noch keine Anstalten, ins Bett zu gehen. Mit einer Kerze in der Hand trat sie vor den Spiegel, um ihr Bild zu betrachten. Sie gewann den Eindruck, als ob ihre Augen seltsam leuchteten. Ihre Lippen wirkten roter und weicher, als sie sie in Erinnerung hatte. Das konnte nicht von einem Lippenstift kommen. Sie hatte keine Salbe mehr aufgetragen, seit sie im Anschluß an eine Dinnergesellschaft zum Ball gefahren war.

Gerötete Lippen und strahlende Augen waren - das wußte sie ganz genau - die Folge eines Kusses. Sie war von einem Mann geküßt worden, dessen Gesicht sie nur teilweise gesehen hatte, von dem jedoch als Tatsache feststand, daß er ein Räuber und Wegelagerer war.

„Ich muß verrückt sein“, flüsterte sie und konnte die Erregung nicht vergessen, in die die Berührung seines Mundes sie versetzt hatte, die sich in ihrem ganzen Körper ausbreitende Wärme, den scharfen Schmerz wie von einem Dolch und die darauffolgende Seligkeit, die sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können.

Sie stand vor dem Spiegel und betrachtete ihr Bild, bis sie es nicht mehr ertragen konnte und die Kerze ausblies. Nicht ohne Mühe tastete sie sich durch das dunkle Zimmer zu ihrem Bett, schlüpfte hinein und barg ihr Gesicht in den Kissen.

2.

Als Lady Roysdon am nächsten Morgen erwachte, hatte sich ihre Stimmung geändert. Als Frau eines Peers mit Rang und Namen hatte sie sich am vergangenen Abend unmöglich benommen, soviel stand fest. Wie sie allerdings den Kuß hätte verhindern wollen, wußte sie nicht. Sie war aber ganz sicher, daß ihr etwas hätte einfallen müssen, wenn sie sich wirklich bemüht hätte. Jetzt blieb ihr nur übrig, sich diese Episode so schnell wie möglich aus dem Kopf zu schlagen.

Im Augenblick stand sie ohnehin vor dem wichtigeren Problem, wie sie mit dem Grafen von Sheringham fertigwerden sollte, dessen Stolz sie zweifellos einen herben Schlag zugefügt hatte.

Es entsprach ihrer üblichen Routine, die Steine entlang zu promenieren, sobald sie angekleidet war und die zahllosen Briefe und Einladungen durchgesehen hatte, die auf sie warteten. Die Steine war die eleganteste und besuchteste Promenade Brightons. Sie begann da, wo sich die Straßen aus London und Lewes vereinigten und reichte bis zum Meer.

Wenn man den Ärzten Glauben schenken wollte, war Seeluft eine Kur für fast jede bekannte Krankheit. Heute hatte sie allerdings das unbehagliche Gefühl, daß die Seeluft die süße Erinnerung nicht vertreiben konnte, von der sie bei der Erinnerung an ihre Begegnung mit dem Straßenräuber immer wieder befallen wurde. Andererseits konnte sie wenigstens herauszufinden versuchen, ob diese Luft in ihrem Fall genauso wirkungsvoll war, wie sie das bei vielen Gebrechen sein sollte.

In einem Kleid aus himbeerfarbenem Musselin und dem dazu passenden Hut trat sie hinaus in den Sonnenschein. Sie war sich wohl bewußt, daß sie reizvoll aussah, zumal ihre Augen größer und strahlender in die Welt blickten als gewöhnlich.

Der Prinz von Wales war niemals glücklicher und gelöster als in Brighton, wo er einen Großteil seiner Zeit bei Mrs. Fitzherbert zubrachte. Ihr Haus kam kaum in Sicht, als Lady Roysdon ihn auch schon über das Balkongitter lehnen sah. Von dort aus unterhielt er sich mit einigen untenstehenden Freunden. Ah seiner Seite Richard Brinsley Sheridan, sein engster Freund und unzertrennlicher Gefährte, der einen verheerenden Einfluß auf jeden ausübte, mit dem er in Berührung kam. Trotz seiner fünfundfünfzig Jahre benahm er sich noch wie ein junger Mann, brachte jeden zum Lachen, zumal jeder gespannt war, was er als nächstes anstellen würde.

Dieses Jahr hatte eine seiner ersten Schandtaten darin bestanden, als Polizeioffizier verkleidet in Lady Seftons Salon zu stürmen und die alte Dame wegen unerlaubten Glücksspiels zu verhaften. An einem der nächsten Abende setzte er sich während der Vorführung von Gaukelbildern im Dunkeln einer ungeheuer hochmütigen Dame auf den Schoß, die sich über das allgemeine Gelächter furchtbar aufregte.

„Aber es ist schwer, lange böse auf ihn zu sein“, hatte Mrs. Fitzherbert Lady Roysdon gestanden. „Wenn er Hunger hat, geht er zu jeder Tages- oder Nachtzeit in die Küche, erzählt den Dienern, daß er ihnen anstelle des Prinzen von Wales weit bessere Quartiere zur Verfügung stellen würde und erreicht, daß sie sich danach drängen, ihm alle Wünsche zu erfüllen.“

Sie hatte geseufzt.

„Seine Streiche und Schabernacks gehen mir manchmal auf die Nerven, ich muß aber zugeben, daß er mich ständig zum Lachen bringt.“

An diesem Vormittag war Lady Roysdon nicht ausgesprochen nach Lachen zumute, außerdem befürchtete sie, daß jeden Augenblick eine dritte Person, nämlich Graf von Sheringham auf dem Balkon auftauchen könnte. Sie beantwortete daher das Winken des Prinzen mit einem Knicks und stellte sich unwissend, als ob sie nicht begriff, daß es eine Einladung ins Haus bedeutete. Später konnte sie sich immer noch auf einen dringenden Besuch in der Bibliothek herausreden.

Sie war noch nicht weit gegangen, als sie einem weiteren Freund des Prinzen von Wales begegnete, dem exzentrischen Mr. Mellish. Um Aufmerksamkeit zu erregen, hatte er die Farbe Weiß als sein Aushängeschild gewählt. Wagen, Pferde und die Livreen seiner Diener waren weiß, auch er selbst zog sich so an. Lady Roysdon fand ihn ausgesprochen langweilig, außerdem wußte sie, daß er ihr nur den Hof machte, weil sie in Mode war.

Wenn sie schon eine Wahl treffen sollte, dann zog sie den Ehrenwerten Tony Onslow vor, der sich nur schwarz kleidete. Ein anderer, der auf den Steinen Aufsehen erregte, tat das mit noch ausgefalleneren Methoden. Er war als der grüne Mann bekannt und trug stets grüne Hosen, grüne Weste, grüne Jacke und grüne Krawatte. Es wurde sogar behauptet, daß er nur grünes Obst und Gemüse aß. Seine Räume waren grün tapeziert, und er schlief in einem grünen Bett mit grünen Vorhängen.

Gerade eben fuhr er in seinem grünen Wagen, begleitet von Dienern in grüner Livree mit grüngepuderten Perücken, vorbei. Lady Roysdon sah ihm nach, als eine ihrer Freundinnen, Lady Dorridge, neben ihr stehen blieb.

„Ist es nicht phantastisch, Galatea?“ fragte sie.

„Er muß verrückt sein.“

„Jedenfalls redet ganz Brighton über ihn. Sein Name ist Cope und trotz seiner exzentrischen Allüren ist er ein Gentleman.“

„Und wie geht es Ihnen, Averil?“ fragte Lady Roysdon lächelnd.

„Fragen Sie lieber nicht.“

Auf Lady Dorridges Gesicht zeigten sich die Spuren frischer Tränen, die Mundwinkel waren mutlos nach unten gezogen. Sie war eine hübsche Frau, die man nicht oft in der Gesellschaft antraf, weil Sir Edward Dorridge dazu nicht reich genug war. Gelegentlich besuchte sie ihre Mutter in London, wo sie Lady Roysdon kennengelernt hatte. Sie lebte aber sonst mit ihren zwei Töchtern, die noch so klein waren, daß sie am Strand Sandburgen bauten, in ihrem winzigen Haus in Brighton.

„Was ist geschehen, Averil?“ fragte Lady Roysdon.

Als ihre Freundin nicht antwortete, sagte sie: „Begleiten Sie mich nach Hause. Dort können wir eine Tasse Kaffee trinken. Es sieht Ihnen gar nicht ähnlich, schlechte Laune zu haben.“

Das entsprach den Tatsachen, denn obwohl Lady Dorridge ihr ganzes Leben lang jeden Penny hatte zweimal umdrehen müssen, bevor sie ihn ausgab, pflegte sie stets fröhlich zu sein. Ihr Mann war vor drei Monaten gestorben, und da sie blondes Haar und blaue Augen hatte, stand ihr die Trauerkleidung gut.

Auf dem Heimweg mußte Lady Roysdon unwillkürlich daran denken, daß es kaum lange dauern würde, bis Averil einen neuen Gatten fand. Ihre frühere Vermutung erwies sich als richtig. Beim neuerlichen Passieren von Mrs. Fitzherberts Haus stellte sie fest, daß sich der Graf von Sheringham dem Prinzen zugesellt hatte. Sie grüßte ihn mit einem kleinen Winken, mußte aber an seiner finsteren Miene erkennen, daß er ihr noch nicht vergeben hatte. Früher oder später würde sie sich von ihm anhören müssen, daß sie ihn nicht so behandeln durfte. Dabei haßte sie fruchtlose Diskussionen, vor allem mit dem Grafen.

 

Um sich von diesem Thema abzulenken, begann sie lebhaft über einen Ball zu plaudern, den Lord Marston dieser Tage geben würde. Im Haus angekommen, bat sie den Butler, im Morgenzimmer Kaffee zu servieren. Dann zog sie ihre Freundin in den kleinen und gemütlichen Raum im Erdgeschoß, von dem man einen Blick auf die Steine hatte.

„Da wir jetzt allein und ungestört sind, müssen Sie mir erzählen, was Sie bedrückt“, forderte sie.

„Ich mag Sie nicht mit meinen Schwierigkeiten belasten“, erwiderte Lady Dorridge in einem Ton, der mutig klingen sollte, aber weit davon entfernt war.

„Wenn ich Sie so niedergeschlagen sehe, kann ich gar nicht anders, als den Versuch zu machen, die Ursache herauszufinden. Nehmen Sie Ihren Hut ab, Averil, und machen Sie es sich bequem.“

Lady Dorridge tat, wie ihr geheißen, und strich sich mit bebenden Fingern das blonde Haar glatt.

„Es geht um Francis, meinen Schwager.“

„Ich wußte gar nicht, daß Sir Francis sich in Brighton aufhält.“

„Er ist gestern aus London eingetroffen, um mir einen Besuch abzustatten.“

„Und was hatte er Ihnen zu sagen?“

„Daß er die mir ausgesetzten Unterhaltszahlungen zu halbieren gedenkt“, erwiderte sie leise

„Es ist wenig genug, ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie damit auskommen.“

„Das ist noch nicht alles. Er verlangte mein Brillant- Kollier.“

„Das kann ich nicht glauben.“

„Seiner Behauptung nach gehört es der Familie und war nie als mein persönliches Eigentum gedacht.“

„Aber Sie haben mir vor langer Zeit erzählt, daß Ihr Gatte es Ihnen zum Geburtstag geschenkt hat.“

„Das stimmt! Edward gab viel mehr für den Schmuck aus, als er sich leisten konnte, weil er für mich und die Kinder so eine Art Notgroschen sein sollte.“

„Ich kann mich daran erinnern, daß Sie mir damals davon erzählt haben.“

„Falls es einmal notwendig werden würde, sollte ich das Schmuckstück verkaufen. Das Geld dafür würde mich zumindest für einige Zeit sicherstellen. Ich könnte die Kleider der Mädchen bezahlen, wenn sie in die Gesellschaft eingeführt werden“, fuhr Lady Dorridge mit Tränen in den Augen fort.

„Haben Sie das denn Sir Francis nicht mitgeteilt?“

„Aber ja doch, doch das interessierte ihn gar nicht. Wenn Edward eine solche Kostbarkeit gekauft hat, dann nur mit Geld, das den Dorridges gehört“, erklärte sie kühl.

Lady Roysdon sprang auf.

„Dieser Mann ist unmöglich“, rief sie. „Ich habe ihn zwar nur ein paarmal in Ihrer Gesellschaft gesehen, aber er hat mir auf den ersten Blick mißfallen.“

„Er haßte mich, weil ich seiner Meinung nach nicht gut genug für seinen Bruder gewesen war.“

Averils Stimme brach bei den letzten Worten. Dicke Tränen rollten über ihre Wangen. Wenn sie weinte, wirkte sie ungeheuer anziehend, nur war leider kein Mann anwesend, der das zu schätzen wußte.

„Wie Sie wissen, können Sie immer auf mich zählen, Averil“, tröstete Lady Roysdon.

„Nein, Galatea“, fiel Lady Dorridge ihr ins Wort. „Sie waren immer großzügig zu mir und den Kindern, aber Geld kann ich nicht von Ihnen annehmen.“

Lady Roysdon zerbrach sich den Kopf nach einem Ausweg. Ihre Freundin würde es nicht ertragen, von der Barmherzigkeit anderer abhängig zu sein, war aber andererseits einem harten Lebenskampf ohne die nötigen Mittel, ihre Dienstboten zu bezahlen oder ihren kleinen Mädchen eine gute Erziehung angedeihen zu lassen, nicht gewachsen.

„Sie können doch wohl beweisen, daß der Schmuck Ihnen gehört“, sagte sie nachdenklich.

„Wie sollte ich das? Auch wenn Sie und meine Freunde bezeugen, daß ich das Kollier als Geschenk erhalten habe, würde Francis einen Weg finden um zu beweisen, daß Edward kein eigenes Geld besaß und es sich daher irgendwie heimlich vom Familienbesitz abgezweigt haben muß.“

Lady Roysdon war sich fast sicher, daß Sir Edward tatsächlich ein paar Hektar Land verkauft haben mußte, um sich Geld zu beschaffen. Schließlich wußte er, daß nach seinem Tode - da er keinen Sohn besaß - sein Gut in die Hände seines Bruders übergehen würde.

Averil konnte offenbar Gedanken lesen. Sie führte ein Taschentuch an die Augen und schluchzte.

„Wenn wir doch nur den Sohn gehabt hätten, den wir uns so sehnlich gewünscht haben. Aber nach Carolines Geburt konnte ich keine weiteren Kinder mehr bekommen.“

Sie begann so hilflos zu weinen, daß Lady Roysdon ihr tröstend den Arm um die Schultern legte.

„Alles wird gut werden“, versprach sie. „Es fällt uns bestimmt etwas ein.“

„Was könnte uns nur einfallen?“

„Wo befindet sich Sir Francis im Augenblick?“

Lady Roysdon überlegte, ob sie zu ihm gehen und ihm tüchtig die Meinung sagen sollte. Vielleicht ließ sich auch der Prinz dazu bewegen, mit ihm zu reden. Andererseits konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Sir Francis, der sich wenig aus dem gesellschaftlichen Leben machte, sich auch genausowenig um Vorhaltungen des Prinzen von Wales kümmern würde.

„Er hat im Castle Inn übernachtet und ist heute bis zum Abend mit seinem Vermögensverwalter und dem Landagenten beschäftigt. Nach dem Dinner beabsichtigt er, nach Shoreham zu fahren.“

„Warum dorthin?“

„Seine Schwester, meine Schwägerin also, besitzt ein Haus auf der anderen Seite der Stadt.“

„Würde sie Ihnen nicht helfen?“

„Oh nein, Miriam ist ganz auf Francis Seite. Sie ist nicht glücklich in ihrer Ehe und hat aus Eifersucht von jeher versucht, zwischen Edward und mir Unfrieden zu stiften.“

„Sie haben sich eine ziemlich widerwärtige Familie ausgesucht“, bemerkte Lady Roysdon.

„Dabei habe ich mir solche Mühe gegeben, ihre Zuneigung zu gewinnen, Galatea, aber leider ohne Erfolg. Der gutaussehende Edward sollte eine reiche Erbin heiraten, die sie ihm bereits ausgesucht hatten. Daß er stattdessen mich zur Frau nahm, haben sie mir nie verziehen.“

„Sie haben Edward sehr glücklich gemacht, und das ist doch wohl das einzige, was zählt.“

„Ich muß an die Kinder denken“, sagte Lady Dorridge hilflos.

Sie sah aus dem Fenster. Die Gentlemen auf edlen Pferden, Frauen mit eleganten Hüten und Kinder, die aufgeregt zum Strand liefen, ergaben ein hübsches Bild. In ihrem Rücken aber weinte ihre Freundin, und es mußte etwas geschehen, um sie zu beruhigen. Und plötzlich wußte sie die Antwort, die in ihrem Unterbewußtsein schon geraume Zeit gelauert hatte.

Im ersten Augenblick redete sie sich ein, daß ihr Vorhaben unmöglich war, doch es wurde ihr von Sekunde zu Sekunde klarer, daß ihr gar nichts anderes übrig blieb. Und je mehr sie über die Idee nachdachte, desto besser gefiel sie ihr. Sie wandte sich vom Fenster ab.

„Jetzt weiß ich, wie ich Ihnen helfen kann, Averil“, sagte sie.

„Ich nehme kein Geld von Ihnen, weil das unweigerlich unsere Freundschaft zerstören würde“, wehrte diese ab.

„Aber ich biete Ihnen ja gar kein Geld an, wenn Sie mich auch nicht daran hindern können, Ihren Mädchen ein paar hübsche Kleider zu kaufen, was ich vorhabe, seit ich in Brighton bin.“

„Vielen Dank“, erwiderte Averil fast mechanisch, bevor sie neugierig fragte. „Und wie wollen Sie mir helfen?“

„Ich hole Ihnen einfach das Kollier zurück.“

Der Hoffnungsschimmer in Lady Dorridges blauen Augen erlosch.

„Francis wird sich nie davon trennen. Er ist ein solcher Pfennigfuchser, daß er mir kaum erlaubte, ein paar persönliche Dinge mitzunehmen, die mir seit meiner Kindheit gehörten.“

„Er ist abscheulich und wird seinen Lohn erhalten, dafür lassen Sie mich nur sorgen, Averil.“

„Um Himmels willen, was haben Sie vor?“

„Das erzähle ich Ihnen später. Hören Sie auf zu weinen und geben Sie die Hoffnung nicht auf.“

Lady Dorridge wischte sich heftig die Augen trocken.

„Ich werde tun, was Sie sagen. Wenn Sie aber die Absicht haben, mit Francis zu reden... er wird nicht auf Sie hören, weil er Sie nicht ausstehen kann.“

„Das beruht auf Gegenseitigkeit, und wenn ich etwas tun kann, um mir Sir Francis Mißbilligung zuzuziehen, werde ich es mit Freuden tun.“

„Bitte handeln Sie nicht unüberlegt, Galatea“, flehte Lady Dorridge.

„Diesmal habe ich etwas Verrückteres vor als je zuvor.“'

„Oh, nein“, protestierte Averil. „Die Menschen sprechen ohnehin schon so unfreundlich über Sie. Sie haben ja keine Ahnung, daß Sie in Wirklichkeit liebenswürdig, mitfühlend und verständnisvoll sind.“

Lady Roysdon lachte.

„Wie lieb von Ihnen, mich so zu verteidigen.“

„Sie sind so schön und bedeutend, und doch finden Sie immer Zeit für mich.“

„Ich werde auch jetzt die Zeit finden, Ihre Kette zurückzuholen.“

Lady Dorridge blickte ihre Freundin mit großen Augen an.

„Ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie das bewerkstelligen wollen.“

„Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf darüber, und Averil, was ich Ihnen jetzt sage, ist außerordentlich wichtig. Lassen Sie zu keinem Menschen ein Wort darüber verlauten, was wir besprochen haben.“

„Natürlich nicht, wenn Sie das nicht wollen. Obwohl ich gern einigen Leuten klarmachen würde, wie Sie tatsächlich sind.“

„Das meiste, was die Leute über mich reden, ist durchaus gerechtfertigt“, erwiderte Lady Roysdon, „aber vielleicht ändere ich mich bald - wer weiß?“

„Wenn doch nur Ihr Gatte endlich sterben würde“, sagte AveriL „Ich weiß, daß das sehr herzlos klingt, aber ich empfinde nun einmal so. Er ist schon so lange leidend und erkennt Sie nicht einmal mehr, welchen Sinn hat es daher, daß er lebt?“

„Jetzt reden Sie genau wie D’Arcy Sheringham. Mit diesen Argumenten hängt er mir ebenfalls ständig in den Ohren.“

Da Lady Dorridge schwieg, fragte sie nach einiger Zeit: „Sie mögen ihn nicht, Averil, oder?“

„Ich kenne den Grafen kaum und bin für ihn viel zu unbedeutend, als daß er mir Beachtung schenken würde.“

„Das habe ich nicht gemeint.“

„Muß ich Ihre Frage beantworten?“

„Ich möchte gern Ihre ehrliche Meinung wissen.“

„Na gut, wenn Sie die Wahrheit hören wollen, die können Sie haben. Ich hoffe sehr, daß Sie ihn nicht heiraten, Galatea. Es gehen so viele schreckliche Geschichten über ihn beziehungsweise sein Tun und Treiben um, aber das ist es nicht allein ...“

„Was ist es dann?“

„Er sieht gut aus, ist reich und bedeutend, jedermann katzbuckelt vor ihm“, erwiderte Lady Dorridge leise, „aber ...“

„Beenden Sie Ihren Satz“, drängte ihre Freundin, als sie verstummte.

„Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, daß unter dem eleganten Äußeren und den guten Manieren ein wildes Tier lauert.“

Zu den letzten Worten mußte Lady Dorridge sich förmlich zwingen.

Da Lady Roysdon sich dazu nicht äußerte, setzte sie hinzu: „Vergeben Sie mir meine Freimütigkeit. Ich hätte einen Ihrer Freunde nicht so negativ beurteilen dürfen, aber Sie haben mich gefragt.“

„Ich schätze Ihre Meinung, zumal Sie nichts gesagt haben, was ich nicht ebenfalls denke. Außerdem ist es wahr.“

„Werden Sie ihn nach dem Tode Ihres Gatten heiraten?“

„Auf keinen Fall!“

Sie warf einen Blick auf die Uhr auf dem Kaminsims. Lady Dorridge, die das bemerkte, sprang auf.

„Ich muß nach Hause. Die Kinder kommen bald vom Strand zurück und wollen etwas zu Essen. Ich habe heute morgen mein Dienstmädchen entlassen, weil ich sie mir nicht länger leisten kann. Nur meine alte Nanny weigert sich zu gehen, obwohl ich ihr mitgeteilt habe, daß ich ihren Lohn nicht mehr bezahlen kann.“

Lady Roysdons Augen verhärteten sich.

„Unternehmen Sie keine weiteren drastischen Schritte, Averil, ehe Sie nicht wieder von mir hören“, bat sie. „Beten Sie, daß ich Erfolg habe und Ihre Kette zurückerlange.“

„Sie sind sehr klug, Galatea, aber das ist ein hoffnungsloses Unterfangen, wie ich sehr wohl weiß.“

„Verlassen Sie sich ganz auf mich.“

Averil Dorridge setzte sich den Hut auf, dessen schwarze Bänder sie unter dem Kinn festband.

„Danke, liebste Galatea“, sagte sie. „Es tat schon gut, mit Ihnen reden zu dürfen. Verzeihen Sie mir, daß ich mich so dumm und tränenselig benommen habe.“

 

„Geben Sie den Kindern einen Kuß von mir. Ich werde sie morgen oder übermorgen abholen, um mit ihnen einkaufen zu gehen.“

„Sie sollten sie nicht so verwöhnen, obwohl sie natürlich entzückt sein werden.“

„Aber ich verwöhne sie gern.“

„Sie sollten eigene Kinder haben. Wenn doch nur Ihr Mann...“

Averils Stimme erstarb, als ihr klar wurde, daß sie indiskret gewesen war. Sie durchquerte die Halle und war gleich darauf im Sonnenschein verschwunden.

Als der Butler die Tür schloß, sagte Lady Roysdon. „Ich möchte mit Jake sprechen. Wo ist er?“

„Eigentlich sollte er bei den Vorbereitungen zum Lunch helfen, ich habe aber eher den Verdacht, daß er sich im Stall aufhält. Er mag ein tüchtiger Reitknecht sein, als Diener benimmt er sich ziemlich nachlässig.“

„Dann sollten wir ihn im Stall arbeiten lassen und fürs Haus einen anderen engagieren. Ich sehe keinen Grund, an Personal zu sparen.“

„Das ist sehr großzügig von Mylady. Zufällig kenne ich auch einen jungen Mann mit guten Zeugnissen, der eine Stellung sucht.“

„Dann engagieren Sie ihn“, bat Lady Roysdon, „und in der Zwischenzeit schicken Sie mir Jake. Ich habe Anweisungen für ihn.“

„Sehr wohl, Mylady.“

Der alte Butler verschwand, und Lady Roysdon begab sich wieder in den Morgensalon. Vor dem Fenster stehend blickte sie hinaus, ohne die Promenade mit den eleganten Menschen wirklich zu sehen. Sie rief sich wieder den vergangenen Abend ins Gedächtnis, als der Straßenräuber zur Kutsche ging, um die Tür für sie zu öffnen.

Sein Gefährte, der Hancocks und Jake in Schach hielt, lehnte in lässiger Haltung gegen eines der Wagenräder, den Kopf nach oben gewandt, während er sich mit Jake unterhielt. Bis zum jetzigen Augenblick hatte sie dem keine Bedeutung zugemessen. Plötzlich sah sie dieses Bild wieder ganz deutlich vor sich. Jake beugte sich vor, der Räuber blickte zu ihm in die Höhe, der alte Hancocks saß ein bißchen zurückgelehnt, die Zügel in den Händen. Da er ziemlich taub war, war es unwahrscheinlich, daß er von der Unterhaltung etwas mitbekommen hatte, jedenfalls nicht, wenn sie leise geführt worden war.

Worüber mochten die beiden gesprochen haben? fragte sich Lady Roysdon. Warum hatte Jake, wenn er tatsächlich eine Donnerbüchse mit sich führte, nicht den leisesten Versuch unternommen, von ihr Gebrauch zu machen? Er mußte doch wissen, daß in diesem Wald Räuber lauerten und die Waffe daher geladen auf den Knien halten. An seinem Benehmen war etwas Sonderbares, sie war entschlossen herauszufinden, ob ihr Verdacht sie nicht trog.

Die Tür ging auf.

„Jake, Mylady“, meldete der Butler.

Lady Roysdon wandte sich um, um den eintretenden Reitknecht aufmerksam zu mustern. Sie hatte ihn wegen seines offenen und ehrlichen Gesichtes engagiert, jetzt war sie sich dessen nicht mehr so sicher. Im Übrigen war er ein gutaussehender Bursche, dem die Roysdonsche Livree ausgezeichnet stand. Er wartete allem Anschein nach gleichmütig darauf, daß sie ihn anredete, obwohl sie das unbestimmte Gefühl hatte, daß er innerlich auf der Hut war.

Sie setzte sich in einen Sessel.

„Ich habe etwas mit Ihnen zu besprechen, Jake“, begann sie sehr langsam, wobei sie ihre Worte sorgfältig wählte.

„Ja, Mylady?“ Er hatte einen ländlichen Akzent, den sie nicht einzuordnen vermochte.

„Zunächst hätte ich gern gewußt, warum Sie nicht auf die Straßenräuber geschossen haben, die uns anhielten.“

„Ich war zu überrascht, Mylady.“

„Sie hätten voraussehen müssen, daß uns auf einer so einsamen Straße Gefahren drohten. Nicht umsonst wird mit Hilfe von Anschlägen den Reisenden Vorsicht gepredigt.“

„In Brighton selbst reden die Leute hauptsächlich über die Schmuggler.“

Das mochte wahr sein, trotzdem hatte sie das Gefühl, daß er sie vom Hauptthema ablenken wollte.

„Dann haben Sie also keine Räuber erwartet?“

„Nein, Mylady.“

„Ich stand unter dem Eindruck, daß Sie den zweiten Mann kannten, weil Sie sich sonst nicht so freundschaftlich mit ihm unterhalten hätten.“

Da sie ihn ganz genau musterte, entging ihr nicht, daß er schluckte und seine Augen flackerten. Ob vor Angst oder aus anderen Gründen, war nicht zu unterscheiden.

„Er hat mit mir gesprochen, Mylady“, stellte er fest, als er sich wieder gefaßt hatte.

„Und was hat er gesagt?“

„Nichts von Belang.“

„Erscheint es Ihnen nicht ein wenig ungewöhnlich, mit dem Mann eine Unterhaltung anzufangen, dessen Leben man bedroht?“ Da sie keine Antwort erhielt, fragte sie ihn ganz direkt. „Wäre es Ihnen möglich, den Räuber wiederzufinden, um Ihr Gespräch fortzusetzen?“

„Nein, Mylady“, erwiderte er schnell, so, als ob er diese Entgegnung vorbereitet und parat hatte.

„Überrascht es Sie zu hören, daß ich die Behörden nicht von dem verständigt habe, was letzte Nacht geschehen ist? Ich habe weder die Polizei gerufen noch sonst jemand gegenüber ein Wort darüber verlauten lassen.“

Der Reitknecht blickte sie forschend an.

„Ich beabsichtige nicht, Schritte zu unternehmen, um meinen Schmuck wieder zu erlangen“, fuhr sie fort, „muß aber aus äußerst triftigen Gründen mit den Straßenräubern Kontakt aufnehmen, wozu ich Ihre Hilfe brauche.“

„Meine Hilfe, Mylady?“

Jakes Überraschung war unverkennbar.

„Ihre Hilfe“, bestätigte sie, „und zwar nicht für mich, sondern für jemand anders. Aber wie dem auch sei, ich bitte Sie, mich zu den Räubern zu bringen.“

Er durchbohrte sie förmlich mit Blicken, als ob er herausfinden wollte, wie weit er ihren Worten Glauben schenken konnte.

„Wer über die näheren Umstände dieser Leute Bescheid weiß, läuft Gefahr, verhaftet zu werden“, erklärte Jake schließlich.

„Dessen bin ich mir wohl bewußt, aber davor habe ich keine Angst.“

Sie merkte, daß sie ihn immer noch nicht überzeugt hatte und redete weiter.

„Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich heute abend zu dem Ort bringen, wo ich die Männer von gestern finden kann.“

„Angenommen man folgt Ihnen, Mylady?“

Sie wußte nur zu gut, wen Jake meinte.

„Wir werden reiten“, erklärte sie. „Bringen Sie die Pferde zur nächsten Straßenecke. Sie können als Ausrede benutzen, daß Sie mich im Haus von Bekannten abholen sollen. Ich werde mich um sechs Uhr an der verabredeten Stelle einfinden. Das ist die günstigste Zeit, weil die meisten Leute beim Dinner sitzen.“

Sir Francis Dorridge würde vermutlich ebenfalls um sechs Uhr speisen, und da ein Dinner zwei Stunden oder mehr in Anspruch nahm, erst nach Einbruch der Dämmerung in Richtung Shoreham fahren. Das verschaffte ihr genügend Zeit, um den Straßenräuber zu finden und ihm ihr Anliegen vorzutragen. Die Schwierigkeit bestand darin, daß Jake offenbar wenig Lust verspürte, seine Freunde zu verraten, falls man diese so nennen konnte.

„Nun, Jake, werden Sie mir helfen?“ fragte sie schließlich. „Für Sie ist damit kein Risiko verbunden. Ich werde jeder Vorsichtsmaßregel zustimmen und mir notfalls sogar die Augen verbinden lassen, wenn Sie das beruhigt.“

„Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll, Mylady“, erwiderte Jake nach längerem Nachdenken.

„Dann tun Sie, worum ich Sie bitte“, drängte sie. „Erwarten Sie mich um sechs Uhr mit Ladybird - ohne Damensattel natürlich - und bringen Sie ein zweites Pferd mit, das mit der Stute Schritt halten kann. Wenn wir die Stadt auf der Straße über die Downs heimlich verlassen, ist kaum anzunehmen, daß wir jemanden treffen, der uns kennt.“

„Mylady ist weit mehr Menschen bekannt, als ihr bewußt ist. Verzeihen Sie, wenn ich das bemerke.“

„Das ist leider wahr“, gab sie zu, „vielleicht sollte ich mich daher verkleiden.“

Sie erwog diesen Gedanken, als sie bemerkte, daß Jake sie neugierig beobachtete. Ihre Londoner Eskapaden, die sie teilweise kostümiert hinter sich gebracht hatte, mußten sich ganz schön weit herumgesprochen haben, jedenfalls der Miene des Reitknechts nach, in der sich Beunruhigung und Erstaunen mischten.

„Überlassen Sie alles mir, Jake“, fuhr sie fort. „Ich verspreche Ihnen, daß niemand mich verfolgt, weil niemand wissen wird, daß ich die Stadt überhaupt verlassen habe. Ihre Freunde geraten durch ein Treffen mit mir nicht in Gefahr.“

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