Der Nerd und sein Prinz

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Aus der Reihe: BELOVED #55
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Kapitel 3

Am nächsten Morgen klopfte jemand pünktlich um neun Uhr an Adams Tür – beeindruckend. Er setzte seine übergroße Sonnenbrille auf und entschied sich nachträglich noch für den traditionellen breitkrempigen Hut eines Adligen aus Monterosia. Jemand, der ihm zufällig im Supermarkt begegnete, würde ihn wohl kaum erkennen. Die meisten Menschen hatten trotz der aktuellen Nachrichten noch nie von Monterosia gehört. Aber je geringer die Chance, erkannt zu werden, desto besser. Und davon abgesehen sollte es ein sehr sonniger Tag werden.

Er öffnete die Tür.

Timothy Jeske war nicht über vierzig, kaute keinen Tabak und trug auch kein Flanellhemd, sondern ein schwarzes T-Shirt, auf dessen Brust der mysteriöse Schriftzug 5FDP prangte. Adam hatte nicht den blassesten Schimmer, was das bedeuten könnte. Und er bekam auch nicht Timothys Pospalte zu sehen, als er sich unter das Spülbecken beugte.

Adam schätzte, dass er Mitte zwanzig war und sich wahrscheinlich seit mehreren Tagen nicht rasiert hatte. Er war nicht wirklich übergewichtig, eher stämmig, vielleicht zehn Kilo zu viel. Er sah ganz gut aus, fand Adam. Aber er war nicht sein Typ.

Er stand auf schlanke Männer, schlank und beinahe mädchenhaft, aber trotzdem männlich. Keine Körperbehaarung. Wahrscheinlich war sein Geschmack, was Männlichkeit anging, von einer Kindheit geprägt worden, in der die einzigen nackten Männer, die er gesehen hatte, antike Statuen von mythischen Helden gewesen waren. Schlank wie Hermes, Discobolus, Achilles oder manchmal – überraschenderweise – sogar Apollo. Oder natürlich Ganymed. Nicht wie die Statuen von Herkules, Zeus oder Atlas. Schmal, aber trotzdem muskulös, mit straffen, runden Hintern. Vielleicht lag es auch an diesen Statuen, dass ihm ein hübscher, runder Po viel wichtiger war als die Größe des Penis eines Mannes.

Kaum hatte er entschieden, dass er sich nicht wirklich von Mr. Jeske angezogen fühlte, bemerkte er, dass der Handwerker ihn offenbar interessiert musterte. Sexuell interessiert.

Nicht mein Typ, erinnerte er sich, obwohl es lang her war, seit er etwas mit einem Mann gehabt hatte, und ein Morgen, an dem man sich liebte, wundervoll sein konnte.

Aber sie würden sich nicht lieben, nicht wahr? Es wäre kaum mehr als eine Tändelei. Und ein Grund für seine Flucht nach Amerika war, dass er mehr als das wollte. Sich nach mehr sehnte. Er war flüchtige Begegnungen in den dunklen Gassen von Paris oder Rom (oder während seiner geheimen Reisen nach Amsterdam) leid. War die Männer leid, deren Gesichter er in den Schatten kaum sehen konnte und bei denen er sich Sorgen machen musste, sich zum Dank noch irgendetwas einzufangen.

Das könnte dazu führen, dass er erklären musste, wo und bei wem er sich mit einer solchen Krankheit angesteckt hatte, und dabei könnte herauskommen, dass es sich um einen Mann gehandelt hatte. Und Amadeo war noch nicht bereit, seiner Familie zu eröffnen, dass er schwul war. Er war sich ziemlich sicher, dass seine Familie auch nicht bereit dafür war, und hatte keine Ahnung, wie sie reagieren würde. Sicher, sein Vater hatte seine Unterstützung für LGBT-Rechte verkündet und sich bereits vor dem Parlament für die gleichgeschlechtliche Ehe ausgesprochen. Aber wäre er auch dieser Meinung, wenn es um seinen ältesten Sohn ging? Angesichts Amadeo Montefalcones Verpflichtungen – deren geringste es war, einen Erben zu zeugen – vermutete er, dass sein Vater weit weniger entgegenkommend sein dürfte.

Also hatte er sein ganzes Erwachsenenleben so getan, als wäre er das, was sein Vater und sein Land wollten und brauchten. Obwohl es ihn kalt und einsam gemacht hatte. Die Liebe, die er so verzweifelt brauchte, hatte er nur einmal im Auslandsstudium erlebt und die Berührungen, die er wollte, bekam er nur selten und gleichsam im Geheimen.

Oh, wie er sich nach menschlichen Berührungen sehnte. Selbst Timothys anhaltender Handschlag, als sie sich begrüßten, entzündete etwas in ihm.

Timothy wirkte muskulös, er hatte breite Schultern. Seine Jeans spannte sich vielversprechend über die volle Rundung seines Hinterns. Wäre es so schlimm, sich seinen Gelüsten hinzugeben? Ein avventura?

Vielleicht nicht...

Aber erst, nachdem die Arbeit beendet war. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Er traf diese Entscheidung, während der Handwerker unter dem Haus war und ihn nicht mit seinen wissenden, hungrigen Augen ansah.

Es stellte sich heraus, dass der Zustand nicht so schlimm war. Timothy musste den morschen Teil herausreißen, bevor sich der Schaden bis ins Schlafzimmer ausbreitete, und danach diesen Teil des Hauses anheben und einen Pfeiler ersetzen. Alles, was er brauchte, war leicht zu bekommen.

»Ich kann das meiste davon bei Burstyn Lumber besorgen, das liegt keine halbe Meile weiter an der Hauptstraße. Den Rest bekomme ich auch in der Nähe, wahrscheinlich sogar das Stück Boden mit 10 mal 30.« Timothy wischte sich ein wenig Dreck von der Wange. »Ich kann auch neuen Teppich vom Home Depot in der Nachbarstadt verlegen, damit du den Schimmel loswirst und es nicht mehr so schlimm riecht.«

»Wie lange?«, fragte Adam und fürchtete die Antwort. Wo würde er unterkommen? Im hiesigen Best Western? Wo jemand aus der Highschool an der Rezeption sitzen würde, der oder die ständig in den sozialen Medien unterwegs wäre und ihn somit viel wahrscheinlicher erkennen würde als Kunden im Walmart oder Timothy zur Stelle, der lächelnde Handwerker, der bereit war, sein kleines Zuhause mit einem neuen Teppich auszustatten.

»Ich bin mir sicher, dass ich den Boden und vielleicht auch den Teil des Dachs bis morgen Abend fertig haben kann.«

Adam machte große Augen. Morgen schon? Er war fest davon ausgegangen, dass Timothy Wochen brauchen würde.

»Es ist nicht gerade der Buckingham Palace.«

Adam fehlten die Worte. Nein. In der Tat nicht.

»Ich meine, es ist ein kleines Haus. Echt klein.«

Es war auch nicht das Schloss von Monterosia.

»Und«, Timothy drehte sich um und deutete zur Veranda, »es gibt zwei Eingangstüren.«

Die gab es tatsächlich und er verstand nicht so ganz, wozu sie gut waren. Da war die offensichtliche Tür zur Straße hin. Aber wenn man sich vor sie hinstellte und sich dann um neunzig Grad nach links drehte, hatte das Haus einen Vorsprung, an dem es eine weitere, nach Süden ausgerichtete Tür gab, die zum Schlafzimmer führte. »Ja«, sagte Adam. »Ungewöhnlich, nicht wahr? Warum braucht ein so kleines Haus zwei Eingangstüren?«

»Keine Ahnung«, sagte Timothy und blinzelte in die Morgensonne.

Dann stellte Adam die Frage schlechthin, Timothy nannte ihm einen Betrag und Adam stimmte zu, ohne zu wissen, ob es sich um einen fairen Preis handelte. Warum hatte er überhaupt gefragt?

»Du bist nicht von hier, oder?«, fragte Timothy zur Stelle.

Adam sah ihn an und schüttelte den Kopf.

»Wegen deinem Akzent.«

Natürlich. Gott.

»Du bist aus Boston, oder?« Timothy zwinkerte ihm wissend zu. »Mit Akzenten kenne ich mich aus.«

Ma dai. Offensichtlich nicht, dachte Amadeo und wäre beinahe in Gelächter ausgebrochen. Von dem Landstrich, dem er seinen Akzent zu verdanken hatte, war Boston über sechstausend Meilen entfernt.

Fast hätte er Timothy gesagt, dass er tatsächlich aus Boston stammte. Dort aufgewachsen war. Doch Lügen hatten bekanntlich kurze Beine. Er entschied, dass er besser Cristianos Rat befolgte und bei der Rolle blieb, die für ihn geschaffen worden war. Je weniger Lügen, desto besser.

»Rom«, sagte er.

»Frankreich?«, fragte Timothy und wurde immer unattraktiver, selbst für ein avventura.

»Italien«, entgegnete Adam.

Timothy zwinkerte ihm zu. »Wollte dich nur testen.«

Adam zwinkerte zurück und bemerkte dann, dass der Handwerker das durch die große, dunkle Sonnenbrille, die Adam trug, gar nicht sehen konnte.

»Man erkennt es auch an diesem riesigen Hut«, sagte Timothy und Adam hob unwillkürlich die Hand, um die sehr breite Krempe zu berühren. »So einen würde ein Amerikaner im Leben nicht aufsetzen. Nach was soll das überhaupt aussehen?« Timothy schnaubte. »Den drei Musketieren?«

»Ich trage ihn wegen der Sonne«, log Adam und vergaß seinen guten Vorsatz augenblicklich. »Ich bin empfindlich. Ich – ich bekomme leicht einen Sonnenbrand.« Das würde er wohl seiner fiktiven Biografie hinzufügen müssen.

»Damit fällst du auf wie ein bunter Hund.«

Adam riss die Augen auf und war froh, dass Timothy das nicht sehen konnte. Auffallen war das Letzte, was er wollte. Er nestelte erneut an der Krempe.

»Ich geb dir einen Tipp«, sagte Timothy und stützte eine Hand in die Hüfte. »Entweder trägt der Mann den Hut oder der Hut trägt den Mann.«

Ah ja. Das leuchtete ihm ein. Aber als er sich das erste Mal damit im Spiegel betrachtet hatte, war er der Meinung gewesen, dass er den Hut trug. Timothy war anderer Meinung.

»Besorg dir eine Basecap«, empfahl Timothy und deutete auf seine eigene, die er verkehrt herum trug.

Adam starrte sie einen Moment lang an und ja, natürlich. Wie viele Männer hatte er allein in den letzten Tagen – und am Flughafen! – mit genau solchen Caps gesehen?

Fast alle hatten eine aufgehabt.

»Was für eine soll ich mir kaufen?«, fragte er.

»Magst du die Royals?«

Erneut konnte Adam ihn nur anstarren. Die Royals? War Timothy ein Fan des Adels? Adam blieb für einen Moment der Atem weg.

Timothy musste seine Verwirrung bemerkt haben. »Du weißt schon... Baseball?«

»Baseball?«

»Die Kansas City Royals?«

Dieses Mal lachte Adam. »Ah! Baseball. Amerikas liebster Zeitvertreib.«

Timothy zuckte mit den Schultern. »Manche würden sagen, das sei Football.«

 

Adam verkniff sich einen Kommentar über diesen Sport. Oder warum er Football hieß, wenn der Ball in Amerika im ganzen Spiel nur vielleicht acht- bis zehnmal gekickt wurde. Man hatte ihn gewarnt, dass die Amerikaner da empfindlich waren. Also nickte er nur.

»Hast du schon mal ein Baseball-Spiel gesehen?«

Adam schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Vielleicht kann ich nachher einen Sixpack vorbeibringen. Es kommt ein Spiel. Ich kann’s dir erklären.«

Hmmm... Vielleicht. Könnte Spaß machen. Wenn er sich in diesem Land versteckte, sollte er sich vermutlich mit den Dingen auseinandersetzen, die seinen Bewohnern wichtig waren. Und Gott... auf seiner Schulter saß ein Teufel, der ihm ins Ohr wisperte, wie viel Spaß er mit diesem Mann haben könnte. Selbst jetzt machte der Fremde ihm mit seinen Augen ein hungriges Angebot, und Adam war hungrig. Manchmal fühlte es sich an, als wäre er am Verhungern.

»Entschuldigung«, erklang eine Stimme, die sie beide zusammenzucken ließ. Als Adam sich nach ihr umdrehte, erstarrte er.

Vor ihm stand einer der schönsten jungen Männer, die er in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Schlank, aber nicht dürr. Selbst unter dem locker sitzenden blauen Hemd konnte Adam eine gut definierte Brust erkennen. Seine Frisur war beinahe jungenhaft und sein Teint hatte die Farbe von cremefarbenem Marmor. Aber es waren seine fesselnden, großen blauen Augen, die Adam den Atem raubten.

»Bellissimo«, flüsterte er und alle Gedanken an Timothy den Handwerker verschwanden spurlos.

Der Mann war so umwerfend, dass es Jason die Sprache verschlug – trotz seiner riesigen, dunklen Sonnenbrille und seinem merkwürdigen Hut mit der breiten Krempe. Der Hut erinnerte ihn irgendwie an ein Renaissancegemälde. Er war weder sonderlich raffiniert noch verziert, hatte eine eckige Krempe, die links und rechts aufgerollt war, und war oben wie ein Zylinder geformt.

Trotz des beinahe albern aussehenden Dings sorgte der Mann dafür, dass Jason kein Wort herausbekam.

Er war größer als Jason, seine Schultern etwas breiter, aber trainiert und gut gebaut. Sein pfirsichfarbenes Poloshirt konnte dies nicht verbergen, genauso wenig wie die figurbetonte Kakihose, die er trug. Jason wurde rot, als er bemerkte, dass sein Blick von der vielversprechenden Beule im Schritt des Mannes angezogen worden war.

Als er wieder aufsah, schien der Mann ihn anzustarren, doch wegen der großen Sonnenbrille konnte Jason nicht sicher sein.

Dann sagte er mit einer Stimme, die wie Musik klang, ein einziges Wort. »Bellissimo.« Oder zumindest glaubte Jason, dass er das gesagt hatte.

»Ich – Verzeihung?«, brachte Jason irgendwie raus. Er wusste, dass er eigentlich wissen sollte, was dieses Wort bedeutete – bellissimo. Aber wenn er je seine Bedeutung gekannt hatte, war sie wie eine Rauchwolke von einer plötzlichen Windböe aus seiner Erinnerung gefegt worden.

Dieser Moment war so intensiv (später würde er ihn nicht um alles in der Welt beschreiben können), dass er beinahe die Spinat-Artischocken-Quiche fallen gelassen hätte, die er in Händen hielt.

Sie war schließlich heiß. Die Hitze war durch die Topflappen gedrungen.

Und der Mann starrte ihn an.

Tim Jeske räusperte sich. »Ah...« Er nickte knapp. »Brewster.« Als Jasons geheimer Highschool-Freund seinen Nachnamen aussprach, brach er damit den Zauber, der sich sowohl auf ihn als auch den Fremden gelegt hatte, der nicht von dieser Welt zu stammen schien.

»Scusami«, sagte der Mann schnell, aber immer noch in diesem melodischen Ton. »Ich... Entschuldigung.« Er trat vor und sah sich an, was Jason mitgebracht hatte.

Jason hielt ihm die Quiche hin. »Ich... ich hab dir... etwas zum Einzug gebracht.«

Als er heute Morgen aufgewacht war, hatte er sich vorgestellt, wer in dem kleinen Haus leben könnte. Er hatte sogar davon geträumt. In einem Traum hatte sich ein Adler dort häuslich eingerichtet, der von der Hintertür des Hauses über den niedrigen Zaun geflogen war, der die kleine Veranda begrenzte, und dann weiter über den Garten, die Gasse und schließlich in Jasons Garten. Er war geradewegs in Jasons Fenster geflogen, das weit geöffnet war und den mächtigen Vogel einlud. Eigentlich konnte man sein Fenster gar nicht so öffnen, aber in einem Traum machte das ja nichts, oder?

Nur ein einziges Mal war er ängstlich zusammengezuckt, als der große braune Adler mit weit ausgebreiteten Schwingen leise auf ihn zugehalten hatte. Er hatte Jasons Schultern in seine Krallen genommen, die größer waren als die Hände eines Mannes, und ihn dann hochgehoben, hoch und immer höher in den Abendhimmel, bis Jasons Zuhause und ganz Buckman wie eine Patchwork-Decke unter ihnen ausgebreitet gewesen war.

Jason hatte keine Angst gehabt. Er fühlte sich verklärt, auserwählt. Sexuell ermächtigt. Als er wieder aufgewacht war, war er enttäuscht gewesen. Er schlurfte ins Badezimmer, wo er sich auf den Tag vorbereitete.

Währenddessen ertappte er sich dabei, wie seine Gedanken zu dem Häuschen auf der anderen Seite der Gasse hinter dem The Briar Patch wanderten. Er fragte sich, wer wohl darin wohnte...

(Ein Adler!)

… und wie er es herausfinden konnte.

Selbst wenn es nur war, um es Mrs. Halliburton und ihren Freunden erzählen zu können. (Doch ein Teil von ihm, tief in seinem Inneren, wisperte ihm zu, dass er es für sich behalten sollte – als sein Geheimnis.)

Er hatte aus seinem Schlafzimmerfenster zu dem Haus geblickt, das die Farbe von Knetmasse hatte, und sich gefragt...

Wer wohnte wohl darin? Ein Mann? Eine Frau? Ein Paar? Ein Pärchen, das sich in der Highschool gefunden hatte und jetzt in das erste gemeinsame Haus gezogen war? Vielleicht frisch Verheiratete?

Würden bald schreiende Kinder herumrennen? Er hoffte nicht. Seit seinem Einzug war das Leben in diesem Haus so ruhig und friedlich (einsam) gewesen. Seine Großtante hatte es ihm und seiner Schwester (die keinerlei Absicht hegte, jemals darin zu wohnen) vermacht, als sie noch zur Highschool gegangen waren, und er war kurz nach seinem Abschluss eingezogen. Natürlich hatte er gehofft, es sich einmal mit einem Freund zu teilen. Oder zumindest hin und wieder einen Mann mit nach Hause zu bringen. Aber das war nicht passiert, nicht wahr?

Er hatte sich daran erinnert, dass heute der Müll abgeholt wurde, brachte die Säcke von der Veranda zu dem großen blauen Müllcontainer der Stadt und hielt dann inne. Warf einen Blick zur anderen Seite der Gasse und grübelte.

Jemand Älteres? Oder jemand Junges?

Hetero...

… oder nicht?

Während er die Quiches für den Tag zubereitete, grübelte Jason weiter – und dann hatte er einen Geistesblitz.

Ein Geschenk zum Einzug. Er würde eine der Quiches als Einzugsgeschenk vorbeibringen. Eine ohne Fleisch, falls wer auch immer dort lebte, Vegetarier war.

Und jetzt? Jetzt verbrannte er sich bald die Hände!

»Kann ich die irgendwo abstellen?«, fragte er. »Sie ist noch heiß, frisch aus dem Ofen.«

»Oh! Scusi!« Der Mann machte einen anmutigen Satz nach vorn, nahm die heiße Quicheform zusammen mit den Topflappen und fragte: »Was ist das, wenn ich fragen darf?«

Was das war? Wusste er das nicht? »Quiche«, antwortete er.

»Kii-sch?«, echote der Mann.

»Quiche.« Hatte er noch nie von Quiche gehört? »Man macht sie mit Eiern und Sahne und dann fügt man noch andere Zutaten hinzu.« Jason kreiste mit seinem Finger über der Form, als würde er deren Inhalt vermischen. »Das ist eine mit Käse, Spinat und Artischocken.«

Der Mann hob sie an sein Gesicht und atmete tief ein. »Sie riecht fantastisch.«

Oh, sein Akzent! So schön. Vielleicht italienisch?

»Und die ist für mich?«, fragte er in seinem melodischen Tonfall.

Jason nickte und merkte, wie er unerklärlicherweise rot wurde. »Ja. Ein Einweihungsgeschenk.«

»Ein... weihung?«

Ach, du meine Güte. Wusste er nicht, dass man sich hier zum Einzug etwas schenkte? Jason drehte sich um und deutete auf die andere Seite der Gasse. »Ich wohne in dem Haus hinter deinem und wollte dich in der Nachbarschaft willkommen heißen.«

»Ah! Bello! Grazie! Grazie mille! Tausend Dank!«

»Gern geschehen«, erwiderte Jason. Er war schon jetzt in die Stimme des Mannes verliebt.

»Isst man sie jetzt oder muss man warten, bis sie abkühlt?«

Jason lachte. »Wenn du willst, kannst du sie auch gleich essen.«

»Beeee-llo!« Er lächelte und es war vielleicht das schönste Lächeln, das Jason je gesehen hatte. »Allora. Nun denn... leistest du mir Gesellschaft? Wir...« Er seufzte und sogar dieser Laut war wunderschön. »Come si dice...? Wie heißt es auf Englisch? Wir könnten sie auftischen?« Dann lächelte er erneut und Jasons Herz fing beinahe –

Ein lautes Räuspern ließ Jason und den Mann zusammenzucken.

Es war Tim. Gott, Jason hatte vergessen, dass er noch hier war. »Ich schätze, ich hole dann mal das Material.«

»Accidenti! Es tut mir so leid, Timothy. Schließt du dich uns an?«

Jasons Herz sank. Sich diesen schönen Mann mit Tim Jeske zu teilen, war das Letzte, was er wollte.

»Nein.« Er warf Jason einen messerscharfen Blick zu. »Ich mag keine Quiche.« Er verzog das Gesicht. »Abgesehen davon habe ich versprochen, morgen hiermit fertig zu sein.«

»Nein!«, sagte der Mann. »Basta! Keine Widerrede. Setz dich zu uns!« Dann: »Dai! Du hast recht.« Er sah zu Jason. »Sie ist wirklich heiß!« Er drehte sich um, ging auf die Veranda und setzte die Quiche auf dem Geländer ab.

»Verbrenn dich nicht!«, rief Jason.

»Fast!«, antwortete der Mann und lächelte, als er sich die Finger zum Kühlen in den Mund steckte. Vielleicht hatte Jason in seinem Leben noch nie etwas gesehen, das erotischer war.

Reiß dich zusammen!

Tim räusperte sich erneut. »Nein. Ich muss los. Zeug besorgen.« Dann warf er Jason wieder einen tödlichen Blick zu. »Vielleicht später? Zum Spiel?«

»Spiel?«

»Das Baseball-Spiel?«

»Oh! Natürlich. Vielleicht. Vielleicht...«

Tim schnaubte und zog von dannen. Jason hätte nicht glücklicher sein können.

Der Mann nahm die Quiche, packte die Fliegengittertür mit einem Finger und öffnete sie. »Prego, entra.« Er nickte Jason einladend zu.

Es war nicht schwer zu erraten, was er gesagt hatte, und Jason trat lächelnd in das kleine Haus.

Kapitel 4

Das Innere des Hauses ließ eine Menge Erinnerungen wach werden, aber Gott... Wie hatte der Boden innerhalb von ein paar Jahren so stark nachgeben können? Als er seinen Blick hob, sah er den dunklen Fleck in der oberen Zimmerecke. Oh Mann. Hatten Kathy und Melissa Probleme mit dem Dach gehabt?

»Ah ja. Mit der Reparatur habe ich Mr. Jeske beauftragt.«

Jason errötete. Er hatte nicht starren wollen. Würde...? War das unhöflich? Zur Hölle, er wusste nicht einmal den Namen seines neuen Nachbarn!

»Hier entlang?«, schlug Mr. Gutaussehend vor. »Gehen wir an einen sichereren Ort? Wie wäre es mit meiner Piazza? Da ist es ganz nett, finde ich.«

Piazza?

Die Piazza stellte sich als die kleine Veranda hinter dem Haus heraus. Sie hatte ein hübsches schräges Dach, das neu aussah.

Jasons Gastgeber stellte die Quiche auf den Tisch und deutete dann auf einen der zwei Stühle, die an dem kleinen Tisch standen. Natürlich stolperte Jason auf dem Weg zum Tisch über seine eigenen Füße. Hätte er irgendetwas Schlimmeres tun können? Als Jason sich setzte, hielt sein Gastgeber den Stuhl für ihn fest und schob ihn dann an den Tisch heran. Meine Güte! Das hatte noch nie jemand für ihn getan.

Jasons neuer Nachbar nahm seinen albernen Hut ab und rauschte wie die Anmut in Person zurück ins Haus. Einen Moment lang betrachtete Jason den Hut, bevor sich ein Grinsen über sein Gesicht ausbreitete. Irgendwie erinnerte er ihn an den Hut des Munchkin-Gerichtsmediziners aus Der Zauberer von Oz. Beinahe hätte er angefangen zu lachen. Aber Gott, was, wenn sein Gastgeber das gesehen hätte?

Mr. Gutaussehend kam mit einem Tortenmesser zurück. Es wehte eine leichte Brise, die die dunklen Strähnen seiner Haare, die ihm lang in die Stirn fielen, ein klein wenig durcheinanderbrachte. Sexy. Jason wusste nicht, warum, aber das war sexy. Die Haare, nicht das Messer.

»Wir essen deine Quiche. Sagt man das so? Richtig? Aber zuerst muss ich mich entschuldigen. Ich habe mich weder vorgestellt noch nach deinem Namen gefragt, signore.« Dabei knallte er doch tatsächlich die Hacken zusammen, verneigte sich kaum merklich und sagte: »Ich bin Adam Terranova. Ich komme aus Rom in dieses hübsche Dorf und freue mich darauf, dieses Land kennenzulernen. Willkommen in meinem Zuhause.«

 

Jason lächelte. Er konnte nicht anders. Er fühlte sich wie in einem Film oder einem Märchen. Und es gefiel ihm. Sehr sogar.

»Mein Name ist Jason Evander Brewster«, antwortete er aus dem Bedürfnis heraus, seinen vollen Namen zu sagen.

Daraufhin schenkte Adam Terranova ihm sein bisher schönstes Lächeln. Jasons Herz setzte einen Schlag aus. »Ah«, machte Adam. »Du bist nach den Helden der Antike benannt. Wäre mir dieser Segen nur auch zuteilgeworden.«

Unter Jasons Blick schnitt Adam die Quiche in Stücke, die etwa halb so groß waren wie die, die Jason seinen Gästen servierte. Das überraschte ihn, aber er sagte nichts. Vielleicht hatte Adam schon gegessen. Außerdem war es ein wenig merkwürdig, mit einem völlig Fremden zu essen. Sie hatten sich ja gerade erst einander vorgestellt.

Aber dann kam der Kaffee – gelinde gesagt eine weitere Überraschung.

Die Tassen waren klein. Sehr klein. Sie erinnerten ihn fast an die Tassen, mit denen er und Daphne als Kinder gespielt hatten. Und sie waren nur halb mit Kaffee gefüllt.

»Zucker?«, fragte sein Gastgeber und hätte beinahe einen gehäuften Teelöffel Zucker in die Tasse gekippt, noch bevor Jason antworten konnte. Er hielt im letzten Moment inne. Ein paar Kristalle rieselten trotzdem hinein.

»Ah, sicher«, antwortete Jason, hauptsächlich aus Erstaunen.

»Sahne?«

Jason zuckte mit den Schultern und beobachtete, wie Adam Sahne in die Tasse goss, bis sie gefüllt war. Dann wiederholte er das Gleiche bei einer zweiten Tasse, bevor er sich gegenüber von Jason hinsetzte und ihn wieder anlächelte.

»Prego! Prost. Mangia! Lass es dir schmecken.«

Jason nahm einen Schluck Kaffee und hätte sich fast verschluckt. Er war nicht nur süß, sondern auch verdammt stark. Heilige Scheiße, war der stark!

»Ma dai! Ist alles in Ordnung, Jason?«

Mit feuchten Augen hob Jason eine Hand. Er traute sich fast nicht aufzusehen. Zum Glück schaffte er es irgendwie, den Kaffee nicht auszuspucken. »Alles okay.« Er lächelte schwach. »T-Tut mir leid. Ich habe nur nie... Dein Kaffee. Der ist was Besonderes.«

Selbst mit der großen Sonnenbrille wirkte Adam schockiert. Und irgendwie... enttäuscht? »Es tut mir so leid! Scusa!«

Jason schüttelte entsetzt den Kopf. Himmel, was für ein erster Eindruck. Was sollte dieser Mann nur von ihm denken? »Mir geht’s gut. Ich komme mir wie ein Idiot vor.«

»Nein, nein! Du bist kein Idiot. Vielleicht bin ich einer. Ich wusste, dass ihr Amerikaner euren Kaffee schwach mögt.«

Gott, er sah wirklich bestürzt aus. Was habe ich getan?

»Und ihr trinkt so viel davon. Ich konnte nicht glauben, wie viel die Leute im Flugzeug getrunken haben, als ich in diesem Land angekommen war. Und an den Flughäfen. Wirklich erstaunlich!«

Jason lachte bei dem Gedanken daran, wie er morgens herumeilte, um die Tassen seiner Gäste zu füllen. »Viva la Unterschied?«, fragte er.

Adam lächelte wieder und Gott, war das schön. Vielleicht war der unangenehme Moment vorüber? Seine Zähne waren perfekt und so weiß. »Viva la differenza. Lang lebe der Unterschied. In der Tat. Kann ich dir etwas anderes bringen? Etwas... weniger Starkes?«

Jason schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Aber ich hätte gern etwas Wasser.«

»Certo!«, sagte Adam und war auf und davon. Seine Worte hallten in Jasons Kopf nach: Es lebe der Unterschied. Oh Mann! Dann kam Adam mit einem Glas und einer Flasche Wasser zurück.

Dieses Mal machte er etwas anders: Er nahm seine Sonnenbrille ab. Endlich konnte Jason seine Augen sehen. So blau! So intensiv blau.

Es waren die schönsten Augen, die Jason je gesehen hatte.

Und Jason war verloren.

Zum zweiten Mal erschien plötzlich dieser... verlorene Ausdruck auf dem Gesicht seines neuen Nachbarn – Jason, der Name gefiel ihm sehr.

Oh Gott! Er hat mich erkannt.

Tief durchatmen. Bleib ruhig.

»Alles in Ordnung, Jason?«, fragte er und hoffte, dass seine Befürchtungen unbegründet waren.

Jasons Wangen färbten sich rosig. Er wandte seinen Blick ab, nur um ihn kurz darauf wieder anzusehen. Oh, diese Augen. Diese wunderschönen Augen. Er könnte in diesen Augen versinken. Er wollte sie küssen.

»Ich... ich... es tut mir leid.« Jason wandte erneut seinen Blick ab.

Adam griff nach ihm, hätte beinahe Jasons Hand berührt und hielt sich dann doch zurück. Er war sich nicht sicher, ob das hierzulande angebracht war. Man hatte ihm gesagt, dass die Art, wie Männer sich in Europa berührten und einander auf die Wange küssten, in Amerika verpönt war.

Unmännlich. Schwul. Finocchio. Frocio.

»Es lag nur am Kaffee«, sagte Jason, begegnete Adams Blick aber immer noch nicht. Zu schade. Er wollte in seine Augen blicken.

»Jason. Sicuro? Bist du sicher?«

»Deine Augen«, flüsterte Jason. Oder zumindest glaubte Adam, dass er das gesagt hatte.

»Meine Augen?«

Jason sah ihn an, öffnete seinen Mund und schloss ihn wieder. Er lief rot an und wandte schon wieder seinen Blick ab.

»Jason?«

»Sie sind schön...«, wisperte er.

Wisperte. Aber Adam hörte ihn und merkte, wie seine Wangen heiß wurden. Er findet meine Augen schön?

»Danke, mein neuer Freund«, sagte er. »Ich finde deine auch sehr schön. Bellissimo.«

»B-Bellissimo?«, echote Jason.

Adam nickte. »Das heißt wunderschön.«

»Als du also gesagt hast, dass...«

»Si?«, hakte Adam nach. »Ja?«

Jason schüttelte den Kopf. »Nichts«, erwiderte er leise. Mit schweren Lidern sah er zu Adam auf. In diesem Blick lagen so viele Möglichkeiten. War dieser reizende junge Mann vielleicht schwul? Konnte das Schicksal ihm so wohlgesonnen sein? Dass er so bald jemanden traf?

Timothy Jeske gibt es auch noch.

Adam schüttelte den Gedanken ab. Wie konnte er überhaupt an Timothy zur Stelle denken, jetzt, wo er Jason Evander Brewster kannte?

Nun ja, zumindest weißt du, dass Timothy Männer mag. Oder zumindest mit ihnen schläft.

Und auch wenn Letzteres gut klang, war er nicht hergekommen, weil er mehr wollte?

Jason sah ihn immer noch nicht an und Adam hatte keine Ahnung, was er als Nächstes tun sollte.

Sorg dafür, dass er sich wohlfühlt. Verjag ihn nicht.

»Weißt du, in meiner Heimat«, begann Adam, »ist es für Männer nicht... tabu, etwas schön zu finden. Wir suchen nach Schönheit. Schätzen sie wert. Feiern sie. Das macht uns nicht...« Er hätte beinahe schwul gesagt. Doch das Wort blieb ihm in der Kehle stecken. Er konnte es nicht aussprechen. Konnte es nicht, weil er schwul war. Er war von seinem Zuhause und seiner Familie, die er liebte, dem Land, das ihm so am Herzen lag, und der Verantwortung, die ihm in die Wiege gelegt worden war, davongelaufen. Er hatte all das hinter sich gelassen, um ein schwules Leben zu führen, in dem er vielleicht – vielleicht – die Liebe mit einem anderen Mann finden würde. Könnte er jetzt auch nur irgendwie so tun, als wäre es etwas Schlechtes, schwul zu sein?

Nein.

»Wo ich herkomme, kann ein Mann bemerken, wie schön die Augen eines anderen Mannes sind. Es macht ihn nicht... weniger männlich.«

»Aber... Ich bin schwul«, sagte Jason.

Adam erstarrte einen Augenblick. Wie erstaunlich. »Welch angenehme Überraschung.«

Ein winziges Lächeln zupfte an Jasons Mundwinkeln. Er hatte einen schönen Mund. »Angenehm?«, fragte Jason.

Adam nickte und sein Herz schlug schneller. »Si. Meine Heimat ist so weit entfernt. Und ich hatte Angst, weißt du? Ich habe gehört, dass Amerika ein gutes Land für Homosexuelle ist. Man kann heiraten. Das geht, wo ich herkomme, nicht. Ihr habt den Gay Pride. So etwas hatten wir noch nie. Keine Parade. Keine Feier mit Patti LaBelle und Ariana Grande und RuPaul. Ihr produziert Serien wie Unbreakable Kimmy Schmidt mit Titus Andromedon, der ist zum Schreien komisch.«

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