Buddha ohne Geheimnis

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2. Mitgefühl (karunā)

Der zweite unserer vier Freunde ist Mitgefühl (karunā), sein ferner Feind, das liegt auf der Hand, ist Grausamkeit. Der nahe Feind ist abermals zum Verwechseln nahe: Mitleid.

Mitleid ist eine Gefühlsregung, bei der wir uns selber für intakt halten und überzeugt sind, nur der andere leide, und deshalb tut er uns Leid. Bei Mitgefühl dagegen wissen wir, was es heißt zu leiden, und können mitfühlen mit anderer Menschen Leid. Wir fühlen uns eins mit ihnen, unbekümmert darum, wer sie sind, welcher Hautfarbe, Herkunft, Nationalität, ob sie zu uns passen oder nicht, das Gleiche tun, denken und glauben wie wir – die kann man sowieso mit der Lupe suchen! Der tiefe Unterschied zwischen Menschen tritt erst auf, wenn einer den Noblen Achtfachen Pfad gegangen ist und für einen Augenblick Nibbāna gesehen hat, also – in buddhistischer Terminologie – ein »Nobler« geworden ist, im Gegensatz zum »Weltling«. Zwischen Weltlingen gibt es keinen wirklichen Unterschied, und der zwischen Weltling und Noblem ist auch insofern unerheblich, als jeder Weitling ja die Möglichkeit in sich hat, ein Nobler zu werden.

Aus Mitgefühl erwächst bedingungslose Liebe. Auch sie braucht natürlich das Verstehen, dass es in Wirklichkeit gar nicht »ich« und »du«, »wir« und »sie« gibt, sondern einfach nur menschliche Lebewesen, wie ich eines bin. Jegliche Entfremdung und Abgrenzung geschieht aus Angst. Sie ist nur zu überwinden, wenn wir immer weiter und tiefer ihrer Natur nachgehen und ergründen, woher sie rührt. Es steckt in jedem Menschen eine tiefe und irrationale Angst vor dem Tod. Irrational deshalb, weil wir Angst vor etwas haben, das in jedem Fall eintreten wird. Darum ist es so wichtig, sich mit dem Tod bekannt zu machen und anzufreunden und ihn so zu sehen, wie er wirklich ist.

Stellen Sie sich einmal vor, es gäbe keinen Tod, jemand garantierte Ihnen noch 5.000 Jahre irdischen Lebens. Würden Sie sich darüber freuen? Vermutlich nicht. Und doch hat jeder Angst vor dem Tod. Jeder! Wer von sich meint, er habe nur Angst vor dem Tod seiner Lieben, nicht vor seinem eigenen, stelle sich mitten auf eine Autobahn; man kann als gegeben annehmen, dass er dabei Todesangst empfinden würde. Diese Angst vor dem Tod zeigt sich in einer ständigen Angst vor kleinen Toden, nämlich den kleinen Toden des Ich, die wir alle kennen: dass unser Ich herabgemindert, nicht anerkannt, nicht geliebt und gelobt wird, nicht erwünscht ist, dass uns jemand beschimpft, kritisiert, zur Rede stellt, wegläuft – Angst, die uns dazu bringt, uns von den Menschen zurückzuziehen. Wir manövrieren uns in eine künstliche Vereinsamung hinein, in eine Leere, in der wir nicht einen einzigen Augenblick glücklich sein können, es sei denn, wir begnügten uns mit dem trügerischen Glück der Sinnesvergnügungen. Obwohl es uns selber unglücklich macht, lassen wir nicht davon ab, das zu tun, was alle Länder tun: Grenzen zu errichten und sie zu verteidigen, um uns zu schützen – Grenzen um den einen Einwohner »Ich«. Grenze bedeutet Waffen und scharfe Kontrollen davon, dass nur Befugte ins Land kommen. Und beim kleinsten Zwischenfall werden sofort Angriffsmaßnahmen getroffen, bis dahin heißen sie »Verteidigungsmaßnahmen«. Die Länder der Welt spiegeln die Menschen der Welt wider, so wie jeder Einzelne von uns die ganze Menschheit widerspiegelt. Wir verteidigen also unsere Grenzen, um uns, den Insassen, zu schützen. Aber wenn wir pausenlos mit Verteidigung befasst sind und diese Grenzen stets als unsere betrachten, sind wir nie mit Mitgefühl, Miterleben befasst. Zusammensein geschieht dann nie, wir sind immer allein. Unsere Abkapselung als fixe Idee zu erkennen, die uns daran hindert, glücklich zu sein, und an ihrer Beseitigung zu arbeiten, bringt mehr und mehr Mitgefühl. Aber es kommt nicht von selber, wir müssen wirklich an uns arbeiten.

Liebende Güte und Mitgefühl sind die beiden Empfindungen, an denen es im menschlichen Miteinander am meisten fehlt. Das heißt nun nicht, wir sollten Liebe und Mitgefühl mit dem Vorsatz entwickeln, andere zu beglücken, das wird dann die natürliche Folge sein; uns selber bringt es Glück und innere Stärke, die nicht mehr von außen bedingte Basis für Ruhe und Frieden. Solange Ruhe und Frieden jedoch davon abhängen, was andere Leute machen, oder von unseren schwankenden Gefühlen, solange sind wir in einem Sklavenverhältnis. Ein Sklave ist immer seinem Herrn ausgeliefert. Leider sind wir uns darüber im Allgemeinen gar nicht im Klaren. Wir sprechen von »Women’s Lib«, von Frauenbefreiungsbewegung, und inzwischen auch schon von Männerbefreiungsbewegung; sprechen von Befreiung aus Gewalt-, Feudal-, totalitärer Herrschaft. Selbstverständlich ist es gut, wenn Gerechtigkeit herrscht. Aber Freiheit kommt davon nicht. Freiheit kann nur im eigenen Herzen sein. Wir sind erst dann frei, wenn wir ein Glück erleben, das unabhängig ist von dem, was um uns herum geschieht. Es ist noch nie einem Menschen gelungen, dass alles um ihn herum nach seinen Wünschen war. Das gibt es nicht! Auch der Buddha wurde angefeindet, verleumdet; Jesus gekreuzigt. Glück aber – und es gibt keinen, der es nicht sucht –, kann man finden: in der Herzensreinheit. Denn Liebe und Mitgefühl sind reine Empfindungen. Sie sind jedem möglich. Das meint der viel zitierte Ausspruch »Wir haben alle Buddha-Natur«. Ja, wir haben die Möglichkeit der Reinheit. Wir müssen uns nur darum bemühen. Dabei ist von großem Wert, ein Ideal vor Augen zu haben, an dem wir uns ausrichten können. Aber nicht anbeten! Das bringt nichts, es verleitet bloß dazu, weiter nichts zu tun. Dem Ideal dankbar sein, Respekt vor ihm haben, es lieben – das öffnet das Herz. Der Buddha als Ideal hat nur einen Sinn: den der Nachahmung.

Aus Mitgefühl mit den Göttern und Menschen hat der Buddha in den 45 Jahren seines erleuchteten Lebens Tag für Tag gelehrt, auch wenn er krank war. Rund 17.500 Lehrreden sind überliefert. Es heißt, er habe jeden Morgen das »Netz« seines Mitgefühls ausgeworfen, um darin einen Menschen zu »fangen«, dem er an diesem Tag helfen könnte. Gemeint ist seine Hellsicht, mit der er sehen konnte, wer seine Hilfe nicht nur brauchte, sondern aus ihr auch Nutzen ziehen würde. Oft war er dazu stundenlang unterwegs, und immer ging er zu Fuß, denn er wollte sein Gewicht nicht den Zugtieren aufbürden.

3. Mitfreude (muditā)

Sie ist das beste Gegenmittel gegen Depressionen. Wer oft depressiv oder missgestimmt ist, leidet in Wahrheit nur an der Unfähigkeit zur Mitfreude. Aber wir neigen ja dazu, den Grund für unser Leiden in den Umständen zu suchen, die uns entweder zustoßen oder mangeln. Natürlich wäre es töricht zu erwarten, dass wir selber pausenlos Erfreuliches erleben. Aber jeder kennt genügend Menschen oder hat die Chance, welche kennen zu lernen, mit den heutigen Kommunikationssystemen sogar weltweit, denen irgendetwas Freudiges widerfahren ist. Auch hier: Wenn wir die Grenzen fallen lassen zwischen uns und anderen und uns als Teil eines Ganzen fühlen, können wir, wie des anderen Leid, auch seine Freude als unsere eigene empfinden. Das verkleinert unser Ego.

In Nordostthailand besuchte ich einmal ein kleines Dorf; an dessen Tempel ist eine besondere Glocke angebracht, die nur geläutet wird, wenn einer im Dorf etwas Erfreuliches erlebt hat, zum Beispiel eine gute Ernte, die Geburt eines Kindes, ein günstiges Geschäft, einer hat sein Dach neu gedeckt. Was immer es sein mag, worüber sich einer freut: Er geht diese Glocke läuten. Und alle Bewohner – es ist ein sehr kleines Dorf, jeder kann die Glocke hören – kommen aus ihren Häusern und sagen sādhu! sādhu! sādhu! das heißt gut gemacht! Derjenige, der die Glocke geläutet hat, hat gutes Karma gemacht, weil er den anderen Grund zur Mitfreude bot. Und die, die sādhu rufen, haben gleichfalls gutes Karma gemacht, weil sie sich mit ihm gefreut haben. Das ganze Dorf hat also Anteil an dem Glück, das einem von ihnen zufällt.

Hierzulande gibt es solche Glocken nicht. Wir müssen unsere eigenen Glocken läuten: uns erinnern. Und das ist auch die Funktion eines Lehrers: zu erinnern. Alles, was ich sage, weiß man sowieso; wäre dieses Wissen nicht in uns, stünde es uns so fern wie zum Beispiel eine Fremdsprache, die zu erlernen uns zu schwer vorkommt. Die Herzenssprache ist keine Fremdsprache. Die Herzenssprache ist jedem eigen, jeder kann sie verstehen, ganz gleich, welche andere Sprache er spricht. Aber wir müssen erinnert werden. In der Hitze des Gefechts vergessen wir immer all das, was wirklich wichtig ist. Weil wir nicht genügend Achtsamkeit haben. Achtsam sein heißt nicht nur, auf sich selber aufzupassen, sondern auch zu verstehen, was man mit sich anfangen soll.

Der ferne Feind der Mitfreude ist Neid; der nahe Feind Heuchelei. Sie ist üblich in unserer Gesellschaft. Wir sagen nicht immer, was wir denken, und bilden uns noch ein, wir seien glaubwürdig, der andere merke es nicht. Der merkt es sehr wohl! Man erkennt nämlich die Schwingungen, die einer »sendet«. Man muss es uns nicht eigens sagen, wir erfassen sofort, wenn jemand wütend ins Zimmer kommt; wir spüren, ob einer liebevoll neben uns sitzt oder ständig auf einem Ärger rumkaut. Nicht nur für andere, auch für uns selber ist unsere Heuchelei durchsichtig, wenn wir es nur wissen wollen; wir ertappen uns dann selber bei einer Lüge – wieder einmal waren wir nicht zuverlässig.

Nehmen wir einmal an, unser Nachbar habe den Hauptgewinn in der Lotterie gewonnen. Wir gehen ihm gratulieren, das gehört sich schließlich. Wir kommen an seiner Garage vorbei – zwei Mercedes und ein Boot, Donnerwetter! Kaum öffnet unser Nachbar die Wohnungstür, stechen uns nagelneue Möbel und kostbare Teppiche in die Augen. Neid steigt auf: »Der braucht das viele Geld doch gar nicht! Warum passiert mir sowas nie?« Dabei schütteln wir ihm die Hand und gratulieren ihm »herzlich« zu seinem großen Glück.

 

Ein Elefantentrainer klagte einmal dem Buddha: Wenn er es mit Elefanten zu tun habe, wisse er genau, was die vorhaben. Die Menschen aber, mit denen er es zu tun habe, machten das Gegenteil dessen, was sie sagen.

Der Buddha gab ihm Recht: »Der Elefant lebt körperlich im Dschungel, aber der Mensch lebt im geistigen Dschungel.«

4. Gleichmut (upekkhā)

Der ferne Feind von Gleichmut ist Unruhe, Sorge, Aufregung. Beim nahen Feind aber ist der Unterschied sehr schwer zu erkennen; es ist die Gleichgültigkeit. Sie ist genau das Gegenteil von Gleichmut. Sie kennt weder Liebe noch Mitgefühl, sondern verstärkt die Grenzpfosten, den Stacheldrahtverhau um unser Ich: »Mir ist ganz egal, was ringsum passiert, ich will es gar nicht erst wissen, lasst mich in Ruhe, stört mich nicht!« Der Gleichgültige hat keine Empfindung dafür, Teil eines Ganzen zu sein. In Gleichgültigkeit steckt Kälte, aber auch Härte. Denn wer sich ängstlich vor allem hütet, das ihn ins Herz treffen und ihm weh tun könnte, muss verhärten. Gleichmut bedeutet aber nicht Unterdrückung unserer Gefühle; dann lernten wir sie ja nicht kennen, würden uns innerlich verkrampfen und wären unfähig zu lieben. Gleichmut unterdrückt die Gefühle nicht, aber er drückt sie auch nicht aus. Er erkennt sie und weiß dank dem inneren Klarblick sofort, dass er ihnen nicht mit Widerstand, Unruhe, Anhaften oder Leidenschaft antworten muss. Gleichmut ist die durch Übung erworbene Fähigkeit, auf Gefühle mit Weisheit und Verständnis zu reagieren. Er beruht auf der durch Meditation gewonnenen Einsicht, dass nichts so bleibt, wie es ist, es sich also gar nicht lohnt und sinnlos ist, sich aufzuregen. Das bedeutet nicht, unsere Urteilskraft einzubüßen, im Gegenteil, sie wächst mit dem Gleichmut. Ohne Gleichmut sind wir unser eigener Feind; ob wir nach außen oder lediglich im Inneren negativ reagieren: Wir schaden uns selber, machen uns selber unglücklich.

Gleichmut glättet die Wogen in unserem Inneren, die uns abwechselnd in die Höhe heben – »himmelhoch jauchzend« – und in die Tiefe stürzen lassen – »zu Tode betrübt«. »Glücklich allein … .«8 ist der Mensch, der das erfährt, wahrlich nicht. Denn dieses Auf und Nieder wie auf einer Wippe gibt ein Gefühl von Unsicherheit: Man weiß ja, dass jedem Auf ein Ab folgt und dass es weh tut, wenn die Wippe wieder auf den harten Boden aufschlägt. Gleichmut hält uns in der Mitte, wo es weder hinauf noch herunter geht. Das heißt nun nicht, er wäre freudlos, im Gegenteil; er ist begleitet von einer steten inneren Freude, die keine Wellen schlägt, sondern Wärme verbreitet, eine wohlige innere Wärme.9

Liebende Güte, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut sind die einzigen Gefühle, die uns nützen und helfen und die wir kultivieren müssen. Wenn wir sie zur Basis unseres Lebens machen, können wir alle anderen Emotionen leicht loswerden, denn die sind samt und sonders nichts anderes als Störenfriede: Sie stören unseren Herzensfrieden.

II
Karma10 und Wiedergeburt

Das Thema »Karma und Wiedergeburt« erfreut sich besonders bei intellektuellen Buddhisten großer Beliebtheit. Viele Menschen meinen, es lasse sich abstrakt abhandeln und habe mit ihrem täglichen Leben nichts zu tun. Aber da irren sie sich. Alles, was der Buddha gelehrt hat, betrifft uns ganz persönlich aufs Tiefste.

Die Lehre von Karma und Wiedergeburt stammt nicht vom Buddha; er hat sie aus den Veden übernommen, nachdem er selbst sie als richtig erkannt hatte. Aber er hat sie viel detaillierter und auch etwas anders erklärt als damals in Indien üblich, wo zwei Versionen im Umlauf waren: Die einen Lehrer setzten Karma mit Schicksal gleich: Man könne nichts daran ändern, so wie es sei, müsse man es hinnehmen, und alles sei schon vorherbestimmt. Die anderen behaupteten, es sei ganz egal, was man mache, es entstünden daraus sowieso keine Folgen. Der Buddha erkannte beide Dogmen als gefährlich falsch.

Er lehrte den Zusammenhang von Ursache und Wirkung. »Karma, ihr Mönche, erkläre ich, sind die Absichten.« Karma kann wörtlich mit »Taten« übersetzt werden. Aber es sind die Absichten – das, was wir absichtlich denken, sprechen, tun –, die entsprechende Wirkungen zur Folge haben, je nachdem gute, mittelmäßige, schlechte oder neutrale. Sich hinzusetzen und zu meditieren zum Beispiel bringt wegen der guten Absicht gutes Karma, unabhängig davon, ob Konzentration aufkommt oder nicht. Oft genug sind wir uns über die wahren Motive unseres Handelns gar nicht im Klaren, trotzdem ist uns die Wirkung sicher. Karma ist etwas, das jeden in jedem Augenblick seines Lebens betrifft. Unser bisheriges Karma hat uns zwar zu einem bestimmten Punkt im Leben gebracht, aber jeden Moment haben wir von Neuem die Wahl, und die wiederum bringt unser neues Karma. Dank unseres Karma hatten wir überhaupt die Wahl, zu diesem Meditationskurs zu kommen oder nicht. Weit mehr Menschen wussten gar nichts davon, es war also nicht ihr Karma, vor dieser Wahl zu stehen. Dass wir gekommen sind, war gutes Karma. Jetzt, da wir hier sind, können wir wählen, ob wir bei der Meditation Zukunftsträumen oder Erinnerungen nachhängen oder den festen Entschluss fassen, uns zu konzentrieren. Wir können die Lehre, die wir hören, an uns vorbeiplätschern lassen oder aber uns bemühen, sie zu verstehen, ihr zu vertrauen, sie uns zu merken, tiefer in sie einzudringen, um am Ende ihr gemäß zu leben. Mit anderen Worten: Wir haben freie Wahl innerhalb der Grenzen unseres vorhergehenden Karma, also aufgrund der Möglichkeiten, die wir uns selber geschaffen haben. Jede richtige, gute Wahl bringt weitere Öffnungen, größere Möglichkeiten. Es ist, als wohnten wir in einem Haus mit vielen Türen und Fenstern. Wenn wir die richtige Wahl treffen, können wir durch viele Fenster hinausschauen und durch viele Türen hinausgehen. Wenn wir eine schlechte Wahl treffen, landen wir womöglich eines Tages in einer Gefängniszelle und müssen untätig abwarten, bis man uns hinauslässt. Das ist im übertragenen Sinne, unter Umständen aber auch ganz wörtlich zu verstehen. Wir wundern uns, wieso es manche Menschen so leicht haben, in der Welt herumzukommen, interessante Bekanntschaften zu machen, Außergewöhnliches zu erleben; und andere sitzen nur zu Hause und fühlen sich eingeengt. Das alles hat mit Karma zu tun. Es bedarf großer Achtsamkeit, unter der Fülle unserer Möglichkeiten, die zudem ständig zunimmt, immer gut zu wählen. Wir müssen jeden Augenblick auf der Hut sein. Nicht nur, wenn große Entscheidungen anstehen.

Es gibt natürlich auch neutrales Karma. Ob Sie sich ein grünes oder blaues Kleid kaufen, eine Wand rot oder gelb anpinseln, hat vermutlich keine nennenswerten Folgen. Zu mehr oder minder schwer wiegenden Ergebnissen führt alles, was Einfluss auf unser Leben hat, und am schwersten wiegen unsere stärksten Taten, zum Beispiel jemanden töten oder ein Kloster gründen.

In buddhistischen Ländern wird oft Gutes getan um der guten Folgen willen. Man spendet zum Beispiel einem Waisenhaus in der Hoffnung auf eine gute Wiedergeburt. Obwohl das, weil immer noch ich-bezogen, nicht der ideale Grund ist, ist es tausend-, ja hunderttausendmal besser, als die Tat bleiben zu lassen. Gutes nicht zu tun und darauf zu warten, dass einem eines Tages Großzügigkeit von selber zuwachse, ist genauso verfehlt wie abzuwarten, bis man eines schönen Morgens mit einem Herzen voll Liebe aufwache. Es bedarf eines Entschlusses. Die ideale Weise ist natürlich, Gutes zu tun um des Guten willen. Dazu sind aber die wenigsten Menschen imstande. Deshalb müssen wir unser eigener Behüter sein, durch Achtsamkeit auf die Gedanken. Wir machen Karma durch unsere drei »Tore«, die drei Möglichkeiten, mit unserer Umwelt in Kontakt zu treten: unsere Gedanken, Worte und Taten. Die Taten sind zwar das stärkste, aber sie werden von den Gedanken geleitet; auf die müssen wir also am meisten aufpassen. Wenn uns der Gedanke schon entschwunden ist, dann auf die Worte und zuletzt auf die Tat.

Wer zum Beispiel in seiner Wut denkt: »Wenn dieser Mensch mir noch einmal in die Nähe kommt, bring ich ihn um! Ich kann ihn nicht ausstehen!« und es bei diesem einen Gedanken belässt, hat zwar schlechtes Karma des Gedankens gemacht, aber die Wirkung ist nicht weiter schlimm. Anders freilich, wenn er die Beherrschung verliert, öfters und öfters und schließlich aus Gewohnheit so denkt. Hat er diesen Gedanken nicht nur, sondern spricht ihn vor Zeugen auch aus, hat er schon viel stärkeres Karma gemacht, denn er hat den Gedanken durch Worte bestätigt, und andere wurden gewahr, was er im Sinn hat. Lässt er jetzt aber auf Gedanken und Worte die Tat folgen, dann zeigt sich die Wirkung sofort: Er kommt ins Gefängnis.

Bei großen Dingen dauert es oft lange, bis das ganze Maß ihrer Auswirkungen zutage tritt, einer sehr langsam wachsenden Pflanze vergleichbar. Bei kleinen Dingen bekommt man die Folgen sofort zu spüren. Ob Sie sich mit jemandem zanken oder ihm in Liebe begegnen – auf der Stelle fühlen Sie sich elend oder gut; das ist sozusagen »Instant-Karma«. Da unser Leben ja nicht aus wenigen schwergewichtigen Ereignissen besteht, vielmehr aus einer Unzahl kleiner Handlungen, sind sie es, auf die wir besonders aufpassen müssen. Sie sind das Erbe, das wir antreten, Sekunde für Sekunde. Dass Milliarden und Abermilliarden winziger Momente unser Leben ausmachen, entgeht den meisten Menschen. Sie lassen sie ungenutzt verstreichen oder reagieren instinktiv.

Wenn wir einmal das Gesetz des Karma – das ein Naturgesetz ist, dem jeder unterworfen ist –, nicht lediglich für eine interessante östliche Lehre halten, sondern in uns aufnehmen als etwas, das uns zutiefst betrifft, werden wir wohl von selbst vorsichtiger in unserem Denken, Sprechen und Handeln.

Was wir gewohnheitsmäßig denken, wird zu unserem Charakter. Und wie unser Charakter sich bildet, so machen wir Karma und so sind die Wirkungen, die wir im Leben erwarten können. Deshalb ist es so wichtig, immer und immer wieder liebende Güte in die Gedanken zu bringen, unabhängig davon, ob man konkret jemanden liebt oder nicht. Es gibt uns die Möglichkeit, unsere Gedanken- und Gefühlswelt umzuformen.

Stellen Sie sich vor, auf einem aufgeweichten Feldweg fahre ein Traktor hin und her, immer in derselben Spur. Jedesmal sinkt er ein bisschen tiefer ein, bis er schließlich im Schlamm stecken bleibt. Damit vergleichbar sind die Furchen in unserer Gedankenwelt. Wir sagen ja auch, jemand sei »festgefahren« in seinem Denken, seinen Meinungen. Die Lehre des Buddha und die Meditation verhelfen uns dazu, neu zu denken, anders als gewohnt zu denken und uns aus den engen Gängen althergebrachten Denkens herauszuarbeiten.

Karma bezieht sich also nicht, wie es fälschlicherweise oft verstanden wird, lediglich auf die vorhergehende und künftige Existenz. Es stimmt zwar, dass wir etwas mitbringen, und es stimmt auch, dass wir etwas mitnehmen. Am meisten aber berührt uns das Karma, das in diesem Leben geschieht. Die meisten Auswirkungen, die wir in diesem Leben zu spüren bekommen, stammen ohne Frage von Absichten, die wir in diesem Leben hatten. Wir brauchen uns also nicht, wie es inzwischen Mode geworden ist, über vergangene Leben den Kopf zu zerbrechen. Wir haben mit diesem gegenwärtigen Leben vollauf genug zu tun, ja sogar mehr, als viele verkraften können. Der Grund, warum frühere Leben unserem Gedächtnis im Allgemeinen nicht zugänglich sind, ist der, dass wir absichtlich vergessen. Wir haben genug dukkha in diesem Leben; noch das dukkha früherer Leben dazu zu wissen, wäre ein bisschen viel.

Wir brauchen nur auf unser bisheriges Dasein zurückzublicken, um ganz deutlich zu sehen: War bei großen, wichtigen Entscheidungen der Entschluss gut, war es das Ergebnis auch und umgekehrt. Ein jeder Entschluss, der sich im Nachhinein als nicht heilsam erweist, ist nicht mehr und nicht weniger als eine Lehre fürs nächste Mal. Es hat keinen Sinn, darüber nachzugrübeln und sich dafür zu tadeln. Denn, so sagt der Buddha, der Mensch, der das Karma gemacht hat, ist nicht derselbe, der die Resultate bekommt, aber auch kein ganz anderer. Es ist wie bei einem Fluss; Baumstämme, die irgendwo hineingeworfen werden, treiben auf demselben Fluss bis zur Mündung; aber man kann nicht sagen, sie seien noch an derselben Stelle und berührten noch dasselbe Wasser wie beim Hineinwerfen; sie schwimmen ja im Fluss. Und der kann überhaupt nur »Fluss« genannt werden, weil er ständig fließt, sonst wäre es ein Binnengewässer. Genauso wir. Nur weil sich ständig alles in uns ändert, können wir »Mensch« genannt werden, sonst wären wir ein menschlicher Leichnam. Also kann unmöglich derselbe Mensch, der das Karma gemacht hat, auch das Karma-Resultat bekommen und derselbe Mensch wiedergeboren werden. Was wiedergeboren wird, sind die Karma-Resultate. Und der Mensch, der sie bekommt, ist jener Stelle im Fluss vergleichbar, an der ein Stück Holz – weil es hineingeworfen wurde – angekommen ist.

 

Karma ist ein vollkommen unpersönlicher Prozess. Es hat Kontinuität, aber keine Individualität: Wie ein roter Faden läuft Karma durch unser jetziges und die vergangenen und zukünftigen Leben.

Ich bin der Eigentümer meines Karma11, das heißt: seiner Resultate. Und das bedeutet: Ich muss die volle Verantwortung für mich übernehmen, darf meine Defekte nicht anderen Menschen oder den Umständen ankreiden. Zweifellos ist es viel bequemer, die Schuld außen abzuladen – »die schwere Jugend, die lieblosen Eltern, der schwierige Partner, die harten Zeiten, Sorgen im Geschäft, die Regierung, das Wetter …« –, statt innen genau hinzuschauen. Die Eltern für unsere Schwierigkeiten verantwortlich zu machen, ist ein Zeichen von Blindheit, denn nicht sie haben uns, wir haben sie gewählt. Unser eigenes Karma bestimmt, wohin wir in unserer Geburt kommen, wir suchen uns den Platz aus: Wir werden von unserem Karma geboren. Das besagt ferner, dass wir es unserem Karma zu verdanken haben, wenn wir als Mensch geboren werden – was eine erstklassige Geburt ist! Leider sind die wenigsten imstande, dieses seltene Privileg zu erkennen und zu würdigen.

Als der Buddha einmal mit seinen Mönchen am Meeresufer spazieren ging, gab er ihnen folgendes Gleichnis: »Stellt euch vor, ihr Mönche, dass eine blinde Schildkröte in allen Weltmeeren umherschwimmt, desgleichen ein hölzernes Joch. Diese blinde Schildkröte kommt alle hundert Jahre nur ein einziges Mal an die Oberfläche, um Luft zu schnappen. Haltet ihr es für möglich, dass sie jemals ihren Kopf durch das hölzerne Joch stecken wird?« – »Nein, Herr, das ist ganz unmöglich! Ganz ausgeschlossen ist es, dass die beiden einmal zur selben Zeit an derselben Stelle sein sollten.« – »Unmöglich ist es nicht, ihr Mönche; es ist unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Und dieselbe Unwahrscheinlichkeit besteht für die Wiedergeburt als Mensch.«

Nun gar als ein Mensch geboren zu werden, dessen Glieder und Sinne intakt sind und der nach dem Guten sucht, nannte der Buddha eine der sechs Seltenheiten, die es auf der Welt gibt.

Wenn wir also meditieren und uns bemühen, die Buddha-Lehre zu verstehen, ist wohl anzunehmen, dass wir nach dem Guten suchen. Wir gehören also zu einer winzigen Minorität von Menschen, die sich auf eine Stufe emporgearbeitet haben, die nicht nur Privilegien, sondern auch Verantwortung bedeutet. Unser Privileg ist, nicht hungern und frieren zu müssen, von fundamentaler Existenznot befreit zu sein – eine große Seltenheit auf diesem Erdball, auf dem die Mehrzahl aller Menschen ums nackte Überleben kämpfen muss. Unsere Pflicht ist es, wirklich den Weg des Guten zu gehen und die Naturgesetze – in diesem Fall das Naturgesetz des Karma – als unsere eigenen anzunehmen. Jeder, der den Weg des Guten geht, hilft dadurch anderen. Aber wir können anderen erst dann helfen, wenn wir uns selber geholfen haben. Das Gute in der Welt hält sich mit dem Bösen ungefähr die Waage, mal überwiegt das eine, mal das andere. So wie wir mit uns umgehen, so geht auch die Welt mit uns um.

Karma kann zwar nie gelöscht werden, aber es kommt unter Umständen nicht zur Auswirkung, weil wir ihm keine Chance dazu bieten. Haben wir zum Beispiel weit zurückliegendes schlechtes Karma, wandeln aber unsere Lebensweise ganz zum Guten, dann kann es sein, dass das alte schlechte Karma einfach ohne Wirkung abstirbt; es verjährt.

Wer seine Abende in Kneipen zubringt, gerät dort möglicherweise einmal in eine Schlägerei. War er in einem früheren Leben selber gewalttätig, wird er in diesem vielleicht das Opfer.

Wenn er in solchem Milieu gar nicht erst verkehrt, sondern, um den Gegenfall anzunehmen, in einem Kloster lebt, ist es höchst unwahrscheinlich, dass ihm dort einer mit der Bierflasche den Kopf einhaut, also das alte Karma zum Tragen kommt.

Karma gehört zu den vier Bereichen,12 die der Buddha nicht vollständig erklärt hat: Es sei zu verzwickt, als dass wir es mit unserem unzulänglichen Geist erfassen könnten, sei so verwoben wie ein Spinnennetz, bei dem sich auch weder Anfang noch Ende erkennen ließen. Wenn wir einmal den Geist so erzogen haben, dass er erleuchtet ist, werden wir es wissen.

Der Buddha, als vollkommen Erleuchteter, konnte das Karma anderer Menschen erkennen, das sie in ihre gegenwärtige Situation gebracht hat, und auch die Auswirkungen auf ein weiteres Leben.

Ich möchte Ihnen dazu die Geschichte von Mallikā13 erzählen: Sie war die Tochter eines Blumenbinders und Girlandenflechters, stammte also aus einer ganz niederen und armen Kaste. Eines Tages war sie mit zwei Freundinnen im Blumengarten vor dem Stadttor verabredet, um für ihren Vater Blumen für seine Girlanden zu holen. Jede nahm sich ihr Mittagessen mit, aber mehr als ein bisschen Reisbrei war es für Mallikā nicht. Unterwegs begegnete sie einem Mönch von so eindrucksvoller Gestalt und so strahlendem Gesicht, dass sie nicht anders konnte, als den Reis, ihre einzige Nahrung für diesen Tag, in seine Almosenschale zu geben. Der Mönch ging weiter und lächelte. Dieser Mönch war der Buddha, das wusste Mallikā aber nicht. Hinter ihm ging Ānanda, sein Vetter und Betreuer. Er wusste, dass ein Erleuchteter nicht ohne Grund lächelt, und fragte ihn: »Herr, wieso lächelst du?« – »Mallikā wird morgen Königin dieses Landes.« Ānanda stutzte: »Du musst dich irren, Herr, sie kommt aus einer ganz niederen Kaste, sie ist die Tochter eines Blumenbinders. Es ist unmöglich!«

»Du wirst sehen, Ānanda. Warte nur ab. Sie hat eine Gabe gegeben aus ihrem Herzen; und sie gab alles, was sie hatte. Davon kommen große Resultate.«

Mallikā hatte inzwischen den Blumengarten erreicht. Glück über ihre Gabe erfüllte ihr das Herz, und sie fing an zu singen. Wie sie da so zwischen den Blumen saß und sang, kam der König Pasenadi, sein Pferd am Zügel führend, in den Garten, allein und ganz niedergeschlagen, denn er hatte gerade eine Schlacht verloren. Da hörte er die schöne Stimme und ging ihr nach … und verliebte sich auf den ersten Blick in Mallikā. Er fragte sie nach ihrem Namen und ob sie verheiratet sei und schließlich, ob sie seine Frau werden wolle. Sie willigte ein, und so ritt er mit ihr nach Hause zu seinen Eltern, und am nächsten Tag wurde Hochzeit gefeiert. Die wundersame Begebenheit sprach sich in dem kleinen Land – die Königreiche waren damals alle recht klein, eher Herzogtümern vergleichbar – schnell herum, und prompt versuchten alle Leute, auch Gaben zu geben – da es doch offensichtlich zu solch traumhaften Wirkungen führen konnte.

Mallikā war nicht nur eine sehr schöne, sondern auch kluge Frau und auf das Wohl ihrer Landeskinder bedacht. Eines Tages ging sie zum Buddha; sie denke schon lange vergeblich über etwas nach, das sie ihn nun fragen wolle:

In diesem Land, in dem sie versuche, den Menschen durch soziale Einrichtungen das Leben leichter zu machen, treffe sie viele Frauen, und alle seien ganz verschieden voneinander, obwohl sie zur gleichen Zeit am gleichen Ort lebten. Manche nämlich seien schön, klug, reich und gesund; manche hässlich, klug, reich und gesund; andere hässlich, dumm, reich und gesund; wieder andere hässlich, dumm, arm und gesund; und einige seien sogar hässlich und dumm und arm und krank. Sie finde keine Erklärung dafür. Der Buddha antwortete ihr mit der so genannten Formel für die Karma-Folgen:

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