Buch lesen: «Wie zerplatzte Seifenblasen ...»

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Wie zerplatzte Seifenblasen ...

Aylin Duran


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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2020 – Herszprung-Verlag

Mühlstraße 10, 88085 Langenargen

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Lektorat: Redaktions- und Literaturbüro MTM

ISBN: 978-3-96074-346-0 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-347-7 - E-Book

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Inhalt

Ben

Ben

Lina

Cagney

Ben

Cagney

Ben

Lina

Ben

Cagney

Ben

Lina

Ben

Lina

Ben

Ben

Cagney

Ben

Lina

Cagney

Cagney

Ben

Lina

Ben

Cagney

Lina

Ben

Cagney

Lina

Ben

Cagney

Lina

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Cagney

Lina

Ben

Lina

Cagney

Ben

Lina

Cagney

Ben

Lina

Cagney

Ben

Lina

Cagney

Ben

Lina

Cagney

Ben

Die Autorin

Buchtipp

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Ben

Neun Monate zuvor

Wie die Menschen über das Leben reden, ist lächerlich. Als könnten sie etwas entscheiden. Als könnten sie etwas ändern. Die Wahrheit aber ist: Das Leben ist unfair. Es macht uns kaputt, schubst uns herum. Es schlägt uns, schlägt uns so lange direkt ins Gesicht, bis wir die Kraft verlieren, uns wieder aufzurichten. So ist das Leben.

*

Ben

Mai

Mein Kopf lehnte an der kühlen Scheibe, der Zug war in Bewegung und die Landschaft zog im Nebel an mir vorbei. Ich hörte die anderen Passagiere nicht, konzentrierte mich ausschließlich auf die Musik, die aus meinen Kopfhörern dröhnte. Der Sitz neben mir war frei, ich hatte meine Gitarre und meine Reisetaschen darauf platziert. Als Kind hatte ich Züge, Bahnhöfe und vor allem Flughäfen geliebt. Die Aufbruchsstimmung, die Unruhe – es hatte mir immer das Gefühl gegeben, nicht weit genug wegfahren zu können. Nicht genug Städte und Länder besichtigen zu können. Nicht genug Bekanntschaften machen und nicht genug fremde Orte entdecken zu können.

Dieses Gefühl ging verloren, als ich mein Zuhause verlor. Plötzlich war mein einziger Wunsch, wieder an einem Ort anzukommen, den ich ein Zuhause nennen konnte. Anzukommen.

Der Zug wurde allmählich langsamer und hielt schließlich an. Da ich nicht wusste, wo mein Ziel lag, blieb ich einfach sitzen. Wie immer würde ich auf die Endstation warten und schließlich in die Dunkelheit stolpern. Es war jeden Tag dasselbe. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie die Sitze sich leerten. Wenn ich Zug fuhr, überlegte ich mir immer, wie wohl das Leben und der Alltag der anderen Fahrgäste aussehen mochten. Zum Beispiel das Leben der jungen, gestresst wirkenden Mutter, die ihr Kind, ein kleines blondes Mädchen, hastig den Gang entlang zerrte. Sie hatte sich einige Unterlagen unter den Arm geklemmt, während der gesamten Zugfahrt hatte sie verzweifelt versucht, sie zu lesen. Doch das kleine Mädchen hatte sie mit ihrer Puppe abgelenkt. Nun sah ich den beiden beim Aussteigen zu.

Der Bahnsteig füllte sich. Ein einsam aussehender, älterer Mann mit Gehstock stieg ebenfalls aus dem Zug aus. Ich beobachtete aus dem Zugfenster, wie sich sein zittriger Griff um seine Einkaufstüte lockerte und die Tüte zu Boden fiel. Seine Einkäufe purzelten über den schmutzigen Gehsteig. Zahnpasta, eine Packung Tomaten, Dosenmais. Das Gewürzgurkenglas zerbrach auf dem Steig, der Mann bückte sich umständlich, um alles aufzuheben und die Scherben zu beseitigen. Obwohl weitere Fahrgäste ausstiegen, half ihm niemand. Nur das kleine Mädchen lief sofort auf ihn zu, wurde dann aber gleich mahnend von seiner Mutter angesehen. Alle waren in Eile, keiner hatte Zeit. Ich fragte mich, ob der alte Mann allein lebte. Ich fragte mich auch, wo der gestresste Gesichtsausdruck der jungen Mutter herrührte.

Der Geschäftsmann, der telefonierend an den Gewürzgurken auf der Straße vorbeibalancierte, hatte bereits lichtes Haar und hielt seine Aktentasche umklammert, als würde er jeden Moment in Gefahr laufen, Opfer eines Überfalls zu werden. Während er den Bahnsteig hastig verließ, warf er den rauchenden Jugendlichen unter der Überdachung misstrauische Blicke zu. Der Zug begann, wieder zu beschleunigen, und bevor ich das Geschehen weiter verfolgen konnte, waren die Mutter, ihre blonde Tochter mit der Puppe, der wichtigtuerische Geschäftsmann, der alte Mann mit Gehstock und die rauchenden Jugendlichen aus meinem Sichtfeld verschwunden.

Die Beleuchtung im Abteil ging an, draußen dämmerte es auch bereits. Ich mochte die Dämmerung und noch mehr mochte ich die Nacht. Sie beruhigte mich. Zur Nachtzeit hatte ich nie das Gefühl, den Blicken der anderen Menschen ausweichen zu müssen. Ich fühlte mich nicht beobachtet. Ich schloss die Augen und dachte an den alten Mann. Ich fragte mich, ob er traurig war. Schließlich waren die meisten einsamen Menschen auch unglücklich. Die Lautsprecher quietschten und ich zog hastig die Kopfhörer aus meinen Ohren, um die Durchsage verstehen zu können, obwohl es mir eigentlich vollkommen egal war, eben weil mir egal war, wo und wann ich ankommen würde. Der Zug hatte zehn Minuten Verspätung.

Gerade wollte ich die Augen wieder schließen und in meine Traumwelt abdriften, um über das Leben anderer Menschen nachdenken zu können und nicht mit meinem eigenen konfrontiert werden zu müssen, da sah ich, dass mich ein Mädchen, das an der letzten Haltestelle frisch zugestiegen war, verstohlen musterte. Ohne direkten Blickkontakt herzustellen, registrierte ich ihre halblangen schwarzen Haare, die klaren blauen Augen und den glänzenden, silbernen Stecker in ihrem linken Nasenflügel. Die Füße, die in dreckigen, grauen Converse steckten, hatte sie auf ihrem Koffer abgelegt. In ihrem Schoß lag ein Buch und ich hätte nur zu gerne den Titel gelesen und mich gefragt, was für ein Mensch sie war und wo ihr Ziel lag. Stattdessen schloss ich meine Augen wieder und stellte mir vor, wie sie den Blick senkte, nach dem Buch in ihrem Schoß griff, durch die Seiten blätterte und schließlich zu lesen begann. Ich konnte nicht einschlafen, war zu aufgewühlt.

Als ich die Augen einige Zeit später wieder öffnete, nahm sie gerade einen Schluck von ihrem Coffee-to-go. Sie hatte beide Hände um den Pappbecher gelegt und sah erneut in meine Richtung, aber ich ignorierte sie. Ich konnte nicht sagen, ob sie hübsch war, ich wollte mich auch nicht mit dieser Frage beschäftigen. Ich starrte auf meine Füße, die in abgelaufenen Turnschuhen steckten. Es waren Schuhe, die meine Mutter schon vor Jahren aussortiert hätte. Schließlich merkte ich, wie sie den Kopf drehte, den Kaffee vor sich auf den Boden stellte und ihr Buch aufschlug. Da begann ich meinerseits, sie unauffällig zu beobachten. Während sie las, bildete sich eine kleine, süße Falte zwischen ihren Augenbrauen. Sie befeuchtete ihre Fingerspitze mit der Zunge, bevor sie die Seiten umblätterte. Ihre Fingernägel waren schwarz lackiert, schwarz wie ihre ungleichmäßig gelockten Haare. Sie hatte nur einen Koffer bei sich und ein graues Sweatshirt um den Griff geknotet, ansonsten konnte ich auf dem Sitz neben ihr nur ihre Handtasche ausmachen. Nun legte sie das Buch weg und sah mir direkt in die Augen. Ihre waren so blau, dass mich die Farbe beinahe irritierte. Unnatürlich, außergewöhnlich. Und irgendwie schön. Ich rechnete damit, dass sie etwas sagen würde, doch sie blieb stumm und lächelte nur scheu.

Ich wandte den Blick wieder ab und sah zum Fenster. Mittlerweile war es so dunkel, dass man die Landschaft, die draußen vorbeizog, kaum mehr ausmachen konnte. Das Zugabteil spiegelte sich in der Scheibe. Es war fast niemand mehr unterwegs, ich sah nur das lesende Mädchen und einen heruntergekommen aussehenden Mann mittleren Alters, der sich auf seinem Sitz zusammengerollt hatte und zu schlafen schien. Durch die Lautsprecher vernahm ich eine Frauenstimme, die die Endstation ankündigte. Ich seufzte. Das fremde Mädchen leerte ihren Pappbecher in hastigen Zügen, schlug das Buch zu und verstaute es in ihrer Handtasche. Als der Zug langsamer wurde und wir uns mit unseren Gepäckstücken erhoben, stand sie direkt hinter mir am Ausgang. Ich sprang auf den Bahnsteig, der in das Licht weniger Laternen getaucht war, und sah mich zu ihr um. Jetzt sah sie mich nicht mehr an, hob ihren Koffer auf die Straße und hüpfte aus dem Zug. Ich setzte mich unter die Überdachung, die abkühlende Luft brachte mich zum Frösteln. Sobald alle Menschen das Gleis verlassen hatten, fühlte ich mich ruhiger. Während ich nach meinen Zigaretten kramte, warf ich einen flüchtigen Blick auf die Uhr. 23:01 Uhr.

„Feuer?“ In der Nacht leuchtete ein Feuerzeug auf. Die Flamme erleuchtete das Gesicht des Mädchens aus dem Zug. Überrascht nahm ich ihr das Feuerzeug aus der Hand und zündete mir meine Zigarette selbst an. Sie zog ihren Koffer unschlüssig hinter sich her, bevor sie ihn schulterzuckend abstellte und sich neben mir auf einem der Stühle niederließ. Natürlich hätte ich ein Gespräch beginnen können, und die meisten Menschen hätten das in diesem Moment wohl auch von mir erwartet. Aber mir war nicht danach und ich hatte kein Problem damit, in der Dunkelheit neben ihr zu sitzen und schweigend meine Zigarette zu rauchen. Ich beobachtete, wie die Zeiger meiner Uhr von 23:01 Uhr auf 23:02 rückten. Das Mädchen strich sich die dunklen Locken aus dem Gesicht und sah in die Ferne. Entgegen meiner Erwartung, aufzustehen und sich zu verabschieden, blieb sie sitzen, noch immer ohne ein Wort zu sagen. Ich hätte sagen können, dass es schon spät war. Dass ich langsam nach Hause gehen sollte. Doch das wäre wohl eine Lüge gewesen, denn weder war es für mich spät noch musste ich nach Hause. Ich hatte kein Zuhause.

„Du bist wohl auch nicht sonderlich scharf darauf, nach Hause zu kommen, was?“, meinte sie dann unvermittelt und rutschte unbehaglich auf ihrem Sitz herum.

„Ist eine längere Geschichte“, erwiderte ich ausweichend.

Sie nickte langsam. Sie sagte nicht, dass sie Zeit habe und meine Geschichte hören wollte. Ich war froh darüber.

„Na ja, ich pack’s“, kündigte sie wenige Minuten später an. Dann hängte sie sich ihre Handtasche um die Schulter, zog ihren Koffer hinter sich her.

Ich sah ihr nach und lauschte auf das Klackern der Rädchen ihres Gepäckstücks. Zurück blieb nur der schwache Geruch ihres Parfüms. Ich blieb einfach sitzen und lauschte in die Nacht. Der Bahnsteig war vollkommen leer und die Luft weiter abgekühlt. Es war so neblig, dass ich keinen einzigen Stern erkennen konnte, als ich meinen Kopf hob und in den Himmel starrte. Dann begann es zu regnen. Die Tropfen klopften gleichmäßig auf die Überdachung, bald glitzerte der Boden vor Feuchtigkeit und schmale Rinnsale bildeten sich zu meinen Füßen. Ich war ganz ruhig, während meine Augen sich mit Tränen füllten, die ich ärgerlich mit meinem Jackenärmel fortwischte. Ziemlich lange blieb ich ganz genau dort, wo ich mich hingesetzt hatte, vermutlich bewegte ich mich nicht einmal. Stillstand. Einige Zeit verging, in der ich nicht die Kraft fand, mich aufzurichten, meine Gitarre und meine Reisetasche vom Boden aufzuheben und mich entlang des dunklen, verlassenen Bahnsteigs in Bewegung zu setzen.

Reisen war für mich immer etwas Aufregendes gewesen, das Unbekannte und Unentdeckte hatte mich fasziniert. Heute wusste ich nicht, was mich faszinierte. Wahrscheinlich war das normal. Meine Mutter hatte mir früher immer die Geschichte von Peter Pan und den verlorenen Kindern aus Nimmerland vorgelesen. Als ich erfahren hatte, dass die Kinder in Nimmerland blieben, um niemals erwachsen werden zu müssen, hatte ich mir vorgestellt, wie Peter Pan eines Nachts auch durch mein Fenster fliegen und mich mitnehmen würde, um auch mein Erwachsenwerden zu verhindern. Mein Wunsch war niemals in Erfüllung gegangen.

Diese großen Vorstellungen, die man als Kind von seinem Leben und seiner Zukunft hat, werden immer blasser und verschwinden irgendwann gänzlich, wenn die Zeit vergeht und man älter wird. Und dann geht es nicht mehr darum, etwas Großartiges zu sein oder zu erreichen. Irgendwann verabschiedet man sich von dem Gedanken, berühmt oder besonders zu sein oder die Welt verändern zu können. Denn irgendwann wacht man auf und ist weder Peter Pan noch ein Mitglied seiner niemals alternden Bande. Dann erst realisiert man, dass man niemand anderen hat außer sich selbst – und dass man irgendwie trotzdem klarkommen muss mit seinem verdammt beschissenen Leben und all den zerschlagenen Träumen, die vor einem auf dem Boden liegen wie winzige, spitze Glasscherben. Da muss man sogar noch aufpassen, dass man sich nicht blutig schneidet. Ein Geräusch schreckte mich auf. Schon wieder die Rädchen eines Koffers auf dem Asphalt, dazu hastige Schritte. Ein paar Sekunden später konnte ich den Körper der Unbekannten aus dem Zug ausmachen, der sich zögernd auf mich zubewegte. „Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll“, gestand sie leise.

„Ich weiß auch nicht, wohin ich gehen soll“, entgegnete ich.

Ihre blauen Augen sahen direkt und unverblümt in meine. Dann streckte sie die Hand aus, und meine rauen Finger umfassten ihre fast vollständig, als ich ihr die Hand schüttelte. „Ich bin Lina“, stellte sie sich vor.

„Ben.“

Fröstelnd verschränkte sie die Arme vor der Brust. Ich saß noch immer auf meinem Stuhl, sie stand vor mir in der Dunkelheit. Das war der Abend, an dem ich Lina traf. Der Abend, an dem sich alles für immer verändern würde.

*

Lina

Mai

Ich kannte ihn nicht, wusste aber trotzdem sofort, dass er mich nicht gebrauchen konnte. Eilig hatte er es trotzdem nicht. Während über ihm der Regen auf die Überdachung prasselte, hatte er die Beine lang vor sich ausgestreckt und rauchte.

„Und jetzt?“, fragte ich, als ich die Stille nicht mehr ertragen konnte. Die Laternen beleuchteten den Bahnsteig nur dürftig, umso heller leuchtete das Feuerzeug auf, als er sich eine weitere Zigarette anzündete.

„Wie, und jetzt?“ Seine dunkelbraunen Locken hätten einen radikalen Schnitt vertragen können – seine Frisur konnte nicht einmal mehr wirklich als Frisur bezeichnet werden.

„Was machen wir jetzt?“

Ben sah mich stirnrunzelnd an. „Es gibt kein wir“, stellte er dann kopfschüttelnd klar.

Schon im Zug war mir aufgefallen, wie schlaksig er war. Doch erst jetzt, als er direkt neben mir saß, erkannte ich, wie mager er tatsächlich war. Es war die Art des Magerseins, bei der man Lust bekam, ihn in der Küche einzusperren und ihm eine riesige Portion Hühnersuppe einzuflößen. Aber er war sehr groß und hatte schöne, braune Augen. Schokoladenaugen.

„Wir machen einen Deal“, erklärte Ben mir dann. Er wippte unruhig mit den Füßen, die in schmutzigen, durchgelaufenen Turnschuhen steckten. „Wir sind Partner für diese Nacht. Aber wir stellen keine Fragen.“ Er ließ die Kippe fallen und trampelte halbherzig darauf herum, obwohl der Asphalt vor Feuchtigkeit glitzerte.

Ich mochte, was er da sagte, mochte, dass er keine komplizierten Fragen stellen und keine schwierigen Gespräche beginnen wollte. Also nickte ich.

„Ja?“, vergewisserte er sich.

Ich musste lächeln, konnte nicht einmal etwas dagegen tun, meine Mundwinkel bogen sich in die Höhe beim Anblick seiner hochgezogenen, buschigen dunklen Augenbrauen über den Schokoaugen. „Ja.“

Wir schliefen nicht in dieser Nacht, doch irgendwann begannen wir, uns entgegen unserer Vereinbarung zu unterhalten. Wenn Ben sprach, dann war sein Blick stets auf den Asphalt zu unseren Füßen geheftet und er war tunlichst darum bemüht, jeglichen Blickkontakt zu vermeiden. Gab er mehr als drei aufeinanderfolgende Sätze von sich, zündete er sich, wie zur Belohnung, eine Zigarette an. Und geriet er doch einmal in einen Redefluss, dann verstummte er, sobald es ihm selbst auffiel. Es kam mir so vor, als hätte er Angst, zu viel von sich preiszugeben, obwohl wir über Belanglosigkeiten wie Zigarettenmarken und das Wetter sprachen. Viel lieber hörte er mir zu. Wenn ich sprach, lehnte er sich zurück und seine Züge wurden entspannter, die Zigarettenschachtel blieb an ihrem Platz in seinem Rucksack. Er nickte alle paar Minuten, um zu zeigen, dass er mir zuhörte.

„Kannst du spielen?“, fragte ich ihn irgendwann und zeigte auf seine Gitarrentasche.

„Die ist bestimmt total verstimmt“, wich er aus. „Wegen des Wetters. Im Zug war es warm, aber draußen ist es kalt, dann passiert es, dass ...“

„Ich weiß, was dann passiert“, unterbrach ich ihn. „Ist doch egal.“

Er zuckte mit den Schultern und machte sich an den Reißverschlüssen der Tasche zu schaffen. Wenig später zog er eine zerbeulte Akustikgitarre heraus. Seine Hände schmiegten sich an den Hals des Instruments, seine kalten Finger legten sich auf die Saiten und er begann, ein bisschen herumzuklimpern. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass du die Lieder kennst, die ich damals gespielt habe“, sagte er, ohne sein Geklimper zu unterbrechen. Seine Lippen hatten sich zu einem Lächeln verzogen, aber es war die Art von Lächeln, die einem das Herz brechen konnte. Er konnte seine Traurigkeit nicht einmal dann verstecken, wenn sich seine Mundwinkel in die Höhe bogen.

Ich verkniff es mir, sein damals als Frage zu wiederholen. Keine komplizierten Fragen. „Soll ich mich jetzt herausgefordert fühlen?“

Er antwortete nicht und stimmte einen Song an, den ich in der Tat noch nie in meinem Leben gehört hatte. Es gefiel mir, wie er spielte, wie er die Augen geschlossen hielt und den Bahnsteig und den Rest der Welt zu vergessen schien. Ich sah, wie er die Saiten mit seinen rauen Fingern berührte, wie er in den Klängen zu versinken schien. Wenn er spielte, schien seine innere Unruhe zu verschwinden, sie wurde davongetragen von den leisen Gitarrentönen.

Während er die Augen geschlossen hielt, konnte ich sein Gesicht beobachten. Die dunklen Bartstoppeln am Kinn, die spröden Lippen. Den Blick wandte ich erst von ihm ab, als er das Lied beendet hatte und seine Augen wieder aufflogen.

„Und? Kannst du mir sagen, wie das Lied heißt?“, fragte er dann. Ich schüttelte den Kopf. „Hab’ ich mir gleich gedacht“, sagte er, schien aber dennoch enttäuscht.

„Was soll das denn jetzt heißen?“

Er ließ sich Zeit dabei, seine Gitarre wieder einzupacken. „Ich hab’s, ehrlich gesagt, nicht anders erwartet“, antwortete er dann schulterzuckend. „Ich hab dir schon angesehen, dass du keinen guten Musikgeschmack hast.“

„Wow, danke. Ich konnte dir auch nicht angesehen, dass du ein Arschloch bist. Aber jetzt weiß ich es“, feuerte ich empört zurück. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Ben sich ein winziges Grinsen nicht verkneifen konnte.

„Nirvana. Lithium“, klärte er mich schließlich auf.

Ich traute mich nicht, etwas zu erwidern – schließlich wusste ich nicht einmal, ob Nirvana der Name der Band oder der Name des Liedes war.

„Nirvana ist nicht nur der Name der Band. Das Wort kommt aus dem Buddhismus. Es ist die Erlösung aus dem ewigen Kreislauf des Lebens“, erklärte mir Ben.

„Erlösung?“

„Buddhisten glauben, dass nach jedem Tod eine Wiedergeburt folgt – als Tier oder als Mensch.“

„Also kann man theoretisch alles sein? Ein Adler, ein Delfin, ein Schmetterling?“

Er nickte, aber sein Blick zeigte mir, dass ich ihn nicht wirklich verstanden hatte. „Das ist nicht das Schöne. Das Schöne ist, dass man sich hocharbeiten und irgendwann aus dem Kreislauf entlassen werden kann. Und das ist das höchste Glück.“

„Das verstehe ich nicht. Das Leben ist doch etwas Schönes. Man freut sich doch, am Leben zu sein“, widersprach ich ihm. Die Vorstellung, höchstes Glück nur durch den endgültigen Tod erleben zu können, fand ich ziemlich bescheuert.

Ben schien meine Gedanken lesen zu können und betrachtete mich mit hochgezogener Augenbraue. „Das Leben ist nicht immer schön, Lina.“ Damit brachte er mich zum Schweigen.

Aus dem Augenwinkel betrachtete ich seine buschigen Augenbrauen und seine ernsten Züge und fragte mich, was ihm zugestoßen war. Warum er – genauso wie ich – mitten in der Nacht hier am Bahnhof saß und nicht einfach nach Hause ging. Natürlich fragte ich nicht. „Ich wäre gerne eine Möwe“, sagte ich in die Stille.

Ben verzog das Gesicht. „Möwen fressen Fisch und stinken“, gab er zurück, während er den Blick starr geradeaus gerichtet hielt.

Es nervte mich, wie er die Dinge sah. So ... falsch. „Möwen können fliegen. Sie leben am Meer. Möwen sind frei.“

„Nichts und niemand ist frei“, sagte er leise. „Du bist naiv.“

„Was wärst du denn gerne?“, fragte ich patzig, genervt von seiner Schwarzmalerei.

Er musste nicht einmal darüber nachdenken, was er gerne wäre. „Nichts und niemand“, gab er sofort zurück. „Jemand, der den Nirwana-Status erreicht hat.“

Es war definitiv nicht einfach, sich mit ihm zu unterhalten. Zwar konnten wir miteinander reden, aber sein ständiges Bedürfnis, mich zu belehren oder mir meine Naivität vorzuhalten, ging mir gehörig auf die Nerven. Je pessimistischer und schwarzmalerischer er redete, desto mehr interessierte mich seine Geschichte. Desto mehr interessierte ich mich für ihn. Ich mochte seine Stimme und bat ihn, mir Lithium vorzusingen, aber er weigerte sich. Als ich ihn aufforderte, mir wenigstens ein paar Zeilen vorzusprechen oder mir zu erklären, worum es in dem Lied ging, ließ er sich breitschlagen.

Er dachte lange nach und ging die Zeilen im Kopf durch, bevor er sich aufrecht hinsetzte und tief Luft holte. „Ich schätze …, dass es um eine Person geht, die sehr gläubig ist. Gott gibt der Person Halt, nicht die Menschen auf der Welt. Und damit arrangiert sich die Person. Ihr Glaube hilft ihr dabei, nicht zu zerbrechen.“

Ich schob die Unterlippe vor. „Hört sich sehr traurig an.“

„Es könnte schlimmer sein“, kommentierte Ben mit einem weiteren Schulterzucken. „Die Person wird durch ihren Glauben beschützt. Bist du gläubig?“

Darüber musste ich nachdenken. Ich war Protestantin, hatte auch meine Konfirmation über mich ergehen lassen, aber ob ich mich deshalb als gläubig bezeichnen würde, wusste ich nicht. „Ich weiß es nicht“, gestand ich.

Er nickte langsam. „Versteh’ ich. Es gibt einfach zu viel auf diesem Planeten, das keinen Sinn ergibt. So viele Dinge passieren ... furchtbare Dinge ... manchmal denke ich, Gott muss ein Monster sein. Oder es gibt keinen Gott. Ach, ich weiß es nicht.“

Zu diesem Zeitpunkt füllte die Schwärze den Raum um uns aus, die Laternen waren für wenige Stunden erloschen, Ben und ich saßen in gänzlicher Dunkelheit. Wenn er sein Feuerzeug aufflammen ließ, musste ich die Augen zusammenkneifen, weil mir das spärliche Licht zu hell erschien.

Bens Nervosität schien nicht abzunehmen – das erkannte ich daran, dass er andauernd sein Feuerzeug anknipste, ohne sich eine Zigarette anzuzünden, und dann wie ein spielendes Kind darauf herumdrückte und Schatten auf den Boden projizierte. Er war ein komischer Vogel, aber obwohl wir meist stumm nebeneinander saßen, war die Stille nicht unangenehm. Ich war froh, dass er da war. Als Ben merkte, dass ich schläfrig wurde und mir die Augen zufallen wollten, hantierte er wieder an den Reißverschlüssen seiner Gitarrentasche herum. Es war ein langer Tag gewesen, an dessen Anfänge ich nicht zurückdenken wollte. Ich verdrängte jeden Gedanken, der von Gesprächen mit Ben auf dem regennassen Bahnsteig abwichen, und Ben half mir dabei, als er wieder zu spielen begann.

„Was hörst du?“, fragte er, während seine schwieligen Hände bei dem Versuch, seine Finger warm zu halten, unaufhörlich die Saiten streichelten und Klänge erzeugten.

Ich hatte keine Ahnung von Musik, keinen eigenen Musikgeschmack. Ich hörte eben, was alle hörten. Das, was modern war und es in die Charts schaffte. Aber irgendwie wollte ich ihm das nicht sagen. Ich wollte nicht preisgeben, wie normal – wie wenig besonders und langweilig – ich war. Denn ich wusste sofort, dass Ben anders war. Und dass es mir gefiel. Aber ich fand nicht nur seinen Musikgeschmack interessant, ich interessierte mich dafür, wie er zu seinen Ansichten gekommen war, traute mich allerdings nicht, ihn danach zu fragen. Obwohl ich nicht alles, was er von sich gab, unterstützen oder verstehen konnte, mochte ich es, dass er eine eigene Meinung hatte.

„Grouplove?“, fragte er, während er einzelne Saiten langsam anschlug, um mir so die Möglichkeit zu geben, das Lied zu erkennen.

„Nie gehört.“

Außer den einzelnen Anfangstönen, die Ben gespielt hatte, hörte sich das Lied nicht traurig an. Die Akkorde flossen ineinander, es war ein schöner Song, schöner als Lithium, aber wahrscheinlich konnte ich das gar nicht beurteilen.

„Itching on a photograph“, gab Ben bekannt und öffnete die Augen einen winzigen Spalt. „Da ist eine Fotografie, aber sie ist alt und vergilbt, eigentlich ist die Zeit also längst vergangen. Die Person ist wehmütig, aber sie weiß, dass es Zeit ist … Zeit ist, loszulassen.“ Während er sprach, wurde seine Stimme immer leiser, bis ich ihn kaum mehr verstehen konnte. Sein Blick schweifte ab ins Nirgendwo und ich sah diese furchtbare Traurigkeit ganz deutlich in seinen Schokoaugen, eine Traurigkeit, die auf ihm lag, ihn niederdrückte und ihn plötzlich vollkommen erfasst zu haben schien. Wie ein Schatten.

„Es tut mir leid. Ich wollte nicht …“

Sein Blick wurde verschlossen. „Hast du auch nicht.“

Wir schwiegen uns an, bis die ersten zaghaften Sonnenstrahlen unsere durchgefrorenen Körper wärmten. Ben packte seine Sachen zusammen, während ich sitzen blieb und in die Sonne blinzelte.

„Wohin gehst du jetzt?“, fragte ich ihn zögernd.

Er stand mit dem Rücken zu mir, seine Locken standen in alle Richtungen ab, sein Pullover war zerknittert. Er antwortete, ohne sich zu mir umzudrehen: „Ein billiges Hotel suchen. Schlafen.“ Seine Stimme klang rau und erschöpft.

Gerne hätte ich auch einen Plan gehabt, was ich in dieser fremden Stadt jetzt tun sollte, aber ich hatte keinen blassen Schimmer. Hatte meinen Koffer gepackt, war in einen Zug gestiegen, aber all das war eine Kurzschlussreaktion gewesen. Weil ich wegmusste, Distanz schaffen musste zwischen mir und … nein. Ich wollte nicht an das denken, was ich gesehen hatte. Schließlich war ich gekommen, um zu vergessen.

„Kann ich mitkommen?“, hörte ich meine eigene Stimme wie aus weiter Ferne fragen.

Ben fuhr herum und schien mich zum ersten Mal wirklich zu sehen. Mich anzusehen. Auf seinem Gesicht machte sich ein verwirrter Ausdruck breit, dann öffnete er den Mund, schloss ihn jedoch wieder, ohne meine Frage beantwortet zu haben. Schnell schüttelte ich den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben.

„Stell’ dich nicht hilfloser dar, als du es bist“, schalt ich mich leise. Er war ein Fremder. Es reichte, dass ich mich die ganze Nacht mit ihm am Bahnhof herumgetrieben hatte. „Blöde Idee“, sagte ich. „Vergiss sie.“ Ich stand so hastig auf, dass ich stolperte. Ich spürte seine Blicke im Rücken, als ich begann, meine Taschen zusammenzusuchen. Ich vermied es, ihn anzusehen.

„Klar kannst du mitkommen“, hörte ich Ben sagen. „Ich meine … ich kann es dir nicht verbieten, die Bürgersteige zu benutzen, oder?“

Ich wusste, dass er grinste, obwohl ich ihm den Rücken zukehrte. „Bist du dir sicher?“, fragte ich, doch im selben Moment ärgerte ich mich bereits über die Unsicherheit in meiner Stimme und bereute es, gefragt zu haben.

Ben schulterte seine Gitarrentasche und seufzte. „Du kannst mitkommen oder hierbleiben. Es ist mir egal, was du machst, verstehst du?“

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0+
Umfang:
281 S. 3 Illustrationen
ISBN:
9783960743477
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