Atemlos aus Lauter Liebe

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»In Ordnung, tu das«, stimmte der Earl zu.

Der Kammerdiener wandte sich schon zum Gehen, als Prunella sich einmischte.

»Ich fürchte, in Little Stodbury gibt es nicht viel zum Einkaufen. Fahren Sie lieber zur Home Farm. Mrs. Gabriel wird Ihnen einen hervorragenden selbstgeräucherten Schinken geben. Falls sie gerade geschlachtet haben, hat sie vielleicht auch eine Hammelkeule für Seine Lordschaft.«

»Vielen Dank, Madam«, sagte der Kammerdiener.

»Mrs. Carter hätte Sie informieren können, daß die Home Farm Sie auch mit Butter, Milch und Eiern versorgt, nur werden Sie dafür bezahlen müssen.«

Mit einem etwas ängstlichen Blick auf den Earl fuhr sie fort: »Die Vereinbarungen, die die Farmersfamilie mit ihrem Vater getroffen hatte, endeten mit seinem Tode. Die Leute haben nun sehr zu kämpfen und können Ihnen daher nicht umsonst Lebensmittel liefern.«

»Ich habe nicht vor, sie darum zu bitten«, erwiderte der Earl scharf. »Bezahle sofort alles, was du kaufst, Jim«, wandte er sich an seinen Kammerdiener.

»Sehr wohl, Mylord.«

Prunella fragte sich, woher das Geld wohl kam. Sie fand es seltsam, daß der Diener seinen Herrn nicht darum bat. Vielleicht benutzte er sein eigenes und wartete mit der Rückzahlung, bis der Earl etwas aus dem Haus verkauft hatte.

Wieder spürte sie bei dem Gedanken einen Stich im Herzen, die Kostbarkeiten, die sie ihr ganzes Leben lang gekannt und bewundert hatte, irgendwann nicht mehr zu sehen.

Während des Krieges hatten sie sehr isoliert gelebt. Die Pferde waren von der Armee beschlagnahmt worden. Die jungen Männer kämpften entweder unter Wellington oder sie stürzten sich in den Trubel von Vergnügungen, den der Prinzregent in London veranstaltete. Der alte Earl hatte sich sehr einsam gefühlt.

Er ermutigte Prunella, sich Bücher aus seiner Bibliothek zu leihen. Lesen sei gut für ihre Bildung, behauptete er. In Wirklichkeit liebte er die Unterhaltung mit ihr. Abgesehen von der Dienerschaft kam niemand mehr in das große Haus.

Er erzählte ihr Geschichten über die Gemälde und Möbel. Da er von der Familie geradezu besessen war, drehten sie sich hauptsächlich um seine Vorfahren: Soldaten, Staatsmänner, Forscher, Spieler und Wüstlinge.

Und jetzt war wieder ein Wüstling nach Hause gekommen, um sich am Verkauf von Kunstschätzen zu bereichern, die für sie ein Teil dieser Geschichten waren.

Vor der Bibliothek angekommen, trat der Earl zur Seite, um sie zuerst eintreten zu lassen. Irgendwie empfand sie diese Geste als spöttisch.

In der Bibliothek wurde ihr plötzlich bewußt, wie schäbig der Raum wirkte. Das war ihr gar nicht aufgefallen. Auf einmal schien sie alles mit den Augen eines Neuankömmlings zu sehen. Der Teppich war zerschlissen, die Sesselpolster hatten jede Farbe verloren. Und die Risse in den Vorhängen waren beim besten Willen nicht mehr zu flicken.

Der Earl konnte eigentlich nur denken, daß seit seinem Weggehen alles vernachlässigt worden war.

Prunella setzte sich in einen Sessel seitlich des Kamins. Gerald stand mit dem Rücken dagegen gelehnt, bohrte die Hände in die Hosentaschen und schaute sie durchdringend an.

»Nun, was hat das alles zu bedeuten?«

Prunella hielt seit ihrer Ankunft ein Notizbuch in der Hand, das sie jetzt auf ihren Knien aufschlug.

»Höflicherweise sollte ich Sie wohl zuerst zu Hause willkommen heißen. So unerwartet Ihre Rückkehr auch ist - besser spät als niemals.«

»Entdecke ich da möglicherweise einen Tadel in Ihrer Stimme, Miss Broughton?« spottete der Earl.

»Sie müssen wissen, daß die Dinge nach dem Tode Ihres Vaters sehr . . . schwierig wurden, Mylord.«

»Weshalb?«

»Nun, erstens wußte niemand, wo Sie waren, und zweitens war auch keiner da, der sich um das Gut kümmerte.«

»Was ist mit Andrews geschehen? Ich dachte immer, er wäre ein sehr tüchtiger Mann.«

»Vor vierzehn Jahren sicherlich«, bestätigte Prunella. »Leider ist er seit achtzehn Monaten bettlägerig. Auch schon einige Jahre früher war er nicht mehr wirklich in der Lage, das Gut zu beaufsichtigen.«

Der Earl mußte diese Nachricht erst einmal verarbeiten.

»Es ist doch bestimmt jemand engagiert worden, der seine Stelle einnehmen konnte«, erkundigte er sich schließlich.

»Wie hätte man diesen Ersatz bezahlen sollen?«

Ein Schweigen entstand, das der Earl dann unterbrach: »Wollen Sie damit andeuten, daß kein Geld vorhanden ist?«

»Frei herausgesagt, Mylord, so ist es.«

»Warum nicht? Ich dachte immer, mein Vater wäre ein reicher Mann.«

»Das war er auch zu der Zeit, als Sie Ihre Heimat verließen. Entweder besaß er nicht so viel Kapital, wie Sie glaubten, oder es war schlecht angelegt. Wie dem auch sei, viele Leute haben während des Krieges ihr Vermögen verloren. Außerdem bringen große Güter wie dieses keinen Gewinn mehr.«

»Warum nicht?« fragte er mit scharfer Stimme.

»Die Pächter werden alt und sind nicht mehr in der Lage, das Land richtig zu bebauen. Sie können keine Hilfskräfte bezahlen, selbst wenn sie welche finden würden. Die meisten kräftigen Burschen waren in der Armee oder bei der Marine. Die Folge davon war, daß alles mehr und mehr verfiel.«

Diese Neuigkeit schockierte den Earl sichtlich. Sein Gesichtsausdruck zeigte deutlich, daß er das nicht erwartet hatte. Auf seiner Stirn bildeten sich steile Falten, seine Lippen waren zu einer schmalen Linie zusammengepreßt.

»Ich bin bereit zu glauben, was Sie mir da erzählen, wüßte aber gern, was Sie mit der Sache zu tun haben.«

Prunella blickte auf das Notizbuch in ihrem Schoß hinunter, als ob ihr von dort Trost käme.

»Als mein Vater noch lebte, hat er Ihrem Vater geholfen auf die eine oder andere Weise.«

»Heißt das, daß mein Vater sich von Ihrem Geld geliehen hat?«

Prunella nickte.

»Ich möchte über die genaue Summe informiert werden. Natürlich werde ich das Geld zurückzahlen.«

»Dazu besteht keine Notwendigkeit. Es war kein Darlehen, sondern ein Geschenk.«

»Für mich sind es Schulden«, wehrte er brüsk ab.

Prunella erwiderte nichts. Da der Earl das Gefühl hatte, unhöflich gewesen zu sein, setzte er schnell hinzu: »Natürlich bin ich sehr dankbar. Ich wundere mich nur, daß mein Vater Hilfe dieser Art nötig gehabt hat.«

»Ich mache mir Sorgen, wie es jetzt weitergehen soll«, sagte Prunella.

»Wie meinen Sie das?«

»Es gibt da einige Pensionäre, die verhungern, wenn sie nicht bezahlt werden. Sie sind alt, können nicht mehr arbeiten und wissen nicht, wo sie hingehen sollen.«

»Wer hat diese Leute bisher bezahlt?«

Als Prunella nicht antwortete, forderte er hartnäckig: »Ich will die Wahrheit wissen. Miss Broughton.«

»Seit dem Tode meines Vaters ich«, entgegnete sie.

Sie hob den Kopf und schaute ihn an.

»Ich wollte mich nicht einmischen. Es ist nur so, daß ich diese Leute schon mein ganzes Leben lang kenne. Dazu kommen noch die, die für wenig Geld hier im Haus viel gearbeitet haben. Es hat sie wenigstens vor dem Verhungern bewahrt. Ich konnte doch nicht zulassen, daß hier alles zusammenbrach und unter einer Staubdecke verschwand.«

»Sie haben meine Angestellten bezahlt, damit sie das Haus in Ordnung hielten?«

»Das mag in Ihren Ohren seltsam klingen«, lenkte Prunella ein. »Als Ihr Vater noch lebte, war ich sehr oft hier. Ich habe Winslow Hall von jeher geliebt. Es bedeutete mir beinahe so viel wie mein eigenes Haus.«

»Was haben Sie noch unternommen?«

»Ich habe alles in diesem kleinen Buch notiert. Da sind die Leute aufgeführt, die wöchentlich eine kleine Pension erhalten, die sie zum Leben brauchen. Andere wieder können noch arbeiten und ein bißchen Geld verdienen, wobei die Summen häufig aufgebessert werden müssen. Dazu kommen noch die Pachtverträge, die mehr oder weniger regelmäßig eingehen.«

Als sie dem Earl ins Gesicht schaute, fürchtete sie sich ein wenig vor dem, was sie darin lesen konnte.

»In manchen Fällen habe ich den Farmern die Pacht ganz erlassen«, setzte sie trotzdem hinzu.

»Aus welchem Grund?«

»Sie verstehen das vielleicht nicht«, erklärte Prunella mit leicht verärgerter Stimme. »Seit Ende des Krieges sind die Preise für die Produkte der Farmer ständig gefallen. Außerdem mußte dieses Jahr allein in dieser Grafschaft eine ganze Anzahl Banken ihre Tore schließen. Viele Leute haben dadurch die Ersparnisse ihres ganzen Lebens verloren.«

Da der Earl nichts sagte, redete sie weiter.

»Es ist schlimm genug, daß Tausende von Männern aus der Armee und der Marine entlassen wurden, ohne eine Pension, geschweige denn eine Entschädigung für ihre Verwundungen zu erhalten. Zudem sind die Kosten für Lebensmittel gestiegen, und es gibt keine Arbeit. Ich mußte mich einfach um die Leute von diesem Gut kümmern. Wer hätte es sonst tun sollen?«

Der Earl trat ans Fenster und schaute auf den See und den dahinter liegenden Park.

»Meine Dankbarkeit ist Ihnen gewiß, Miss Broughton«, versicherte er ihr. »Ich bin nur überrascht, daß Sie so großzügig waren.«

Es klang nicht so, als ob er ihr wirklich dankbar wäre oder ihr gar ein Kompliment gemacht hätte. Trotzdem beschloß Prunella, ihr Glück zu versuchen.

»Wenn Sie mir tatsächlich dankbar sind, darf ich Sie vielleicht bitten, mir einen Gefallen zu tun.«

Der Earl wandte sich vom Fenster ab. Ein Lächeln umspielte seine Lippen.

»Sie sind also doch menschlich«, stellte er fest. »Ich hielt Sie schon für eine seltsame Heilige, die Gutes tut, sei es für das Wohl Ihrer oder auch meiner Seele. Wenn Sie aber eine menschliche Schwäche haben, kann ich wirklich glauben, ein Wesen aus Fleisch und Blut vor mir zu haben.«

 

Prunella starrte ihn verwundert an.

»Ich bin ein menschliches Wesen, Mylord«, entgegnete sie in scharfem Ton. »Und was den Gefallen betrifft, um den ich Sie bitte es geht um etwas, was mir sehr am Herzen liegt.«

»Ich warte«, erwiderte er.

Diesmal spürte sie deutlich den Spott in seiner Stimme.

2

Der Earl setzte sich in einen Sessel auf der anderen Seite des Kamins. Er schlug die langen Beine übereinander, lehnte sich zurück und schaute sie lächelnd an.

Prunella war bisher so sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt gewesen, daß sie nicht einmal dazu gekommen war, sich den Earl genau anzuschauen. Die Augen in dem sonnengebräunten Gesicht hatten etwas Durchdringendes. Gleichzeitig wirkte sein Blick durch die schweren Lider ein bißchen träge, als ob er das Leben mit einigem Zynismus betrachtete.

Es lag etwas in seinem Wesen, was sie abstieß.

Vielleicht konnte sie einem Mann gegenüber nicht anders empfinden, der seine Heimat unter so unrühmlichen Umständen verlassen hatte, um nach seiner Rückkehr alles zu kritisieren, was sie während seiner Abwesenheit getan hatte.

Ein bedeutungsvolles Schweigen breitete sich aus. Schließlich drängte der Earl, wieder mit diesem leichten Spott in der Stimme: »Ich warte, Miss Broughton. Da ich tief in Ihrer Schuld stehe, bin ich bereit, was immer Sie verlangen, wohlwollend in Erwägung zu ziehen.«

Nach kurzem Zögern begann Prunella: »Ich bitte Sie um folgendes, Mylord: Halten Sie Ihren Neffen davon ab, meiner Schwester den Hof zu machen.«

Der Earl hob erstaunt die Augenbrauen. Darauf war er nicht gefaßt gewesen.

»Mein Neffe?« fragte er.

»Pascoe Lowes, der älteste Sohn Ihrer Schwester, Lady Lowestoft.«

Der Earl lächelte.

»Dessen Existenz hatte ich völlig vergessen. Sie wissen sicher, daß ich während meines Auslandsaufenthaltes nicht mit meinen Verwandten in Verbindung stand. Es würde mich interessieren zu erfahren, weshalb mein Neffe nicht um Ihre Schwester werben soll, falls er das überhaupt beabsichtigt.«

Prunella versteifte den Rücken. Ihre Stimme klang hart, als sie fortfuhr: »Ich möchte ehrlich zu Ihnen sein, Mylord. Pascoe Lowes hat den Ruf, ein Mitgiftjäger zu sein. Außerdem ist er ein ausgesprochener Dandy.«

In ihrer Stimme schwang die ganze Verachtung mit, die sie empfand. Zu ihrem Erstaunen reagierte der junge Earl mit einem Lachen.

»Er scheint bei Ihnen wirklich in Ungnade gefallen zu sein, Miss Broughton. Eigentlich tut er mir leid.«

»Dazu besteht kein Grund«, wehrte Prunella ab. »Meine Schwester ist erst siebzehn, also sehr jung und leicht zu beeindrucken.«

»Wo hat sie denn meinen Neffen kennengelernt?«

»In London. Mein Vater ist vor einem Jahr gestorben. Die Trauerzeit endete im März. Ich habe es arrangiert, daß Nanette bei Hof vorgestellt wurde.«

»Sie haben das arrangiert? Wie ich sehe, führen Sie ein sehr geschäftiges Leben. Sie regeln nicht nur meine Angelegenheiten, sondern auch die Ihrer Schwester. Sicherlich hilft Ihnen doch jemand dabei?«

»Seit meines Vaters Tod wohnen wir allein in unserem Haus. Da wir ein sehr ruhiges Leben führen, bestand keine Notwendigkeit, eine Gesellschafterin zu engagieren.«

»Sie sprechen von einem ruhigen Leben«, warf der Earl ein. »Das überrascht mich einigermaßen. Früher war doch in dieser Gegend einiges los. Es gab viele große Häuser mit gastfreundlichen Besitzern, die Gesellschaften veranstalteten.«

Er sprach wie zu sich selbst, als ob er sich Erinnerungen ins Gedächtnis zurückrief.

»Der Krieg ist vorbei. Das normale Leben hat begonnen. Sie werden bestimmt von vielen Leuten eingeladen.«

Prunella war sich dessen sicher, schon weil er der Earl of Winslow und unverheiratet war. Auch wenn er die Gastfreundschaft nicht erwidern konnte, waren die Nachbarn doch viel zu neugierig, ihn zu treffen.

»Während ich eingeladen werde, waren Sie offenbar nicht in der glücklichen Lage«, erwiderte er.

Für Prunellas Geschmack war er unangemessen hellsichtig.

»Ich war ein Jahr in Trauer«, antwortete sie nach einer langen Pause.

»Und davor?«

»Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß mein Leben Sie nichts angeht, Mylord?«

»Das finde ich unfair«, beschwerte sich der Earl, »nachdem Sie mein Leben zu Ihrer Angelegenheit gemacht haben. Sie haben die Aufsicht über mein Haus sowie mein Gut übernommen. Seit ich mich aber für Sie als Person interessiere, verschließen Sie sich wie eine Auster.«

Obwohl er deutlich merkte, daß Prunella nicht über sich selbst reden wollte, schien ihn dies kein bißchen zu stören.

»Ich wollte mit Ihnen über Ihren Neffen sprechen«, startete sie erneut den verzweifelten Versuch, ihn wieder auf ihr ursprüngliches Thema zurückzuführen.

»Das habe ich begriffen. Gleichzeitig versuche ich mir ein Bild von den Geschehnissen zu machen, Miss Broughton. Leider unterstützen Sie mich nicht dabei.«

»Da Sie jetzt zu Hause sind, wird Ihr Neffe Sie sicherlich um finanzielle Hilfe bitten.«

»Was bringt Sie auf diesen Gedanken?«

»Erstens, weil ich annehme, daß er Ihr Erbe ist und außerdem . . .«

»Und außerdem?« Da sie nicht weiterredete, drängte er: »Es ist nicht gut, einen Satz nicht zu beenden. Sie sollten nichts vor mir verbergen.«

»Nun gut!« Prunella nahm ihren ganzen Mut zusammen.

»Ich erfuhr gestern zufällig, daß Mr. Lowes die Vermögensverwalter Ihres Vaters aufgesucht hat, um herauszufinden, welche Schritte unternommen werden müssen, um Sie für tot zu erklären. Für diesen Fall wünschte er seine Ansprüche auf das Haus samt Inhalt anzumelden.«

Da der Earl nichts erwiderte, fuhr Prunella fort.

»Das kann nur bedeuten, daß er alles verkaufen möchte. Er würde nicht auf dem Lande bleiben, weil er das Leben in der Stadt vorzieht. Das wiederum kann er sich nicht leisten. Als erstes dürfte wohl daher der Van Dyke verschwinden.«

Sie hatte so viel Leidenschaft in ihre Worte gelegt, daß der Earl ihre Begeisterung dämpfte.

»Ich sehe, daß Ihnen meine Bilder viel bedeuten, Miss Broughton«, entgegnete er. »Aber es sind doch nur Bilder.«

»Wie können Sie das sagen? Diese Bilder wurden im Laufe der zweihundert Jahre vom Vater an den Sohn weitergereicht. Viele davon zeigen Ihre Vorfahren. Inigo Jones hat die Galerie extra dafür entworfen.«

»Sie sind gut informiert, Miss Broughton.«

Prunella kümmerte sich nicht um seinen Sarkasmus.

»Ich betrachte die Bilder, wie auch Ihr Vater es tat, als eine Art heiliger Leihgabe, die auf Ihre Kinder und Kindeskinder übergehen soll. Kein Tunichtgut sollte sie verkaufen dürfen, um das Geld am Spieltisch oder für Frauen zu verschleudern.«

Der Earl lachte.

»Gut gemacht, Miss Broughton. Natürlich verstehe ich, was Sie meinen. Diese Tiraden habe ich tausendmal gehört, bis ich England den Rücken kehrte.«

Prunella spürte, wie das Feuer erlosch, das sie beseelt hatte. Was hatte es für einen Sinn, mit ihm zu reden. Alles, was sie in der Vergangenheit über ihn gehört hatte, schien wahr zu sein. Und heute war er nicht besser als zu der Zeit, als er vor seinem Vater weggelaufen war, nicht ohne die Frau eines anderen Mannes mitzunehmen. Das Beste war, sich so würdig wie möglich zu verabschieden und es dem Earl zu überlassen, sein Leben nach seinen eigenen Wünschen zu gestalten.

Dann fiel ihr ein, wie viele Menschen von ihr abhingen. Die alten Männer in den Pförtnerhäuschen, die so schwach waren, daß sie ihnen im Winter das Essen brachte, weil sie nicht einmal die kurze Entfernung bis zum Dorfladen schafften.

Die Farmer, die gerade so viel Nahrungsmittel produzierten, wie sie selbst benötigten, sich aber weder die dringend erforderlichen Reparaturen ihrer Häuser noch die der Scheunen leisten konnten.

Es gab noch so viele andere hilfsbedürftige Leute. Die Carters zum Beispiel, die das Pensionsalter längst hinter sich gelassen hatten. Da kein Cottage verfügbar war, wohnten sie nach wie vor in Winslow Hall und hielten die Räume sauber, so gut sie konnten.

Während ihr diese Gedanken durch den Sinn schossen, merkte sie sehr wohl, daß der Earl sie beobachtete. Um seine Lippen spielte immer noch das spöttische Lächeln, das ihr so sehr mißfiel.

»Ich schlage vor, fortzufahren«, meinte er nach einer Weile. »Sie erzählen mir von meinem Neffen, wobei Sie mir deutlich zu verstehen geben, daß er Ihnen als Schwager nicht willkommen ist.«

»Ich gedenke alles zu tun, um das zu verhindern, Mylord.«

»Dabei gehen Sie so weit, mich um Unterstützung zu bitten, obwohl Ihnen klar ist, daß Neffe und Onkel aus dem gleichen Holz geschnitzt sein dürften.«

Das entsprach nur allzu sehr den Tatsachen. Da ihr keine Antwort einfiel, wartete sie ab, die Augen unverwandt auf den Earl gerichtet.

»Nach allem, was Sie sagen, vermute ich, daß Ihre Schwester eine Erbin ist. Dann sind Sie wohl ebenfalls eine?«

»Nein, Mylord.«

»Nein?«

»Meine Schwester hat eine beträchtliche Summe Geldes von . . .« sie zögerte, bevor sie den Satz beendete, » . . . meiner Mutter geerbt.«

»Ich denke, ich erinnere mich an Ihre Mutter«, sagte der Earl nachdenklich. »Sie war eine sehr schöne Frau. Es tut mir leid zu hören, daß sie tot ist.«

Prunella antwortete nicht. Sie hielt die Augen gesenkt, so daß die Wimpern dunkle Halbmonde auf ihren Wangen bildeten. Ihre Lippen waren zu einer harten, schmalen Linie zusammengepreßt.

»Ich sagte, es tut mir leid, daß Ihre Mutter tot ist.«

»Das habe ich gehört, Mylord.«

»Wo ist sie gestorben?«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Sie sind sich doch wohl darüber im Klaren, daß Sie meine Neugier wecken.«

»Ich will nicht über meine Mutter sprechen, Mylord. Es geht um meine Schwester Nanette.«

»Nanette kann warten«, erwiderte der Earl. »Was ist das für ein Geheimnis um Ihre Mutter?«

Prunella stand von ihrem Sessel auf und ging zum Fenster, wie er das im Laufe des Gespräches ebenfalls getan hatte.

Als sie hinausschaute, zeichnete sich ihre Gestalt wie eine Silhouette gegen das Licht ab. Der Earl entdeckte nun, daß sie graziös und schlank war. Da sie die ganze Zeit über ein einfaches graues Kleid trug, war ihm diese Tatsache bisher gar nicht aufgefallen.

Nach einiger Zeit schien sie einen Entschluß zu fassen.

»Früher oder später werden Sie ohnehin erfahren, was geschehen ist«, erwiderte sie, mit dem Rücken zu ihm. »Warum also nicht sofort?«

Sie holte tief Atem, bevor sie fortfuhr: »Meine Mutter ist vor sechs Jahren weggelaufen.«

»Das scheint in diesem Teil der Welt kein seltener Fall zu sein.«

»Ich kann nicht darüber lachen, Mylord. Nachdem Sie Bescheid wissen, bitte ich Sie, diese Angelegenheit nicht wieder zu erwähnen. Der Name meiner Mutter wurde im Haus meines Vaters nach ihrem Weggehen nie wieder genannt.«

Ein bedrückendes Schweigen breitete sich aus. Es kostete Prunella einige Anstrengung, wieder zu ihrem Sessel zurückzugehen.

»Offenbar konnte Ihre Mutter die Situation, in der sie sich befand, nicht länger ertragen, genau wie ich«, bemerkte der Earl. »Haben Sie sie sehr vermißt?«

»Ich habe nicht den Wunsch, über meine Mutter zu sprechen, Mylord.«

»Aber ich bin neugierig«, beharrte er. »Ich erinnere mich nicht nur an Ihre schöne Mutter, sondern auch daran, daß Ihr Vater um vieles älter als sie gewesen sein muß. Ich denke, er war ein Altersgenosse meines Vaters, der auf die fünfzig zuging, als ich geboren wurde.«

Prunella äußerte nichts. Mit einem Augenzwinkern fuhr er fort.

»Die schöne Lady Broughton ist also meinem Beispiel gefolgt. Sie hat einem Dasein voller Achtbarkeit und Psalmensingen den Rücken gekehrt und es gegen das eingetauscht, was man gemeinhin »ein Leben in Sünde« nennt.«

Er sah, daß Prunella erschauerte und fuhr fort: »Die Strafe dafür ist natürlich Feuer und Schwefel, Hölle und Verdammnis. Ich darf Ihnen aber versichern, daß das angenehmer und genußreicher ist als alles, was wir zurückgelassen haben.«

»Ich muß mir so etwas nicht anhören, Mylord.«

»Sie werden es, weil ich darauf bestehe, Miss Broughton«, erwiderte der Earl. »Ich erkenne nur zu deutlich, daß Sie Ihre Mutter verdammt haben, wie Sie mich und meinen Neffen verdammen. Was gibt Ihnen das Recht, über uns zu Gericht zu sitzen?«

 

»Ich richte nicht, Mylord«, protestierte Prunella. »Ich möchte nur, daß Sie sich über Ihre Lage im Klaren sind. Außerdem versuche ich Ihnen zu erklären, weshalb ich mich nach dem Tode Ihres Vaters um die Menschen gekümmert habe, die ohne eigene Schuld in Not geraten sind.«

»Sehr lobenswert.«

Die Bemerkung des Earl klang keineswegs wie ein Kompliment.

»Ihr Privatleben geht mich nichts an.«

»Und doch sind Sie schockiert über das, was ich Ihrer Meinung nach getan habe«, beharrte er. »Genauso wie Sie über das Verhalten Ihrer Mutter schockiert waren.«

Prunella fühlte sich zu einer Antwort herausgefordert.

»Natürlich war ich schockiert, entsetzt und angewidert«, gab sie zu. »Wie kann eine Frau einen Mann und Ihre Familie verlassen?«

»Ihre Familie! Das ist das Schlüsselwort, nicht wahr? Sie haben ihr übelgenommen, daß sie Sie allein gelassen hat.«

In Prunellas Gesicht erschien eine flüchtige Sekunde lang ein schmerzlicher Ausdruck, der sofort wieder verschwand.

»Wenn Sie erst mein Alter erreicht haben, werden Sie verstehen, daß es für jede menschliche Handlungsweise mildernde Umstände gibt«, philosophierte er. »Wenn man ein freundliches Herz und geweckte Sinne besitzt, wird man sie erkennen und begreifen.«

Jetzt war es an Prunella, überrascht zu sein. Sie schaute ihn mit großen Augen an.

»Vielleicht haben Sie recht«, gab sie nach kurzem Nachdenken zu. »Vielleicht habe ich nur einen Akt der Selbstsucht gesehen, wo etwas anderes im Spiel war.«

»Ist Ihre Mutter allein weggegangen?«

Prunella zitterte. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

»N . . . ein.«

»Dann nehme ich an, daß sie verliebt war. Und Liebe, meine beste Miss Broughton, ist etwas Unwiderstehliches, auch wenn ihr später möglicherweise die Enttäuschung folgt.«

Prunella rief sich seine Geschichte ins Gedächtnis zurück. Er hatte eine Frau mitgenommen, die er vermutlich geliebt hatte. Angeblich war sie sehr hübsch gewesen. Zuerst hatten sie sich heimlich bei Ausritten getroffen. Dann waren sie gemeinsam verschwunden. Zurück blieben die empörten Nachbarn, die sich die Mäuler über das abscheuliche und schimpfliche Benehmen des Paares zerrissen.

Es war nicht nur der Haß auf seinen Vater gewesen, der Gerald mit dem Schwur, niemals zurückzukehren, aus dem Haus getrieben hatte. Er war dem unwiderstehlichen Ruf der Liebe für eine Frau gefolgt, die in ihrer Umgebung wahrscheinlich genau so unglücklich gewesen war wie er.

Etwas Ähnliches war auch ihrer Mutter geschehen. Es entsprach der Tatsache, daß sie viel jünger gewesen war als ihr Ehemann, der sie direkt von der Schulbank weg geheiratet hatte.

Prunellas Vater hatte seine Frau auf seine Art geliebt. Doch niemand hatte je einen Gedanken daran verschwendet, wie unglücklich sie im Grunde ihres Herzens gewesen sein mußte.

Prunella hatte sich geschworen, niemals an den Mann zu denken, den sie zutiefst verurteilte, weil er ihre Mutter verführt und mit sich genommen hatte.

Er war so liebenswürdig gewesen, daß sie auf kindliche Weise selbst ein bißchen in ihn verliebt gewesen war.

In ihren Augen hatte er genauso ausgesehen, wie ein Gentleman aussehen mußte. Sie hatte sein reiterliches Können bewundert. Und die Komplimente, die er ihr gemacht hatte, würde sie nie vergessen. Es waren die ersten Komplimente ihres Lebens gewesen. Immer wenn er damals erwartet wurde, hatte sie sich die größte Mühe mit ihrem Äußeren gegeben.

Er hatte nicht nur ihren Vater, sondern auch sie betrogen, als er mit ihrer Mutter durchgebrannt war. Sein Verrat war furchtbar und unverzeihlich. Prunella verabscheute ihn wie auch ihre Mutter mit einer Heftigkeit, die Mordgefühle in ihr auslösten.

»Mama hat Papa umgebracht«, hatte sie verkündet, nachdem ihr Vater gestorben war.

Dabei wußte sie genau, daß er bereits dahinsiechte, lange bevor seine Frau ihn verlassen hatte. Vielleicht hatte er danach auch nicht mehr den Willen, noch länger zu leben.

Ihr Vater hatte sich von da an immer mehr an Prunella geklammert, und dabei wohl auf gewisse Weise einen Ersatz für seine Frau gesucht. Prunella war immer bemüht gewesen, ihn das Vergehen ihrer Mutter vergessen zu lassen. Ihre aufopfernde Hingabe hatte jedermann, die Ärzte inbegriffen, in Erstaunen versetzt.

Dabei war sie sich im Grunde ihres Herzens immer darüber im Klaren gewesen, daß nicht nur die Liebe zu ihrem Vater, sondern auch der Haß gegen ihre Mutter sie motiviert hatten.

Und jetzt forderte der Earl, der selbst ein tadelnswertes Leben geführt hatte, sie auf, zu verzeihen oder, was weit schwieriger War, die Motive ihrer Mutter und dadurch auch seine eigenen zu verstehen.

Prunella hatte das Gefühl, daß er in ihrem Kopf ein Chaos verursacht hatte, so verwirrt war sie.

»Ich würde gern über Ihren Neffen reden, Mylord«, begann sie. »Sie versprachen, über mein Anliegen nachzudenken. Ich muß zugeben, daß mich sein Werben um Nanette beträchtlich stört.«

»Ich bin bereit, über Pascoe zu reden«, versprach er. »Zuerst möchte ich mir ein klares Bild verschaffen. Ihre Mutter hat ihr vermutlich nicht unbedeutendes Vermögen Ihrer Schwester vererbt, und Sie sind dabei leer ausgegangen.«

»Ich weiß zwar nicht, weshalb das für Sie von Bedeutung ist, aber so war es nicht. Sie hat es uns zu gleichen Teilen vermacht. Wir sollten das Geld an unserem einundzwanzigsten Geburtstag bekommen.«

Sie machte eine Pause, die der Earl prompt zu einem Einwurf nutzte.

»Als sie dann einundzwanzig wurden, haben Sie Ihren Anteil an Ihre Schwester weitergegeben.«

»Ja.«

»Trotzdem hatten Sie genügend Geld, um es für mein Gut und meine Leute auszugeben.«

»Ich habe genug Geld, Mylord. Nanette ist erst siebzehn. Ein Vermögen bedeutet in diesem Alter nicht nur Verantwortung, sondern auch eine Verlockung.«

»Sie meinen für einen jungen Mann wie meinen Neffen.«

»Genau.«

»Ich nehme doch an, Sie haben das Geld in einem Trust angelegt.«

»Ja, aber zu den Treuhändern wurde mein mittlerweile verstorbener Vater, sowie die Vermögensverwalter, die auch für Ihren Besitz zuständig sind, bestellt. Wenn Nanette nun heiratet, erhält ihr Ehemann damit legal die Verfügungsgewalt über ihr Vermögen.«

»Dem Wunsch Ihrer Schwester entsprechend, soll dieser Ehemann mein Neffe sein.«

»Ich habe Ihnen doch bereits mitgeteilt, daß Nanette noch sehr jung und unerfahren ist«, erwiderte Prunella mit leichter Schärfe in der Stimme. »Ihr Neffe ist ein außergewöhnlich gutaussehender junger Mann, der sie mit großzügigen Aufmerksamkeiten überschüttet. Er schickt ihr mit einem Mietwagen aus London Blumen und Briefe und überhäuft sie mit Komplimenten, die in meinen Ohren viel zu glatt und verbindlich klingen, um echt zu sein.«

»Natürlich sind Sie eine Autorität auf dem Gebiet, wie ein verliebter Mann sich zu benehmen hat.«

Prunella fing an, ihn wegen seines Spottes zu hassen. Leider stand mehr auf dem Spiel als ihre persönlichen Gefühle dem Earl gegenüber.

»Bitte, Mylord, versuchen Sie, mich zu verstehen, und helfen Sie mir, wenn Sie können.«

»Der Zustand Ihrer Schwester scheint mir im Augenblick wichtiger zu sein. Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen, Miss Broughton. Erlauben Sie mir, in naher Zukunft bei Ihnen vorzusprechen. Ich möchte Ihre Schwester kennenlernen. Wir könnten Ihre Probleme wie auch die meinen diskutieren.«

Er streckte die Hand aus.

»Würden Sie mir wohl Ihr Notizbuch überlassen, in dem Sie Ihren Worten nach alles aufgeschrieben haben, was meinen Besitz betrifft? Ich würde es gerne in Ruhe durchgehen. Vermutlich werde ich Sie anschließend um einige Erklärungen bitten müssen.«

Anstatt ihm das Buch von ihrem Platz aus zu reichen, stand Prunella auf und ging zu ihm. Er nahm es und blätterte ein paar Seiten durch. In ihrer sauberen Handschrift war der Name jedes Pensionärs aufgeführt, mit Adresse, Alter und der Stellung, die er früher bekleidet hatte. Dazu kamen die erhaltenen Geldsummen mit Auszahlungsdatum.

»Ich fürchte, das ergibt eine stattliche Gesamtsumme, Mylord«, warf sie ein. »Aus diesem Grunde habe ich eine Liste der Gegenstände zusammengestellt, die verkauft werden können.«

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