Die Ewigkeit ist jetzt

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Indem wir so reagieren, dass wir ständig das Angenehme aufrechtzuerhalten und das Unangenehme loszuwerden suchen, schaffen wir die Grundlage dafür, dass wir uns ständig zwischen Tod und Wiedergeburt bewegen. Denn uns fehlt die Richtung. Wir bewegen uns im Kreis – immer weiter. Es ist ein Karussell ohne Ausstieg. In einem nicht enden wollenden Kreislauf versuchen wir immer wieder, Angenehmes zu behalten und Unangenehmes loszuwerden. Dem können wir nur dadurch entrinnen, dass wir die Empfindungen beobachten, aber nicht reagieren. Wenn wir das in der Meditation lernen – und sei es auch nur für einen einzigen Augenblick –, dann können wir es im Alltag mit großem Gewinn wiederholen.

Jeder macht unangenehme Erfahrungen im Leben. Die Leute sagen Dinge, die wir nicht gerne hören. Manche tun auch Dinge, die uns nicht recht sind. Es gibt Menschen, die uns nicht schätzen, nicht mögen, nicht anerkennen. Andere verlassen uns, obwohl wir sie gerne bei uns hätten. Wieder andere bleiben, obwohl wir sie viel lieber los wären. Diese Dinge widerfahren jedem. Selbst der Buddha wurde geschmäht. Auch er hat Situationen erlebt, die unangenehme Empfindungen hervorriefen, aber nicht darauf reagiert.

Man gibt einfach nur auf die Empfindungen acht. Tritt also im Körper eine unangenehme Empfindung auf, weil wir ungewöhnlich lange stillsitzen, dann gebt nichts und niemandem die Schuld daran. Niemand ist schuld, dass Empfindungen auftreten. Es handelt sich schließlich nur um Empfindungen, die auftauchen und wieder verschwinden. Beobachtet und erkennt die Empfindung. Solange ihr nicht in der Lage seid, unangenehme Empfindungen mit Abstand zu betrachten werdet ihr überhaupt nichts ändern können. Irgendwann einmal müsst ihr das einfach fertigbringen. Im Idealfall weiß man, dass die unangenehmen Empfindungen lediglich Empfindungen sind, nichts weiter. Diese Empfindungen treten ungebeten auf, und deshalb brauchen wir sie nicht als die unsrigen zu betrachten. Wir haben nicht um sie gebeten. Warum meinen wir dann, dass sie zu uns gehören?

Solange wir nicht wirklich erkennen, was in unserem Geist vorgeht, wenn diese Empfindungen auftreten, werden wir immer wieder in unsere lange eingeschliffenen, gewohnheitsmäßigen Muster verfallen. Was wir fortwährend denken und worauf wir immer und immer wieder reagieren, das hinterlässt Prägungen im Geist. Im Geist geschieht das Gleiche, wie wenn auf einer verschlammten Straße ein vor und zurück fahrendes Auto immer tiefere Fahrrinnen verursacht. Die Rinnen werden tiefer und tiefer, bis sie schließlich so tief sind, dass das Herauskommen aus der Fahrrinne und ein weiteres Vorankommen unmöglich scheint.

Dies ist genau die richtige Situation, eine echte Gelegenheit, unsere Reaktion auf unangenehme Empfindungen zu beobachten. Bitte keine Rationalisierung: «Das ist schlecht für mich, für meinen Kreislauf, ich sollte das nicht tun, sagt mein Arzt immer.» Nichts dergleichen. Es kommt hier lediglich darauf an, den Geist bei seinen Reaktionen zu beobachten. Der Geist ist ein schlauer Manipulationskünstler. Er kann wirklich alles. Wir nennen ihn einen Magier, und das ist eine treffende Bezeichnung. Unser Geist kann aus jedem Hut ein Kaninchen ziehen. Er kann alles so hinstellen, als ob alle anderen unrecht hätten und nur wir die Gescheiten seien.

Das müssen wir durch die Meditation lernen: Man kann unmöglich immer recht haben. Meist verteidigen wir lediglich einen Standpunkt, der auf unserem Ego basiert. Aufgrund dieses Ego, dieser Ich-Täuschung, sind alle unsere Standpunkte, all unsere Meinungen, von diesem Ich beeinflusst, ja entstellt. Das kann gar nicht anders sein. Hat die Fensterscheibe einen rötlichen Farbton, dann sieht draußen alles rot aus.

Wenn wir unseren Geist und seine Reaktionen nach und nach durch den meditativen Prozess kennenlernen, können wir akzeptieren, dass, während wir etwas denken, vier Milliarden andere Menschen etwas anderes denken. Ist es dann möglich, dass ausgerechnet wir das Richtige denken und die vier Milliarden das Falsche? Wir verteidigen einen Gesichtspunkt, der manchmal gültig sein mag – aber nur dann, wenn es um uns geht. Als Einziger voll und ganz richtig denkt ein Arahant, weil er nicht die Illusion eines Ego hat.

Dies sind mögliche Schritte, um dann Einsicht zu gewinnen, wenn wir nicht beim Atem verweilen, sondern wenn der Geist auf Eindrücke und Empfindungen reagiert. Jeder Augenblick kann dazu dienen, Einsicht zu erlangen, und daraus erwächst Ruhe. Ein bisschen Einsicht schafft ein bisschen Ruhe. Sehen wir ein, dass wir unseren Gedanken keine Aufmerksamkeit zu schenken brauchen, wird es leichter, sie einfach loszulassen. Erkennen wir, dass wir auf Empfindungen nicht unbedingt reagieren müssen, können wir diese Reaktion viel leichter vermeiden. Ein wenig Ruhe schafft auch ein wenig Einsicht. Beides sollten wir nutzen.

Die Lehre des Buddha schwimmt nicht mit dem Strom unserer Instinkte und ist deshalb nicht leicht zu verstehen. Ein Geist, der sie begreifen kann, ist ein geschulter Geist. Der durchschnittliche Geist diskutiert lieber über sie. Das ist aber nur eine Art Zeitvertreib, ohne jedes Resultat. Um wirklich in uns zu erfahren, worüber der Buddha gesprochen hat, benötigen wir einen Geist, der überdurchschnittlich ruhig und gesammelt ist. Er muss erkannt haben, dass er nichts anderes ist als eine Erscheinung, die entsteht und vergeht.

All dies kann geschehen, während wir dasitzen und unseren Atem beobachten.

Ruhe und Einsicht. Einsicht ist das Ziel, Ruhe das Mittel dazu. Solange im Geist keine Ruhe eingekehrt ist, wird er durch Wellen von Vorlieben und Abneigungen in Bewegung gehalten. Diese Wellen trüben unsere Sicht. In einem See, in dem Wellen emporsteigen, kann man sein Spiegelbild nicht erkennen. Dazu muss das Wasser ruhig und sanft sein. Ebenso muss auch der Geist ruhig sein, damit wir zu klarer und gründlicher Einsicht fähig sind.

Die Gehmeditation führt in die gleiche Richtung. Indem wir wirklich achtsam werden, kehrt Ruhe ein. Setzt der Denkprozess ein, so nutzen wir ihn, um in Erfahrung zu bringen, was in unserem Geist vorgeht.

Das Etikettieren ist ebenfalls eine Möglichkeit, zu erfahren, was der Geist tut. Sind wir dazu während der Meditation imstande, dann sind wir es auch im Alltag. Jeder gutwillige Mensch wird einen Gedanken, der das Etikett Gier oder Hass erhält, sofort fallen lassen. Das ist der Weg zur Läuterung. Die Geistesruhe ist auf diese Läuterung angewiesen. Zu Läuterung kommt es auch durch Einsicht, durch Selbsterkenntnis. Durch das Etikettieren wird deutlich, was im Geist vor sich geht. In der Meditation müssen wir alle Etiketten und Gedanken loslassen, im Alltag die nutzlosen und unzuträglichen Gedanken. Lernen wir das, kann die Läuterung vonstatten gehen. Der Weg der Läuterung führt zur Beendigung allen Leidens.

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Vier Freunde

In unserem Herzen haben wir vier Freunde, die darauf warten, dass sie uns zu Diensten sein dürfen. Allerdings haben wir auch fünf Feinde, die darauf lauern, jeden Moment loszustürmen. Sie rasten nie2. Das Problem ist, dass wir nicht genügend Eifer aufbringen, die Feinde hinauszuwerfen und die Freunde zu bestärken. Die Freunde zu bestärken ist das natürliche und sinnvolle Verhalten. Leider fehlt es dem Geist der Menschen an der nötigen Klarheit, das zu erkennen.

Unsere Freunde sind die vier göttlichen Eigenschaften: Liebende Güte, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut. Nach diesen Eigenschaften sollten wir in unserem Herzen suchen. Stellen wir fest, dass es uns daran mangelt, und erkennen wir den Schaden, den dieser Mangel anrichtet, dann unternehmen wir etwas, um diese Eigenschaften zu entwickeln.

Liebende Güte

Wörter sind gefährlich. Sie vermitteln uns die Illusion von Sicherheit. Wir werden mit Worten gefüttert, aber sie sind lediglich Gedanken, nicht die Wirklichkeit. Stellt euch einen Fluss vor: Das Wort «Fluss» kann die Tatsache, dass Wasser fließt, nicht zum Ausdruck bringen. Das Wort «Fluss» ist statisch. Die elementare Eigenschaft eines Flusses ist das Dahinströmen. Liebende Güte kann nur dem Herzen entströmen. Bloß in ein Wort eingebettet, ist sie wertlos. Um diese Herzensgüte tatsächlich zu kennen, muss man sie erfahren. Eine Beschreibung genügt nicht. Nennt ihr einem kleinen Kind das Wort «Fluss», so wird es nicht wissen, was ihr meint. Legt ihr aber die Hand dieses Kindes in dahinströmendes Wasser, dann weiß es, was ein Fluss ist – ob es nun das Wort kennt oder nicht.

Das Gleiche gilt für die Liebende Güte. Der Ausdruck an sich ist bedeutungslos. Erst wenn ihr spürt, wie sie eurem Herzen entströmt, werdet ihr wissen, worüber der Buddha in so vielen Lehrreden sprach. Das Leben kann nur mit Herz und Geist voll und ganz gelebt werden. Wer nur mit dem Herzen lebt, wird sentimental, ein überaus verbreiteter Fehler, der nicht allein dem weiblichen Geschlecht vorbehalten, allerdings hier besonders stark vertreten ist. Sentimentalität bedeutet, jedem Impuls nachzugeben. Das geht nicht. Der Geist hat ebenfalls seine Berechtigung. Man muss auch begreifen, was geschieht. Das Begreifen allein kann dazu führen, dass man sich intellektuell sehr weit entwickelt, jedoch das Herz nicht mitspielt. Herz und Geist müssen sozusagen Hand in Hand gehen. Wir müssen auch unsere Emotionen verstehen und positiven Gebrauch von ihnen machen – von Emotionen, die Erfüllung bringen und dem Herzen ein Gefühl von Frieden und Harmonie vermitteln.

Liebende Güte oder Liebe – je nachdem, welches Wort euch mehr bedeutet – ist keine Emotion, die abhängig ist von der Gegenwart eines geliebten Menschen, eines Familienmitglieds etwa, oder von der Liebenswürdigkeit eines Menschen. Solche Denkweisen oder instinktiven Reaktionen haben mit dieser Art von Liebe nichts zu tun. So kann im Grunde jeder reagieren. Es ist nicht besonders schwierig, die eigenen Kinder zu lieben. Das schaffen die meisten Menschen. Die Eltern zu lieben ist ebenfalls nicht so schrecklich schwierig. Manche Menschen tun sich zwar selbst damit schwer, aber die meisten sind imstande, die Eltern zu lieben. Das ist jedoch nicht die Bedeutung von Mettā oder Liebender Güte.

 

Spricht der Buddha von Liebender Güte, dann spricht er über eine Eigenschaft des Herzens, die zwischen allen Lebewesen keinerlei Unterschied macht. Als höchstes Bestreben empfiehlt er in seiner Lehrrede über die Herzensgüte, alle Wesen so zu lieben, wie eine Mutter ihr Kind liebt. Wer von euch Kinder hat, kennt den Unterschied genau: Wie empfindet ihr – im Vergleich zu anderen Menschen – euren Kindern gegenüber? Darin besteht unsere Aufgabe: Solange wir nicht so weit geläutert sind, dass wir alle Wesen so betrachten, als seien sie unsere eigenen Kinder, haben wir nicht die Bedeutung von Liebender Güte begriffen.

Wenn ihr ein kleines Kind vom Fahrrad fallen und weinen seht, wird es euch ganz natürlich erscheinen, es hochzuheben und zu trösten. Das ist Herzensgüte, die uns nicht besonders schwer fällt. Die Schwierigkeit liegt darin, dieses Gefühl jedem entgegenzubringen, obwohl die meisten Menschen eigentlich nicht so furchtbar liebenswert sind. Niemand von uns ist absolut liebenswert. Nur ein Arahant ist es. Wenn wir jedoch selbst gar nicht so liebenswert sind, weshalb erwarten wir das dann von anderen? Warum nur machen wir so einen Unterschied zwischen denen, die wir zu lieben bereit sind, und den anderen? Wir bilden uns ein, dass wir jene, die sich nicht so verhalten, wie es uns richtig scheint, auch nicht zu lieben brauchen. Aber niemand handelt immer richtig. Davon sind wir selbst nicht ausgenommen. Wenn man nur einen Moment überlegt, muss man zugeben, dass wir alle Fehler machen. Zwar kenne ich euer Leben nicht, dennoch bin ich davon überzeugt, wenn ich mir nur mein eigenes Leben anschaue. Jeder macht Fehler. Warum also erwarten wir von anderen, dass sie vollkommen sind, wenn wir es selbst doch auch nicht sein können?

Es gibt sozusagen drei Stufen von Liebender Güte. Die erste können wir Wohlwollen nennen. Wir verfügen über Wohlwollen füreinander. Es ist die Grundvoraussetzung für ein Zusammenleben. Hätten wir dieses Wohlwollen nicht, könnten wir nicht einmal miteinander meditieren. Wir würden aufstehen und umhergehen. Wir würden Krach machen, wenn alle ruhig sind. Kein Land könnte existieren, brächten seine Bewohner einander kein Wohlwollen entgegen. Habt ihr jemals bedacht, wie sehr wir alle aufeinander angewiesen sind? Wir sind auf den Milchmann angewiesen, den Gemüseverkäufer, den Reisbauern und auf unsere Gemeinde, die uns mit Wasser versorgt. Wir sind auf das Wohlwollen unserer Nachbarn angewiesen. Weil dieses Wohlwollen für unser Überleben unerlässlich ist, verfügen die meisten Menschen darüber. Ginge es in die Brüche, hätten wir Chaos.

Den nächsten Grad von Liebender Güte können wir als Freundschaft bezeichnen. Einer gewissen Gruppe von Menschen gegenüber hegen wir freundliche Gefühle. Das sind unsere Freunde, vielleicht die Nachbarn; jedenfalls handelt es sich um Menschen, die uns gefallen. Freundlichkeit ist zwar ein Schritt zu liebender Güte hin, wirkliche Herzensgüte ist dies jedoch noch nicht. Sie ist eine Herzlichkeit, durch die wir die Zuneigung anderer Menschen gewinnen. Aber in sich trägt sie den Intimfeind der Liebe, die Zuneigung. Zwar halten wir Zuneigung für etwas Positives, doch sie beinhaltet Anhaftung. Anhaftung an unsere Freunde und Gefährten, an diejenigen, die uns helfen und mit uns zusammenleben. Dieses Anhaften ruft Hass hervor. Nicht den Menschen gegenüber, an denen wir hängen, sondern dem Gedanken gegenüber, dass wir sie verlieren könnten. Angst kommt ins Spiel. Und wir haben nur Angst vor dem, was wir hassen. Darum geht der Liebe ihre Reinheit verloren. Anhaftung verunreinigt die Liebe und macht sie darum unbefriedigend. Sie kann so keine restlose Erfüllung bringen. Genau das geschieht innerhalb der Familien. Deshalb gibt es bei dieser Art von Liebe so viel Unzufriedenheit.

Die Liebe, die man für seine Familie empfindet, kann man als Grundlage für die Erfahrung von Liebender Güte nutzen. Dann kann man sie weiter entwickeln und wachsen lassen. Erst dadurch erhält die Liebe zur Familie ihren tieferen Sinn. Andernfalls kann sie – wie so häufig zu beobachten – zu einem Wechselbad der Gefühle werden, vergleichbar mit einem unter Druck stehenden Wasserkessel. Die Liebesempfindung für die Familie müssen wir nutzen, um jene wahre Herzensgüte zu entwickeln, die nicht auf solchen Voraussetzungen fußt wie: «Mein Mann, meine Frau, mein Sohn, meine Tochter, mein Onkel, meine Tante, meine Mutter, mein Vater». Hier geht es uns noch um «ich» und «mein». Bevor wir darüber nicht hinaus- und zu bedingungsloser Liebe hingelangen, hat die Liebe zur Familie ihren wahren Zweck nicht erfüllt. Sie hat dann lediglich zur Stärkung des Ego und zum Überleben gedient. Am Leben zu bleiben ist ein aussichtsloses Unterfangen, daher sollten wir keine Energie darauf verschwenden. Atombombe hin oder her: Überleben werden wir auf keinen Fall. Es gibt nur einen einzigen Ort, wo wir alle hingehen, wo wir uns alle wiedertreffen.

In unseren Freundschaften haben wir die gleichen Schwierigkeiten mit dem Anhaften. Wir hängen an unseren Freunden. Wir wollen sie nicht verlieren. Wir behandeln sie gut, damit sie unsere Freunde bleiben. Sind sie nicht ebenfalls nett zu uns, beginnen wir umgehend zu überlegen, ob wir mit ihnen befreundet bleiben sollten. Wir wollen, dass man uns die gleiche Freundschaft erwidert, die gleiche Rücksichtnahme und Fürsorge. Es wird zu einem Geschäft: Ich gebe etwas und will dafür einen guten Gegenwert haben. Die meisten Menschen machen dies mit solcher Selbstverständlichkeit, dass wir noch nicht einmal darüber nachdenken. So verfahren wir mit unseren Freunden, aber auch mit denen, die wir innig zu lieben glauben. Erwidern sie unsere Liebe nicht, fühlen wir uns verwaist, verzweifelt und deprimiert. Verlässt uns jemand, dann scheint die Liebe dahin zu sein. Ist es nicht widersinnig, dass Liebe auf eine, zwei oder drei Personen eingeschränkt sein soll?

Die Liebe kann nicht im menschlichen Körper stecken. Ein Mensch ist lediglich ein mit Haut überzogener Sack voll Knochen (siehe Seite 77). Wie kann die Liebe darin eingebettet sein? Und doch handeln alle großen Tragödien davon. Romeo und Julia und Vom Winde verweht sind Dramen, in denen man auseinandergeht oder durch den Tod getrennt wird. Menschen müssen zwangsläufig Abschied nehmen – sei es auf Grund eines Sinneswandels oder sich ändernder Gefühle oder sei es durch den Tod. Ob sie das tun sollten oder nicht, ist nicht die Frage. Diese lautet: Wie kann Liebe auf ein oder zwei derartige Personen eingeschränkt sein?

Liebe ist in eine Empfindung eingebettet. Hat man die Liebe zur Familie nicht genutzt, um dieses Empfinden zu erweitern, wird man zwangsläufig eine traumatische Erfahrung durchleben, wenn sich aus irgendeinem Grund diese Verbundenheit auflöst. Der eigentliche Sinn der Liebe zur Familie liegt darin, die Liebesempfindung kennenzulernen und dann mit ihr zu arbeiten.

Diese Arbeit beschränkt sich nicht auf einen zehntägigen Meditationskurs und auch nicht darauf, dass man die Lehrrede über die Liebende Güte rezitativ singt. Weder den Geist noch das Herz kann man an- und ausschalten wie einen Lichtschalter. Sie benötigen systematische Übung in Geduld und Entschlossenheit.

Das Herz muss geübt werden, weil es nicht über die natürliche Anlage verfügt, stets nur Güte zu empfinden. Von Natur aus ist Liebe wie auch Hass in ihm. Es trägt Widerwillen, Ablehnung, Groll und Angst in sich – und auch Liebesfähigkeit. Solange wir aber im Alltag nichts unternehmen, die Liebe zu mehren und den Hass zu vermindern, haben wir keine Chance, dieses friedvolle Gefühl der Liebenden Güte zu erfahren.

Wenn man Liebe im Herzen hat – bedingungslose Liebe für andere –, verleiht dies dem Herzen Sicherheit. Man weiß, wie man reagiert. Man kann sich auf sich selbst verlassen. Man ist absolut zuverlässig und hat keine Angst. Man weiß, dass man so geübt ist, dass keine Reaktion von Hass, Zorn und ähnlichem mehr den Frieden bedrohen kann. Das ist das hervorstechendste Resultat, wenn man Liebende Güte im Herzen entwickelt hat.

Besonders dann ist es wichtig, diese Liebe entwickelt zu haben, wenn wir jemandem gegenüberstehen, der überhaupt nicht liebenswert ist. Bei dieser Gelegenheit können wir wirklich an der Umwandlung von Herz und Geist arbeiten. Dann sind wir nämlich dazu gezwungen. Die meisten kennen jemanden, den zu lieben schwerfällt. Dafür sollten wir dankbar sein. Im Rückblick kann man leicht dankbar sein. Doch im Augenblick der Konfrontation kommen all die negativen Seiten empor: Abneigung, Hass, die Rechtfertigung für unsere Abneigung und unseren Hass, Rationalisierung und Zorn. Liebevoll sollten wir gerade dann sein, wenn all diese negativen Gefühle uns überkommen. Das ist der beste Augenblick dafür.

Es ist jammerschade, wenn man solch eine Gelegenheit hat und sie ungenutzt lässt. Habt ihr gerade jetzt niemanden, der nicht liebenswert ist, dann sucht euch jemanden. Jeder Mensch gibt euch Gelegenheit, liebevoll zu sein, egal, was er oder sie ist, tut oder glaubt. Dabei spielt es keine Rolle, was die Betreffenden sagen; ob sie euch gegenüber Interesse zeigen oder ob sie sich als liebenswert erweisen oder nicht. Das alles zählt nicht. Was allein zählt, ist das eigene Herz, und das sollte man stets im Sinn behalten. Wird mein Herz liebevoll und offen, kann ich bewirken, dass es keinen Zorn und keinen Groll hegt, dann bin ich auf dem Weg des Dhamma einen großen Schritt weitergekommen. Das Dhamma will verstanden, verdaut und gelebt werden.

Uns allen bietet sich die Gelegenheit, an unseren Reaktionen auf andere zu arbeiten. Jeder begegnet dauernd anderen Menschen, und immer wieder gibt es dabei unterschiedliche Auffassungen. Wenn man seinen Mund hält und gar nichts sagt, so erwächst daraus keine Liebende Güte. Daraus erwachsen lediglich Groll, Verdrängung und Sorge. Oder es kann aus solchem Verhalten auch Gleichgültigkeit resultieren. Nichts davon ist hilfreich oder läutert uns. Der große Erfolg, dass wir zuverlässig sind und Selbstgewissheit haben, kann sich nur einstellen, wenn wir sicher sind, dass wir stets aus der ganzen Fülle unseres Herzens reagieren.

Der Buddha hat von elf Wohltaten gesprochen, die aus der Herzensgüte erwachsen. Die ersten drei sind: «Man schläft beglückt ein, hat keine schlimmen Träume und wacht beglückt auf.» Wenn jemand nur schwer einschlafen kann, ist das ein sicheres Zeichen für fehlende Herzensgüte. Schlaftabletten können da keine Abhilfe schaffen. Liebende Güte kann das. Dann wird das Unbewusste nicht länger unliebsam reagieren, und die schlimmen Träume und die Angstgefühle hören auf, und man erwacht mit demselben Gefühl, das man beim Einschlafen hatte – mit denselben liebevollen Gedanken an alle Wesen, die man auch schon am Vortag gehabt hat.

Es ist hilfreich, abends Bilanz zu ziehen. Das kann in Gedanken oder schriftlich, falls dies eurer Neigung entspricht, geschehen. Zieht Bilanz: «Wie oft war ich heute anderen Menschen gegenüber liebevoll?» Auf die andere Seite gehört: «Wie oft habe ich heute beim Zusammentreffen mit anderen Menschen Zorn, Verletztheit, Groll, Ablehnung, Furcht und Angst empfunden?» Dann zieht Vergleiche und nehmt euch vor, Änderungen vorzunehmen, wo ein Mangel herrscht. Jeder gute Ladenbesitzer zieht abends Bilanz, und falls sein Angebot bei den Kunden nicht gut ankommt, wird er es ändern.

Es handelt sich um eine Fertigkeit, die man erwerben kann, nicht um angeborenes Talent oder den Mangel daran. Die Fertigkeit besteht darin, sich so lange zu ändern, bis alle Verunreinigung beseitigt ist. Das besagt nicht, die anderen seien ganz und gar liebenswert. Sonst würden sie sich in den lichteren Gefilden aufhalten und wären nicht hier unten. Wir befinden uns auf der fünften Bewusstseinsebene von unten in einem Kosmos mit 31 Bewusstseinsebenen. Wenn wir uns auf der fünften Ebene aufhalten und es 31 Ebenen gibt – was kann man da erwarten?

Allerdings gibt es auf dieser Ebene viel zu lernen, und das ist ihr Daseinszweck. Sie ist eine Schule für Erwachsene, ohne Pause. Darin liegt die Bestimmung dieses menschlichen Daseins, nicht in Komfort, Reichtum, Wohlstand und Besitztümern; auch nicht in Ruhm oder in Weltverbesserung. Menschen haben vielerlei Vorstellungen. Doch das Leben ist die Schule für Erwachsene, und das Wichtigste, was wir dort lernen können, ist: Wir sollten unser Herz entfalten und es wachsen lassen. Es gibt nichts Wichtigeres zu lernen. Das ist so, als sei in einem Garten ein wunderschöner Rosenstrauch von Unkraut umwuchert. Dadurch werden ihm die Nährstoffe entzogen, und er kann nicht blühen. Niemand kann sich an seinen Blüten und seinem Duft erfreuen. Schließlich wird das Unkraut die Rosen ersticken. Das Gleiche geschieht in unserem Herzen. Der Rosenstrauch ist die Liebende Güte, die in ihm wächst. Schneiden wir das Unkraut nicht zurück, sondern lassen es weiterwuchern, wird die Herzensgüte völlig erstickt werden. Das Unkraut ist der Ärger und alle damit zusammenhängenden Emotionen.

 

Die meisten Menschen suchen jemanden, der sie liebt. Manche finden jemanden und sind sogar manchmal in der Lage, die Liebe zu erwidern. Aber einige haben kein Glück und finden niemanden. Sie werden verbittert und sind voller Groll. Tatsächlich funktioniert es jedoch genau andersherum: Sind wir liebevoll, so gibt es unzählige Menschen, die alle geliebt werden wollen. Wenn jemand uns liebt, bedeutet das nicht, dass wir auch lieben. Der andere empfindet Liebe. Wir empfinden sie nicht. Was wir empfinden, ist Dankbarkeit, dass uns jemand liebenswert findet. Dabei handelt es sich wieder um eine Ich-Bestärkung. Andere zu lieben verkleinert das Ego.

Je mehr Liebe wir zu geben vermögen, desto mehr Menschen können wir in sie einschließen und über desto mehr Liebe verfügen wir. Je mehr Liebe wir hervorbringen, desto mehr tragen wir in uns. Das ist eine ganz einfache Gleichung, doch nur wenige Menschen sehen das so. Alle suchen nur nach noch mehr Menschen, die ihnen Liebe schenken. Das ist widersinnig. Aber in unserem Leben gibt es so viele Absurditäten.

Das entspricht einer anderen der elf Wohltaten, von denen der Buddha gesprochen hat: «Man wird von menschlichen und nichtmenschlichen Wesen geliebt.» Dehnen wir unsere Liebe auf andere aus, fühlen sie sich von uns angezogen. Es herrscht kein Mangel an Menschen, die uns lieben. Wir lieben sie nicht deshalb, weil wir ihnen etwas geben wollen, nicht, weil sie es brauchen; nicht, weil sie es wert sind, sondern einzig und allein weil unser Herz geschult ist, nichts anderes zu tun. Nehmen wir an, ihr seid im Rechnen geübt. Gibt man euch eine Reihe von Zahlen vor, werdet ihr sie addieren können. Wie sonst könntet ihr das Resultat herausfinden? Euer Geist wurde dementsprechend geschult. Wurde das Herz geschult, dann wird es Liebe ausströmen, gleichgültig was passiert.

«Die Devas beschützen uns.» Devas sind Wesen von anderen Daseinsebenen, Schutzengel. Jemand, der seine Liebe auf andere ausdehnt, wird beschützt. Manch einer wird dagegenhalten: «Behandeln dich andere schlecht und du reagierst mit Liebender Güte, dann werden sie dich für einen Weichling halten und dich übervorteilen.» Tun sie das – und das ist wahrscheinlich, weil Menschen nun mal so veranlagt sind –, dann führt das zu schlechtem Karma. Aber ein gütiger Mensch kann niemals verlieren. Wie könntet ihr die Liebe verlieren, die ihr im Herzen tragt? Übervorteilt euch jemand, dann ist das wieder ein Augenblick, in dem sich erweist, was euer Herz gelernt hat. Empfindet ihr Groll, oder könnt ihr dem Betreffenden tatsächlich liebevoll und mit Herzensgüte begegnen? Wir können überprüfen, ob wir unsere Arbeit getan haben oder nicht. Natürlich schließt Liebe die Rücksichtnahme auf die Rechte der anderen ein. Einem Menschen, der andere übervorteilt, mangelt es an Liebe. Die Angst, Nachgiebigkeit zu zeigen, ist ein Trugschluss, weil Liebe Kraft gibt und nicht schwächt. Jemand, der von Liebender Güte erfüllt ist, fühlt sich sicher und beschützt, vollkommen unbeschwert, weil nichts und niemand ihn erschüttern kann. Liebe macht stark, nicht schwach. Ist sie jedoch mit Leidenschaft verknüpft – oft wird fälschlich angenommen, dies müsse der Fall sein –, dann schwächt sie, weil sie Abhängigkeit erzeugt. Nur wenn man sie im eigenen Herzen empfindet und sie dort entwickelt hat, wird sie ein Fels in der Brandung sein. Der Schutz, der einem dann zuteil wird, beruht auf der eigenen Lauterkeit.

«Der Geist ist schnell gesammelt.» Dies ist eine andere der elf Wohltaten, die durch Liebende Güte entstehen. Aus diesem Grund beginnen wir jede Meditationssitzung mit liebevollen Gedanken an uns selbst. Der Geist kann sich nicht sammeln, ohne die drei Grundlagen geschaffen zu haben: Gebefreudigkeit, ethisches Verhalten und Liebende Güte. Das sind die drei Säulen der Meditation, auf sie stützt sich die Meditationspraxis. Damit wir uns sammeln können, ist es absolut unverzichtbar, Herzensgüte zu empfinden. Denn sie ruft im Geist Ruhe und Frieden hervor. Mangelt es daran, so können uns zusätzliche Herzensgüte-Meditationen bei Beginn jeder Sitzung helfen, diese Liebende Güte zu entwickeln.

Liebt man sich nicht, kann man unmöglich andere lieben. Sich selbst zu lieben heißt aber nicht, sich zu verwöhnen. Es bedeutet nicht, dass man es ununterbrochen sehr bequem haben muss, keine Mücken duldet und immer nur das essen will, was man gewohnt ist. Das ist Verzärtelung und keine Liebe. Das ist Dummheit. Die Liebe, die eine Mutter für ihr Kind empfindet, ist von Weisheit durchdrungen. Verwöhnt sie das Kind, wird es später teuer dafür zahlen müssen und die Mutter ebenfalls. Eine wirklich liebende Mutter wird ihr Kind nicht verwöhnen. Sie wird es mit Liebe und Weisheit erziehen und – aus Liebe – verlangen, dass es sich an gewisse Verhaltensrichtlinien hält. So müssen wir auch mit uns verfahren. Wir müssen einige Verhaltensregeln beachten, weil wir uns selbst lieben. Zu einem Meditationskurs kommen und die Sitzungen bis zum Schluss mitmachen – das ist sich selbst lieben.

Die Sammlung, die jeder Meditierende erreichen möchte, beruht wirklich auf Liebender Güte. Ebenso beruht sie auf Übung. Wo es an Übung fehlt, kann stattdessen jedoch Herzensgüte diese Sammlung ermöglichen.

«Man hat ein strahlendes Aussehen.» Das bedeutet, man hat einen liebenswürdigen Gesichtsausdruck. Das bringt weit mehr für unser gutes Aussehen, als alle Kosmetik die man in der Drogerie kaufen kann. Wer sich wünscht, schön wiedergeboren zu werden, braucht diese Zutat. Ein junger Mensch kann gut aussehen, ohne dass viel Schönheit in ihm ist. Ist man aufmerksam, kann man jedoch oft auch die wirkliche Schönheit eines Menschen erkennen. Der Buddha hat auf manche Menschen so großen Eindruck gemacht, dass sie ihm gefolgt sind und seine Schüler wurden, nachdem er nur einmal an ihnen vorbeigegangen war. Rahula, des Buddhas Sohn, war einmal stolz darauf, dass er so schön wie sein Vater aussah. Sofort wies der Buddha ihn zurecht, indem er sagte: «Jegliche Erscheinungsform sollte man folgendermaßen betrachten: Das gehört nicht mir, das bin nicht ich, das hat keine Substanz.»

Eine andere der elf Wohltaten ist: «Feuer, Gift und Pfeile werden einen nicht verletzen.» Heutzutage benutzen die Menschen kaum noch Pfeile, statt dessen benutzen sie Pistolen oder Knüppel. Feuer und Gift finden aber immer noch Verwendung. Hier ist nicht unbedingt gemeint, dass man unüberwindlich wird, sondern dass Menschen mit viel Herzensgüte sich normalerweise nicht mehr in derartigen Situationen wiederfinden. Geschieht es dennoch, dann ist ihr Herz davon nicht betroffen. Vielleicht ihre Besitztümer, doch nicht ihr Herz. Im Herzen ist man unüberwindlich, weil man nicht mehr hassen kann.