Der kleine König Dezember

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Der kleine König Dezember
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Axel Hacke

Der kleine König Dezember

Bilder von Michael Sowa

Verlag Antje Kunstmann

Für Ursula

Seit einiger Zeit kommt dann und wann der kleine, fette König Dezember II. in mein Haus, der nicht länger ist als ein Zeigefinger und so fett, dass sein winziger roter Samtmantel mit dem dicken, weißen Hermelinbesatz sich vor dem Bauch nicht mehr schließen lässt.

Der König liebt die Gummibärchen. Wenn er eines isst, muss er es mit beiden Armen umfassen, um es festzuhalten. Trotzdem kann er es kaum hochheben, denn ein einziges Gummibärchen ist beinahe halb so groß wie der ganze König. Er schlägt seine Zähne in das weiche Bärchengummi und beißt große Stücke heraus, und zwischendurch fragt er, was er mich immer fragt:

»Kannst du mir was aus deinem Land erzählen?«

Als er mich zum ersten Mal besuchte, sagte ich: »Bei uns wird man klein geboren, und dann wird man größer und größer, manchmal so groß wie ein Basketballspieler. Zum Schluss schrumpft man wieder ein bisschen ein. Dann kommt der Tod, und man ist weg.«

»Das ist unlogisch«, sagte der kleine König und biss dem Bärchen die rechte Pfote ab. »Warum ist man nicht am Anfang ganz groß und wird immer kleiner und kleiner und verschwindet zum Schluss – einfach, weil man unsichtbar ist?«

»Ich glaube, der Bundesverband der Bestattungsunternehmer ist dagegen«, sagte ich.

»Bei uns ist es aber so!«, sagte der König. »Mein Vater, König Dezember I., war eines Tages so klein, dass ihn sein Diener morgens im Bett nicht mehr finden konnte. Noch am selben Tag wurde ich zum König gekrönt.«

»Ja, aber wie kann man denn groß geboren werden?«, fragte ich. »Irgend jemand muss einen im Bauch haben vorher, und eine Mutter kann nicht kleiner sein als das Baby!«

»Im Bauch haben?«, sagte Dezember. »Höhö! Ich bin eines Morgens in meinem Bett aufgewacht und dann zur Arbeit ins Prinzenbüro gegangen, ganz einfach. Im Bauch haben! Blödsinn! Man wacht auf, und los geht’s.«

»Und wie kommt man in das Bett?«, fragte ich.

»Warte mal«, sagte der König, »… ich glaube…, also ein König und eine Königin … ähm … wie? war? das? … Ich hab’s vergessen! Ich bin schon so klein, weißt du. Hab’s vergessen. Es war sehr schön, das weiß ich noch.« Er kicherte leise und biss wieder in sein Bärchen.

Ich sagte: »Wenn ein Kind bei uns zur Welt kommt, weiß es nichts. Es muss lernen zu essen und zu gehen, zu lesen und zu schreiben. Seine Nase wird geputzt, und beim ›Mensch ärgere dich nicht‹ lernt es, nicht zornig zu sein. Überall sind große Hände, die es leiten und seinen Kopf hin und her drehen und sein Kinn heben.«

Der König rülpste laut, und ein kleines Lachen schüttelte ihn für kurze Zeit. Dem Gummibärchen hatte er inzwischen den Kopf abgegessen.

Er schaute mich an, kaute langsam weiter und sagte: »Und dann?«

»Dann wird man größer«, sagte ich.

»Tut das weh?«, fragte er.

»Es geht ganz langsam«, sagte ich. »Obwohl: Manche Kinder wachsen in einer einzigen Nacht zwei Zentimeter, und wenn man das Ohr an eines ihrer Arme und Beine legt, hört man es knirschen.«

»So ähnlich ist es bei uns auch, bloß umgekehrt«, sagte Dezember. »Man merkt das Schrumpfen nur manchmal, wie neulich. Abends habe ich mein Teetässchen gerade noch auf den Tisch stellen können, und am Morgen musste ich schon auf einen Stuhl klettern, um es wieder herunternehmen zu können.«

»Findest du Größerwerden schön?«, fragte er.

»Ich wusste bisher nicht, dass es andere Möglichkeiten gibt«, sagte ich.

»Jetzt weißt du es«, sagte er.

»Erzähl mir mehr«, sagte ich. »Was wisst ihr, wenn ihr zur Welt kommt, und was lernt ihr dazu?«

»Wir wissen fast alles«, sagte der kleine, fette König. »Wir wachen auf und liegen da und erheben uns und können schreiben und infinitesimalrechnen und kompjutaprogrammieren und zurarbeitgehen und geschäftsessen. Alles kein Problem. Aber nach und nach vergessen wir’s. Je kleiner wir werden, desto mehr vergessen wir’s. Wenn einer dann nicht mehr geschäftsessen kann, muß er nicht mehr ins Büro kommen, weil man ihn dort nicht mehr braucht. Dann darf er

zu Hause bleiben und noch mehr vergessen. Sein Kopf wird leer, und es gibt Platz darin. Die anderen müssen ihm Essen machen, und danach darf er zu seinen Freunden gehen. Oder die Schatten im Garten anschauen und sie für Gespenster halten. Oder den Wolken Namen geben. Oder seinen Teddybär anschreien. Oder…«

»Wenn es ihm die Großen nicht verbieten!«, rief ich.

»Die Großen haben nichts zu sagen!«, sagte Dezember II. »Je kleiner einer ist, desto mehr ist er Bestimmer, weil… weil er ja die größere Lebenserfahrung hat, hihi. Und die Großen müssen ihm alle Fragen beantworten: Warum ist das Haus eckig? Warum sind auf einem Würfel nur sechs Zahlen? Warum regnet es? Wenn er die Antwort hat, kann er sie gleich wieder vergessen. Und weil die Kleinen die Bestimmer sind, haben wir Rolltreppen mit kleinen Stufen und winzige Klobrillen, durch die man nicht hindurchfallen kann. Damit muss man zurechtkommen, solange man groß ist – es geht nicht anders.«

Er stand mit einer schnellen, stolzen Bewegung auf, legte die Reste des Gummibärchens auf den Boden und versuchte seinen Mantel zu schließen. Aber das ging nicht, er ist sooooo fett. Deshalb setzte er sich seufzend wieder hin.

»Also ist«, sagte ich und gab ihm das Gummibärchen wieder in die Hand, »also ist bei euch die Kindheit am Ende des Lebens?«

»Denk mal an!«, sagte der König. »Man hat etwas, auf das man sich freuen kann!« Er sah mich lange an. »Weißt du, was ich glaube?«, sagte er dann.

»Nein«, sagte ich.


»Ich glaube, es stimmt gar nicht, dass ihr größer werdet. Ich glaube, es sieht nur so aus.«

»Wie kommst du darauf?«, fragte ich.

»Ich glaube, ihr fangt auch ganz groß an«, sagte er. »Wenn es stimmt, was du mir erzählst … also, ich stelle es mir so vor: Ihr habt alle Möglichkeiten, und jeden Tag werden euch ein paar genommen. Ihr habt eine große Phantasie, wenn ihr klein seid, aber ihr wisst ganz wenig. Weil das so ist, müsst ihr euch alles vorstellen. Ihr müsst euch vorstellen, wie das Licht in die Lampe kommt und das Bild in den Fernseher, und ihr stellt euch vor, wie die Zwerge unter den Baumwurzeln leben und wie es ist, auf der Hand eines Riesen zu stehen. Und dann werdet ihr größer, und die noch Größeren erklären euch, wie eine Lampe funktioniert und ein Fernsehapparat. Dann lernt ihr, dass es keine Zwerge gibt und keine Riesen. Eure Vorstellungen werden immer kleiner und euer Wissen immer größer. Ist das richtig?«

»Ja«, flüsterte ich, und noch leiser: »Aber es ist doch auch nicht schlecht, wenn man wächst und lernt und die Welt versteht und …«

Er redete weiter: »Älter werdet ihr. Am Anfang wolltet ihr noch Feuerwehrmänner werden oder ganz was anderes und Krankenschwestern oder ganz was anderes, und eines Tages seid ihr dann Feuerwehrmänner und Krankenschwestern. Und ganz was anderes könnt ihr nicht mehr werden, dazu ist es zu spät. Das ist auch ein Kleinerwerden, nicht?«

»Ach ja, ja«, seufzte ich.

»Nicht so ein schönes wie bei uns«, sagte der kleine, fette König. Er biss ein letztes Mal von dem Gummibärchen ab. »Tut mir leid für dich, na, für euch alle natürlich.« Dann stand er auf, quetschte seinen Bauch durch einen Spalt zwischen meinem Bücherregal und der Wand und verschwand wieder aus dem Zimmer, wie immer, ohne Gruß und um ein winziges Winziges kleiner.

Ich hatte einmal eine Zeit, in der ich oft traurig war, so traurig, dass ich abends, wenn es dunkel wurde, allein durch die Stadt ging und froh war, wenn es regnete. Alles war düster und nass in den Straßen, und meine Traurigkeit spiegelte sich in den Pfützen, und dieses Spiegelbild tröstete mich. Ich fühlte mich dann nicht so allein.

Wenn ich genug herumgegangen war, kletterte ich wieder die alte Holztreppe in meine Wohnung hinauf und setzte mich auf einen Stuhl. Einmal, als das so war, kam aus dem kleinen Spalt zwischen Bücherregal und Wand der König Dezember hervor und sagte: »Wo warst du?«

»Ach…«, sagte ich.

»Und wie geht es dir?«

Ich sagte: »Aaaaach…«

»Was willst du jetzt tun?«

»Schlafen«, sagte ich.

»Komm noch ein bisschen zu mir«, sagte der König Dezember.

»Wie soll ich zu dir kommen?«, sagte ich. »Du wohnst hinter einem Regal, und dorthin kommt man nur durch eine kleine Spalte, und für die bin ich viel zu groß, selbst um diese Zeit.« Es ist nämlich so, dass ich abends fünf Zentimeter kleiner bin als morgens, wenn der Schlaf mich gedehnt und auseinandergezogen hat. Abends bin ich vom Leben zusammengedrückt. Aber eben nicht klein genug, um den König Dezember hinter seinem kleinen Mauerritz zu besuchen, dachte ich.

»Du hast es ja noch nicht versucht«, sagte der König. »Du musst dich vor meiner Wohnung auf den Bauch legen, und dann wirst du schon sehen.«

Ich legte mich auf den Bauch. Das Parkett knarzte, und der König verschwand in seinem Loch.

»Jetzt steck deine beiden Zeigefinger in den Ritz«, rief er von innen, »und zieh dich langsam zu mir herein.« Ich bekam die beiden Finger gerade so in die Öffnung, hakte sie rechts und links von innen gegen die Wand und zog. Diesmal knarzte das Regal, und ich sah neben meinem Kopf eine ziemlich große Staubfluse und dachte noch, dass ich mal wieder saubermachen müsste, die Staubflusen wären ja schon so groß wie mein Kopf – da rutschte der Kopf schon durch den Spalt hindurch und der Rest von mir hinterher, und ich lag auf dem Bauch in der Wohnung des Königs.

 

»Donnerwetter!«, rief ich. »Das hätte ich nicht gedacht.«

Ich stand auf. Der König war jetzt ein bisschen größer als ich, aber seine Wohnung war auch für jemand, der so winzig ist, ungewöhnlich klein. Sie bestand nur aus einem Zimmer, und wenn der König fünf Schritte machte, hatte er es schon ganz durchquert.

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