Buch lesen: «Böse Heiler»
Dr. Ashish Bhalla,
DDr. Christian F. Wolf:
Böse Heiler
Alle Rechte vorbehalten
© 2018 edition a, Wien
Cover und Gestaltung: JaeHee Lee
Satz: Lucas Reisigl
ISBN 978-3-99001-301-4
E-Book-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
INHALT
Abzocke und Lebensgefahr durch Scharlatane in der Alternativmedizin
An welchen Aussagen Sie die Scharlatane in der Alternativmedizin erkennen
Das psychologische, soziale und ökonomische Profil der Scharlatane
Wie Sie Scharlatanen ausweichen
ABZOCKE UND LEBENSGEFAHR DURCH SCHARLATANE IN DER ALTERNATIVMEDIZIN
Der Fall Veronika Allsitter
Wegen ihrer Erkrankung lebt sie zurückgezogen. Jemanden kennenzulernen und sich gar zu verlieben würde alles nur noch schlimmer machen. Als Veronika Allsitter mir das erklärt, wird ihre Stimme brüchig. »Ich habe wirklich andere Sorgen«, sagt sie, verschränkt die Arme vor der Brust und sieht an mir vorbei in den Garten meiner Praxis hinaus.
Veronika Allsitter wirkt auf den ersten Blick ruhig und doch erscheint sie mir sehr angespannt. Kein Wunder bei dem, was sie schon alles durchgemacht hat. Ihr Vater ist Psychiatriepatient und will seit ihrer Geburt nichts von ihr wissen. Als sie 15 war, starb ihre Mutter. Jetzt ist sie 25, Bibliothekarin, hat ihr Leben nach einem schlimmen Tief in der Pubertät im Griff und wäre gerne mit einem Mann glücklich geworden. Da gab es einen, den sie bei einem Konzert kennengelernt hat. Mit ihm war alles so leicht und einfach. Aber auf Dauer ohne Sex, wie sollte das gehen?
Nachdem sie mir ausführlich von ihren gesundheitlichen und den damit zusammenhängenden Problemen erzählt hat, gönne ich ihr etwas Ruhe. Ich fülle in ihr Glas lauwarmes Wasser nach und sehe noch einmal ihre Befunde durch. Am meisten zu schaffen macht ihr eine schlimme Form von HPV-Infektion. Seit dem letzten gynäkologischen Befund, der sechs Monate alt ist, hat sich laut ihrer Einschätzung nichts daran verbessert. Sie ringt seit zwei Jahren damit. Dazu ist ihre Periode seit jeher unregelmäßig und mit heftigen Beschwerden verbunden. Außerdem hat sie Zysten an den Eierstöcken. Daher wäre Sex für sie womöglich unangenehm.
Für eine mögliche Beziehung ist das Ganze klarer Weise eine Katastrophe. Sie hat überlegt, dem interessanten Mann, den sie beim Konzert kennengelernt hat, zu sagen, dass sie ihn beim Sex, selbst beim geschützten, infizieren könnte. Dann hat sie es bleiben lassen, sich zurückgezogen, mit einem bitteren Gefühl. Er hat wohl nicht verstehen können, warum.
Veronika Allsitter hat sich nichts vorzuwerfen. Sie hat für ihre Gesundheit gekämpft. Sie ernährt sich sehr gesund, macht viel Bewegung, war bis vor sechs Monaten regelmäßig beim Gynäkologen und ist in alternativmedizinischer Behandlung. Aber weder die Medikamente noch die Kräuter ihrer Heilerin, einer eingetragenen Energetikerin, haben bisher irgendwas bewirkt.
Zum Gynäkologen geht sie mittlerweile nicht mehr. Er hat ihr nur Angst gemacht, dass sich die HPV-Infektion zu Gebärmutter- oder Vaginalkrebs entwickeln könnte. Bei der Heilerin hingegen fühlt sie sich gut aufgehoben. Weshalb ihr nicht gefallen wird, was ich ihr sagen will, sobald sie sich erholt hat.
»Ihre Praxis hier ist irgendwie eigenartig«, sagt sie, während ich nach den richtigen Worten suche.
»Finden Sie?«
Ihr Blick wandert über mein Interieur. Ein Messstab für die Körpergröße. Eine alte Waage. Ein dunkler Biedermeier-Schreibtisch. Gold gerahmte Landschaftsbilder. Ein Paravent. Eine Liege. »Wie bei einem Hausarzt des 19. Jahrhunderts«, sagt sie, schaut wieder durch die Glasfront in den Garten hinaus und schüttelt den Kopf. »Das Alte passt mit dem Modernen nicht zusammen.«
»In der Medizin schon«, entgegne ich.
Sie lächelt und klopft auf die ledergepolsterten Armlehnen ihres antiken Sessels. »In einer Praxis bin ich noch nie auf einem Thron gesessen.«
»Das habe ich bei einem alten Ayurveda-Arzt in Indien gesehen. Dem durfte ich als Kind bei der Arbeit zusehen. Er hatte auch so einen massiven Stuhl für seine Patienten. Er meinte, der gibt ihnen Sicherheit.«
»Stimmt.« Sie bringt ein Lächeln zustande.
Der Moment für ein ernstes Wort ist gekommen. »Frau Allsitter, ich denke, Sie sollten die Behandlung bei Ihrer Heilerin abbrechen.«
Mit großen Augen sieht sie mich an. »Wie kommen Sie denn darauf?«
Ruhig erkläre ich ihr, warum diese Heilerin sie nicht heilt, sondern bloß ihr Leiden verlängert.
Mit zusammengekniffenen Augen, verschränkten Armen und überkreuzten Beinen hört Veronika Allsitter mir zu.
Mir ist klar, warum sie die Behandlung bei dieser Heilerin als so wertvoll empfindet. Diese Frau kann offenbar gut trösten und ist genau in dem Alter, in dem Veronika Allsitters verstorbene Mutter heute wäre. Ich wäre wirklich der Letzte, der versucht, sie von einer Mutterfigur zu trennen. Aber diese Frau ist offensichtlich keine gute Mutter.
Mir ist auch klar, warum Veronika Allsitter zu mir gekommen ist. Ich bin nicht nur Arzt, sondern auch medizinischer Ayurveda-Spezialist und verstehe daher etwas von Kräutern. Offenbar hat sie erwartet, dass ich dem, was diese Heilerin mit ihr macht, zustimmen kann. Das kann ich allerdings nicht. Was die Heilerin macht, ist weder in moralischer noch in gesundheitlicher Hinsicht in Ordnung.
Als ich mit meinen Ausführungen fertig bin, fragt Veronika Allsitter nach dem WC und entschuldigt sich. Ich kann nur hoffen, dass meine Worte ihr zu denken geben. Sie muss erkennen, was diese Heilerin tut. Sie gibt ihr Globuli und kleine Säckchen mit Kräutern, zusammengestellt nach einem Geheimrezept. Von wegen Geheimrezept. Wenn ich das schon höre. Mangelhafte Patienteninformation heißt das bei mir.
Das Geheimrezept lässt sich die Heilerin teuer bezahlen. Achtzig Euro für sieben kleine Säckchen mit zerriebenen Kräutern. Sieben kleine Tagesrationen, die Veronika Allsitter in ein wenig Wasser auflöst und schluckt. Jede Woche muss sie zu der Heilerin gehen, um sich untersuchen zu lassen und eine weitere Ration zu holen. Diese Termine kosten extra.
Nach Meinung der Heilerin zeigt diese Behandlung auch Wirkung. Veronika Allsitters Beschwerden seien nicht so schlimm, wie sie sein könnten. Denn wegen der Lieblosigkeit ihres Vaters habe sie starke negative Energien in ihrem Körper.
Dass die Patientin keine Medikamente mehr nimmt, weil sie das Vertrauen zu ihrem Gynäkologen verloren hat, findet die Heilerin gut. Denn Medikamente würden die Wirkung von Globuli und Kräutern behindern.
Veronika Allsitter wollte den Namen der Heilerin nicht nennen. Hätte sie es getan, hätte ich mich veranlasst gefühlt, die Frau anzuzeigen. Denn ihre Argumentation ist eine Frechheit und ihre Logik perfid. Sie nützt die körperliche und seelische Not dieser jungen Patientin aus, um Macht über sie zu erlangen und abzukassieren. Entweder ist es ihr egal, dass sie ihr damit den Zugang zu echter Heilung verbaut, oder sie ist so von sich eingenommen, dass sie sich tatsächlich für eine Heilerin hält. Dabei unterliegt sie als Energetikerin den Standesregeln der Wirtschaftskammer. Darin steht unmissverständlich, dass sie kranke Menschen nicht behandeln darf.
Langsam mache ich mir Gedanken. Veronika Allsitter lässt sich lange Zeit. Kann ich sie überzeugen? Oder ist ihr die Beziehung zu dieser Heilerin wichtiger?
Endlich kommt sie zurück und nimmt wieder auf dem Thron Platz. »Ich bin nicht überzeugt«, sagt sie. »Warum können Sie mich nicht parallel zu meiner Heilerin behandeln wie mein alter Gynäkologe?«
»Weil ich anders arbeite.« Ich erkläre ihr, dass manche Kräuter im Körper an denselben Rezeptoren andocken wie die Medikamente und daher deren Wirkung abschwächen. Das wäre eine mögliche Erklärung, warum die Medikamente des Gynäkologen nicht gewirkt haben. Außerdem erkläre ich ihr, dass ihr Immunsystem durch ihre ständige Anspannung sehr geschwächt wird. »Daher empfehle ich Ihnen Meditationen und Yoga, damit Sie Ihrem Gleichgewicht wieder näherkommen.«
Sie hebt die Hand, um mich zu unterbrechen. »Ich weiß, worauf diese Empfehlung hinausläuft. Ich habe mich über Ihre Praxis gut erkundigt. Auch über den akademischen Yogalehrer, mit dem Sie diese Praxis hier aufgezogen haben. Also nichts gegen Christian Wolf. Aber ich bin nur eine kleine Bibliothekarin. Verstehen Sie?!«
»Nicht ganz«, gebe ich zu.
Daraufhin erklärt sie mir, dass sie seit fünf Jahren Yoga macht. Daher habe sie wirklich den allergrößten Respekt vor einem Meditations- und Yoga-Experten mit jahrzehntelanger Erfahrung.
Sie hat sich wirklich gut erkundigt. Sie weiß sogar, dass Christian als Gesundheitswissenschaftler mit Yoga-Techniken aus weniger bekannten Traditionen arbeitet und sie individuell auf die Symptome der einzelnen Patienten abstimmen kann. Damit sie lernt, ihre Anspannung zu lösen, empfehle ich ihr genau das.
Da verschränkt sie wieder die Arme vor der Brust. »Sie haben natürlich recht«, sagt sie mit spitzer Stimme. »Als Bibliothekarin muss ich mir standesgemäß meinen privaten Yogalehrer leisten.«
Ihr Scherz ist zwar bitter, aber ich muss trotzdem schmunzeln. »Sie sind bei uns bestimmt günstiger dran als bei Ihrer Heilerin. Da Sie schon etwas von Yoga verstehen, brauchen Sie nur zwei bis drei Schulungseinheiten bei Christian Wolf, um sich die für Sie passenden Instruktionen zu holen. Ich verschreibe Ihnen ein paar hochdosierte Kräuter. In drei Monaten kommen Sie zur Kontrolle. Dann sehen wir, wie es wirkt. Dann noch eine Abschlusskonsultation in sechs Monaten. Ich denke, das sollte reichen.«
Noch immer sitzt sie mit verschränkten Armen und Beinen da. Mir ist klar: Wenn ich es nicht schaffe, ihre Defensivhaltung aufzulösen, wird sie gleich aufstehen, gehen, ihre Heilerin weiterhin mit Geld füttern und nie gesund werden. Daher sage ich ihr: »Bevor Sie entscheiden, bitte ich Sie um fünf tiefe Atemzüge.«
Sie verharrt in ihrer angespannten Sitzposition.
Meiner Meinung nach steht sie an einer steilen Klippe und braucht sehr viel Kraft, um das Gleichgewicht zu halten. Aber wenn sie auch nur einen kleinen Schritt von der Klippe weggeht, wird alles viel leichter. Daher wiederhole ich: »Bitte. Nur fünf tiefe Atemzüge.«
»Na schön.« Sie beugt sich vor, schließt die Augen und tut es. Aber sie bleibt nicht bei fünf Atemzügen stehen. Sie nimmt sich zwölf. Dann öffnet sie die Augen. »Ich habe mich entschieden«, sagt sie. »Ich werde meine Heilerin nicht so einfach aufgeben. Ich werde sie auch nicht vor den Kopf stoßen. Ich werde ihre Kräuter und Globuli weiterhin kaufen, aber vorerst nicht einnehmen. Zumindest drei Monate lang nicht. Bis zu unserem ersten Folgetermin. Können Sie damit leben?«
»Klar.«
Den Nachsatz, dass sie mit ihrem Geld schließlich machen kann, was sie will, spreche ich nicht aus. Der Rest ist binnen weniger Minuten erledigt. Ich verschreibe ihr zwei rezeptpflichtige indische Pflanzen in Kapselform, welche ihre körperliche, aber auch die mentale Kraft stärken. Zudem verordne ich ihr typenspezifische Yoga-, Atem- und Meditationstechniken. Meine Empfehlung, sich diesbezüglich an Christian zu wenden, nimmt sie an. Außerdem vereinbaren wir, dass sie sich in den nächsten Tagen an eine Gynäkologin wendet, die ich ihr ebenfalls empfehlen kann, damit wir anhand der Abstriche jetzt und in drei Monaten sehen können, ob es Fortschritte gibt.
Drei Monate später kommt Veronika Allsitter zum vereinbarten Termin. Mein erster Eindruck: Obwohl sie erhobenen Hauptes zur Tür hereinkommt, wirkt sie niedergeschlagen. Noch wesentlich bedrückter als bei der ersten Konsultation. Das trifft mich unerwartet, zumal Christian mir von zwei Terminen mit ihr berichtet hat. Speziell die Tattva-Yoga-Übungen hätten bei ihr gut angeschlagen.
Wortlos überreicht sie mir die gynäkologischen Befunde.
Der Abstrich zur Früherkennung von Gebärmutterhalskrebs vor drei Monaten zeigt leichte Zellveränderungen. Die Gefahr, dass sich tatsächlich Krebs entwickelt, ist gegeben.
Ich blättere weiter zum aktuellen Befund. Eine deutliche Entzündung, aber keine Zellveränderungen mehr. Das ist der erhoffte Fortschritt. Ich bin erleichtert. Ihr Immunsystem hat offenbar Tritt gefasst. Es besteht erstmals seit zwei Jahren kein Krebsrisiko mehr. Sie ist von der steilen Klippe einen entscheidenden Schritt weit weggekommen. Jetzt müssen wir nur dafür sorgen, dass es keinen Rückfall gibt.
Veronika Allsitter wirkt jedoch alles andere als erfreut. Bitter hält sie die Lippen zusammengepresst. Als ich sie fragend ansehe, atmet sie mehrere Male tief durch. »Ich war eben mit dem neuen Befund bei meiner Heilerin.« Sie atmet noch einmal durch. »Sie hat sich gar nicht für mich gefreut. Obwohl sie nicht gewusst hat, dass ich ihre Kräuter nicht mehr nehme. Da habe ich ihr die Wahrheit gesagt.« In Veronika Allsitters Augen bilden sich Tränen, die sie trotzig wegwischt. »Ich war wirklich eine Idiotin.«
»Stimmt«, sage ich geradeheraus.
Das bringt sie zum Lachen.
»Aber Sie sind in bester Gesellschaft«, füge ich hinzu. »Selbst die intelligentesten Menschen fallen auf falsche Heiler herein.«
Das löst ihre Verbitterung. Sie freut sich sehr über den Befund. Sogar bei den Zysten ist eine leichte Besserung sichtbar. Dass die Kräuter und die täglichen Yoga-Übungen ihr guttun, hat sie schon in den vergangenen Wochen bemerkt. Die letzten Regelschmerzen waren etwas weniger schlimm.
Nach dem Termin bei mir will sie den Mann anrufen, mit dem es damals nach dem Konzert so fein war. Sie ist zwar nicht mehr mit ihm in Kontakt. Aber sie hat in Erfahrung gebracht, dass er noch Single ist.
Ich drücke ihr die Daumen.
Weitere drei Monate später kommt Veronika Allsitter wieder. Mein erster Eindruck: Sie ist sichtlich beschwingt. Es geht ihr viel besser. Kräuter, Yoga-, Atem- und Meditationsübungen, frisch kochen und eine Runde laufen, dafür nimmt sie sich täglich Zeit, komme was wolle. Ihre Menstruation sei stabiler geworden, zuletzt beinahe schmerzfrei, erzählt sie. Sie fühle sich nicht mehr so angespannt und könne mit allen möglichen Problemen viel leichter umgehen. Die Zysten haben sich laut dem letzten Befund deutlich zurückgebildet. Der Abstrich vom Gebärmutterhals zeigt weiterhin eine Entzündung.
Nach einer kurzen Untersuchung verordne ich ihr zusätzlich eine ayurvedische Pflanze, welche antientzündliche Qualitäten aufweist und sie im Gesamten stärkt.
Der Virus ist noch nicht besiegt. Aber Veronika Allsitter weiß jetzt: Sie kann ihn unter Kontrolle bringen.
Mittlerweile ist sie ganz gesund. Sie hat zwei Jahre lang unter ihren gesundheitlichen Problemen und deren Folgen für ihr Liebesleben gelitten. Zwei Jahre ihres Lebens hat sie verpfuscht. Dieser Pfusch hat sie in Summe rund 10.000 Euro gekostet. Trotzdem ist sie vergleichsweise glimpflich davongekommen. Christian Wolf und ich begegnen ständig Opfern selbsternannter Heiler. Manchmal sind sie dermaßen verantwortungslos, dass die von ihnen verursachten Probleme noch größer und die Ausgaben der Patienten noch höher sind als bei Veronika Allsitter.
Ewig schade
Behutsam, als wolle sie den Sessel nicht belasten, nimmt Elisabeth Kemäter mir gegenüber Platz. Dabei ist sie eine kleine und sehr schlanke Person, geradezu zierlich.
Ich schenke ihr ein Glas lauwarmes Wasser ein und schiebe es über den kleinen Tisch. Mit einer leichten Verbeugung nimmt sie es und trinkt einen Schluck.
»Nun, was kann ich für Sie tun?«, frage ich, nachdem sie das Glas vorsichtig wieder abgestellt hat. Äußere Anzeichen einer Krankheit kann ich einstweilen nicht an ihr erkennen.
Elisabeth Kemäter seufzt leise. »Eigentlich weiß ich gar nicht … Vielleicht verschwende ich nur Ihre kostbare Zeit.« Verschämt senkt sie den Blick.
»Sie verschwenden meine kostbare Zeit«, antworte ich mit gespielter Strenge, »wenn Sie mir nicht sofort sagen, was los ist.«
Das erlaube ich mir, denn wir kennen uns flüchtig. Sie kommt aus dem Nachbarort. Bei diversen lokalen Feierlichkeiten sind wir einander bestimmt schon dutzende Male begegnet. Ich weiß, dass sie in einer Logistikfirma arbeitet und dass sie die gute Seele in ihrer Pfarrgemeinde ist. Deshalb hat es mich auch nicht gewundert, dass es ihr Pfarrer war, der mich um einen Termin für sie bat. »Also los«, sage ich.
Erneut seufzt Elisabeth Kemäter leise. »Ich weiß es nicht. Vielleicht komme ich nur zu früh in die Menopause. Ich fühle mich so …« Ihr Kopf sinkt noch tiefer.
»Kraftlos?«, frage ich.
»Ja. Dabei ernähre ich mich gesund, mache Nordic Walking, achte auf genügend Schlaf. Auch meine Laborwerte sind in Ordnung.«
Überraschend flink und mit jetzt beflissener Miene zieht sie einen Befund aus ihrer Handtasche und reicht ihn mir. Danach versinkt sie wieder zwischen ihren Schultern.
Ich überfliege den Befund. Tatsächlich unauffällig, abgesehen von einem leicht erhöhten Wert bei der Blutsenkung. Das kann alles und nichts bedeuten. Meistens steckt eine harmlose Entzündung dahinter. In seltenen Fällen kann es aber auch Krebs sein. Ich mustere sie eingehend. »Haben Sie Probleme mit dem Zahnfleisch?«
Sie schüttelt den Kopf. »Mein Zahnarzt sagt, wenn nach dem großen Atomkrieg irgendwas übrig bleibt, dann ist das mein Gebiss.« Immerhin lächelt sie jetzt und zeigt mir tatsächlich strahlende Zähne.
»Irgendwelche Schwellungen haben Sie auch nicht bemerkt?«, frage ich weiter.
Sie schüttelt den Kopf. »Keine Schwellungen, keine Schmerzen. Seit vier Monaten nehme ich alle erdenklichen Vitamine und Spurenelemente zusätzlich zum Essen. Und ich trinke zweieinhalb Liter Wasser am Tag.«
»Sehr brav.« Ich zwinkere. »Also stehen wir vor einem Rätsel.«
Ich frage nach ihren Lebensumständen. Dafür nehme ich mir Zeit. Aber es ist nichts weiter auffällig, außer dass sie sich offenbar sowohl im Beruf als auch in der Pfarrgemeinde sehr für andere einsetzt. Das mag zwar anstrengend sein, ist jedoch noch kein Grund für ein andauerndes Schwächegefühl. Zumal sie ansonsten alles richtig macht. Sie raucht nicht, trinkt nur selten Alkohol, ernährt und bewegt sich altersgemäß vorbildlich, erfährt auch viel Zuwendung von Familie und Freunden, weshalb sie meint, sie könne sich nicht wirklich als alleinstehend bezeichnen, obwohl sie allein lebt. Gemäß ihren Worten müsste sie kerngesund sein. Ihre zusammengesunkene Körperhaltung steht allerdings in krassem Gegensatz zu diesen Worten.
Da mir das Gespräch keine konkreten Anhaltspunkte liefert, wird es Zeit für die körperliche Untersuchung. Ich bitte sie, den Mund zu öffnen und sehe mir ihre Zunge an. Die ist unauffällig. Nun nehme ich ihre Hände und beginne mit der Pulsdiagnostik. Was ich dabei spüre, entspricht ganz ihrer Körperhaltung. Sie ist tatsächlich schwach. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr.
Ich bitte sie hinüber zur Liege hinter den Paravent und ersuche sie, den Oberkörper freizumachen. Aber auch das Abklopfen und Abhören bringt kein spezifisches Ergebnis, außer dass Herz und Lunge sich normal anhören.
Mit ihrer Erlaubnis taste ich auch ihre Brust ab, fühle jedoch zum Glück keine Knoten. Sollte sich irgendwo ein Tumor verstecken, dann ist er entweder noch klein oder er versteckt sich sehr gut.
Fazit: Ich kann nicht genau sagen, woher diese große Schwäche kommt. Genau dieser Umstand bereitet mir Sorgen.
Ich ersuche Elisabeth Kemäter, sich wieder anzuziehen und auf dem Patientenstuhl Platz zu nehmen. Dessen Stabilität wird sie jetzt brauchen. Ich teile ihr das Ergebnis meiner Untersuchung mit. »Es muss nicht Krebs sein, aber es könnte Krebs sein.«
Sie sackt noch weiter in sich zusammen und wendet sich ab. »Das ist ein Albtraum«, murmelt sie.
»Wie gesagt, es muss nicht Krebs sein«, versuche ich ihr ein wenig Mut zu machen. Aber ich muss ihr auch sagen, dass es etwas Ernstes sein kann. Das gehört so schnell wie möglich abgeklärt.
Zum Glück gibt es Möglichkeiten, Genaueres herauszufinden. Ich schreibe ihr eine Überweisung zur Computertomographie und zur Mammographie und empfehle ihr ein Spital mit einem Brustkompetenzzentrum. Vorsicht ist besser als Nachsicht. Der schlimmste Fall, also in diesem Fall Krebs, sollte entweder durch exakte Untersuchungsmethoden ausgeschlossen oder so schnell wie möglich erkannt und behandelt werden. Außerdem verschreibe ich ihr einige Kräuter, damit es ihr von der Kraft und von der Psyche her besser geht.
Ein ganzes Jahr lang höre und sehe ich nichts mehr von Elisabeth Kemäter. Das ist in meiner Ordination nichts Ungewöhnliches. Ich bin kein Hausarzt, der für eine fixe Gruppe von Patienten die zentrale Ansprechstelle in Sachen Gesundheit ist. Ich bin Wahlarzt. Nur jene Patienten, für die ich einen Therapieplan mache, will ich zur Kontrolle wiedersehen. Wenn ich Personen an andere Stellen weiter verweise, dann erwarte ich nicht unbedingt, dass sie wiederkommen.
Über die Terminanfrage von Elisabeth Kemäter nach einem Jahr freue ich mich. Schließlich bin ich neugierig zu hören, wie es ihr ergangen ist.
Ich nehme meine Patienten gerne wie ein guter Gastgeber in Empfang. Daher gehe ich üblicherweise durch den kleinen Gang, der zu meinem Behandlungsraum führt, hinaus ins Wartezimmer.
Auch Elisabeth Kemäter gehe ich entgegen. Bei ihrem Anblick erschrecke ich innerlich. Sie sieht elend aus. Den Kopf hält sie zwar nicht gesenkt wie bei ihrem Besuch vor einem Jahr. Aber dass sie schwer krank ist, sieht auch jemand, der keine medizinische Ausbildung hat. Sie ist blass, ihre Wangen sind eingefallen. Vor einem Jahr war sie schlank, jetzt wirkt sie ausgezehrt. Ihre Körperhaltung hingegen wirkt trotzig. Erhobenen Hauptes reicht sie mir die Hand, sichtlich bemüht um einen kräftigen Händedruck, der gleichwohl schwach ausfällt.
Ich beginne unser Gespräch trotz meiner Bestürzung mit der Frage, was seit ihrem letzten Besuch passiert ist.
Daraufhin erzählt mir Elisabeth Kemäter, dass sie vor vielen Jahren einmal auf einer Krebsstation zu Besuch war. Die von der Chemotherapie aufgedunsenen Gesichter haben sie danach bis in ihre Träume verfolgt. Aus dem Schlaf aufgeschreckt sei sie immer an dem Punkt, wo sie im Traum in die Krebsstation eingeliefert wurde. Daher habe sie es nicht über sich gebracht, in das von mir empfohlene Spital zu gehen. Mit anderen Menschen über ihr Problem reden wollte sie auch nicht, denn sie habe niemanden belasten wollen. Stattdessen habe sie sich im Internet schlau gemacht, was man bei Krebs so alles tun könne. Da sei sie auf einen Arzt gestoßen, also einen echten Schulmediziner, keinen seltsamen Kurpfuscher. Über diesen Arzt wurde von mehreren Seiten berichtet, dass er Krebspatientinnen ohne Chemotherapie geheilt habe. Deshalb sei sie zu ihm gegangen. Er habe eine Mammographie mit ihr gemacht, und tatsächlich: Brustkrebs. Daraufhin habe sie mit ihm die Alternativen zur Chemotherapie erörtert und sich für Vitamininfusionen, Hyperthermie und Ozonspritzen entschieden.
An dieser Stelle muss ich den Impuls unterdrücken, die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen. Alle diese Therapien wurden wissenschaftlich untersucht und haben bei Krebs nachweislich keinen Effekt gezeigt.
»Bei den Therapien habe ich sofort gemerkt, dass sie gut wirken«, fährt Elisabeth Kemäter mit ihrer Erzählung fort. Sie habe natürlich auch brav die Kräuterpillen genommen, die ich ihr verschrieben habe. Die Kombination habe der Arzt auch ausdrücklich befürwortet. Dann habe sie die Frau des Arztes kennengelernt. Sie beschreibt sie als »beeindruckende, feine Dame«. Die lud sie einmal zum Tee ein, weil der Herr Doktor noch mit einem anderen Patienten beschäftigt war. Sie seien auf die Heilkraft der geistigen Welt zu sprechen gekommen und darauf, dass es viel mehr zwischen Himmel und Erde gäbe, als wir uns vorstellen können. »Da konnte ich als Gläubige der Frau Doktor nur zustimmen«, sagt sie.
Die »Frau Doktor« habe ihr anvertraut, dass sie schon in der Kindheit die Strahlungen, die von Menschen, Tieren und Pflanzen ausgehen, gesehen habe. Das sei für sie so normal gewesen, dass sie erst mit der Zeit herausgefunden habe, dass andere Menschen diese Fähigkeit nicht haben. Sie habe dann jahrelang kein Wort mehr darüber verloren. Aber sie habe gelernt, die Menschen anhand ihrer Strahlung einzuschätzen. In ihren Mann habe sie sich deswegen auf den ersten Blick verliebt. Aber erst nach der Hochzeit habe sie sich ihm anvertraut. Er habe ihr geraten, eine Ausbildung als Medium zu machen.
Der Arzt habe das Gespräch unterbrochen, indem er sie zur Therapie bat, aber sie sei nun neugierig gewesen. Sie habe sich ein Herz gefasst und beim Arzt nachgefragt. Er habe ihr gesagt, dass seine Frau ausgewählte Patienten von ihm als therapeutisches Medium begleite. So habe es angefangen.
Die »Frau Doktor« habe sie wirklich intensiv mental unterstützt. Erst in letzter Zeit habe Elisabeth Kemäter bemerkt, dass sie wieder etwas schwächer geworden sei. Da habe sie gedacht, vielleicht habe sich die Wirkung der Kräuter in Verbindung mit der Ozontherapie abgenutzt. Sie wollte von mir wissen, ob ich nicht noch andere Kräuter habe, die ihr neue Kraft geben können.
Es gibt Momente, da muss ich in meinem Berufsleben als Arzt erst einmal tief durchatmen. Um nicht vorschnell zu urteilen, untersuche ich sie gründlich. Fazit: Ihr Zustand ist noch schlimmer, als die Blickdiagnose offenbart. Obwohl es mir menschlich schwerfällt, ist es meine Pflicht, ihre Hoffnung in die unnütze Therapie zu zerstören. Allerdings versuche ich, ihr die Wahrheit so schonend wie möglich beizubringen. Ich erkläre ihr, warum es möglich ist, dass speziell im Internet Therapien von Patienten empfohlen werden, obwohl diese Therapien erwiesenermaßen nichts bringen.
Das Problem ist, dass Patienten in manchen Fällen nicht einschätzen können, ob die Behandlung erfolgreich war. Das ist besonders häufig bei Krebs der Fall, denn Krebs spüren die Betroffenen die längste Zeit nicht. Manche Behandlungen wirken zwar nicht gegen den Krebs, aber sie sorgen dafür, dass die Patienten ein besonderes körperliches Wohlbefinden entwickeln. Sie fühlen sich gestärkt. Ich habe oft Krebspatienten, die sich bestens fühlen. Wenn sie nicht wüssten, dass sie an Krebs leiden, hätten sie gar kein Problem. Sie hätten gar keinen Grund, zu mir zu kommen. Ihre Lebensqualität wäre nicht gemindert. Bis zu einem gewissen Punkt.
Mit der falschen Therapie wächst der Krebs im Körper ungehindert weiter. Viele Krebsarten bilden Metastasen, also Tochtergewebe, die sich über den ganzen Körper verbreiten können. Irgendwann kommt der Punkt, ab dem das Immunsystem gegen zu vieles gleichzeitig kämpfen muss. Dann wird der Körper ganz schwach und verfällt.
Elisabeth Kemäters Augen weiten sich vor Entsetzen, als sie das hört.
Offenbar habe ich genau den Prozess beschrieben, den auch sie durchmacht. Ich nehme ihre Hände in meine und beschwöre sie. »Bitte fahren Sie ins Spital. Immerhin haben Sie noch keine Schmerzen. Vielleicht ist es noch nicht zu spät.«
Elisabeth Kemäter verlässt meine Praxis heulend. Ich bin nicht sicher, ob ich jemals wieder von ihr hören werde.
Zwei Monate später bekomme ich von ihr einen Anruf. »Ich bin geheilt«, berichtet sie mir mit jubelnder Stimme.
Sie erzählt, dass sie nach dem Besuch bei mir geradewegs zu jenem Arzt und seiner »Frau Doktor« gefahren ist und ihnen berichtet hat, was ich gesagt habe. Das hätten die beiden sehr ernst genommen und sie an eine Klinik in Deutschland verwiesen. Dort sei sie nun acht Wochen lang wirklich intensiv von früh bis spät behandelt worden. Heute ist sie endlich entlassen worden. Der Chefarzt habe ihr persönlich attestiert, dass ihr Körper krebsfrei sei.
Da kann ich nur den Kopf schütteln. »Frau Kemäter, bitte verzeihen Sie, aber das kann ich beim besten Willen nicht glauben. Bei Ihrem Zustand wäre eine vollständige Heilung in nur acht Wochen wirklich ein Wunder.«
Ich erkläre ihr, dass sie mir das nicht glauben muss, dass sie es aber überprüfen soll. Sie hat eine Möglichkeit, festzustellen, ob ihr Körper wirklich frei von Krebszellen ist. Eine histologische Untersuchung kann ihr hundertprozentige Sicherheit geben.
Sie seufzt hörbar. »Herr Doktor Bhalla, ich hätte gehofft, dass Sie sich mit mir freuen. Vielleicht schaffen Sie das, wenn wir uns das nächste Mal begegnen. Bis dahin wünsche ich Ihnen alles Gute.«
Bevor ich weiter auf sie einreden kann, beendet sie das Gespräch.
Wenige Wochen später erhalte ich einen Anruf von ihrem Pfarrer. Elisabeth Kemäter hat ganz plötzlich starke Schmerzen an der Wirbelsäule bekommen. Die Rettung musste sie ins Spital bringen. Die Ärzte dort haben festgestellt, dass ihr ganzer Körper voller Metastasen ist. Der Pfarrer sagt, sie wolle in ihren letzten Tagen keine Besuche. Aber er solle mir etwas ausrichten. Elisabeth Kemäter möchte mir danken für meine Warnungen und sich entschuldigen für das letzte Telefonat, das sie so vorschnell beendet hat.
Zwei Wochen später informiert mich der Pfarrer vom Tod von Elisabeth Kemäter. Zum Glück musste sie nicht mehr sehr lange leiden. Der Pfarrer sagt mir auch, welche Art von Krebs sie getötet hat. Es war eine besonders aggressive Krebsart, bei der allerdings mit einer rechtzeitigen Chemotherapie hohe Heilungschancen bestanden hätten.
Elisabeth Kemäter könnte heute noch leben, wäre sie nicht einem Arzt auf vermeintlich alternativmedizinischen Abwegen in die Hände gefallen und seiner »Frau Doktor«, die selbst natürlich nie Medizin studiert, sondern den Titel quasi informell mit der Ehe übernommen und daraus gemeinsam mit ihrem Mann ein zweifellos lukratives Geschäftsmodell entwickelt hat. Zum Zeitpunkt ihres Todes war Elisabeth Kemäter erst 48 Jahre alt.