Buch lesen: «Die Umrundung des Nordpols»
DELIUS KLASING VERLAG
Ich möchte dieses Buch den Menschen
in Nunavut und der Crew der DAGMAR AAEN
widmen, ganz besonders aber meinem
Freund Slava Melin, ohne den es diese Expedition
niemals gegeben hätte.
VORWORT
Das Epizentrum des Abenteuers lag bis Ende der Neunzigerjahre in den Hohen Breiten: »No man’s Land«. Nordpol, Südpol, die Nordwestpassage oder die Nordostpassage hatten längst ihren festen Platz in den Geschichtsbüchern. Nichts für Otto-Normal-Segler, aber mit Dramen und Heldengeschichten gesäumt recht gut erforscht. Grönland und Spitzbergen hingegen waren immerhin erreichbar – und dennoch damals für die meisten Segler als Ziel so abwegig wie eine Reise zum Mond. »Arschkalt« war es dort, nein danke! Man suchte die Wärme, die Sonne, den Sommer. Verleger rümpften die Nase, wenn man ein Buch über eine Reise nach Grönland schreiben wollte. »Wer soll denn das kaufen? Fahr doch mal in die Südsee. Lauschige Ankerplätze und Palmen, das ist es, was die Menschen sehen wollen.«
Ganz unrecht hatten sie nicht. Aber ganz recht eben auch nicht. Denn die Grönlandbücher wurden gekauft – und nicht zu wenige davon. Wie konnte das angehen? Außer uns gab es vielleicht maximal noch eine Handvoll Segler, die es ins Eis zog. Wir waren eine kleine, eingeschworene Gemeinschaft. Man kannte sich, half sich gegenseitig, tauschte Erfahrungen, Seekarten, Wetterberichte und Konservendosen aus. So ähnlich muss es in den Sechzigerjahren den ersten Weltumseglern ergangen sein. Sie waren eine Avantgarde, lebten die eigenen Träume und die von anderen. Man war Wegbereiter, Pionier und Stellvertreter für diejenigen, die sich eine solche Reise nicht ermöglichen konnten – oder sich nicht trauten.
Seither hat sich viel verändert. ARC-Regatten, GPS und moderne Kommunikationsmittel haben die Angstschwelle vor langen Ozeanpassagen gesenkt und auch für jene erreichbar gemacht, die den Umgang mit Sextanten und HO-Tafeln scheuen. Längst ist eine Reise in die Karibik kein Privileg von Aussteigern mehr. Schön ist es dort trotzdem. Nur die Exklusivität ist dahin.
Auch die Boote sind größer und komfortabler geworden. Eine gut funktionierende Bordheizung wird heute nicht mehr mitleidig belächelt und »Weicheiern« oder »Warmduschern« zugeordnet – sie ist bei vielen Booten heute Standard. Das alles – und eine sich verändernde Natur – ließen plötzlich neue Horizonte auftauchen. Vielleicht war es ja doch nicht so abwegig, eine Reise in die Hohen Breiten zu unternehmen?
Das Ende eines Mythos ist die Beliebigkeit. Sir Edmund Hillary und Tenzing Norgay, die Erstbesteiger des Mount Everest, würden sich im Grabe umdrehen, wenn sie sie wüssten, welche Menschenlawinen sich alljährlich über den höchsten Berg der Welt wälzen. Dieses Jahr wird ein neuer Besucherrekord erwartet. Höher hinauf geht es nicht auf Erden – das macht den ultimativen Kick aus. Gebucht wird der Gipfel über Reiseveranstalter, möglichst mit Gipfelgarantie und in der Hoffnung, die körperliche Unversehrtheit und die erforderliche Fitness gleich mitgekauft zu haben. Mount Everest »all inclusive«. Da ist er hin, der Mythos.
Eine ähnliche Entwicklung nehmen neuerdings die polaren Routen, allen voran die Nordwestpassage. Der Klimawandel macht es möglich. Was hätte wohl ein John Franklin, ein Roald Amundsen oder auch ein Willy de Roos gedacht, wenn ihnen auf ihrer einsamen Reise durch die Nordwestpassage ein Schiff wie die CRYSTAL SERENITY begegnet wäre? Das Passagierschiff ist stolze 250 Meter lang und 32 Meter breit. Es bietet rund 1.100 Passagieren sowie 655 Crewmitgliedern Unterkunft. Auf den diversen Decks werden erlesene Speisen und Weine gereicht, und durch die großen Panoramascheiben lässt man lässig die felsigen Küsten der Nordwestpassage passieren. Derjenige, der sich den Spaß leisten kann, schwelgt im Luxus und lässt sich in klimatisierten Räumen eiskalte Schauder über den Rücken laufen, während ihm Lektoren sachkundig von den Dramen im ewigen Eis erzählen.
»Reisen ins Eis waren stets mit einem hohen Risiko behaftet. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Das haben wir akzeptiert – sozusagen als Eintrittskarte in eine Welt voller Wunder.«
Die Nordwestpassage weich gespült, bei schaurig schönen Geschichten über Skorbut und Kannibalismus, über Erfrierungstod und Verzweiflung bei Kaviar und Champagner. Die CRYSTAL SERENITY eröffnet eine neue Dimension, ein neues Zeitalter. In einem Fernsehinterview räumt der Kapitän des Liners ganz gelassen ein, dass sein Schiff überhaupt keine Eisklasse habe. Das Schiff bricht mit allen Konventionen. Im Sommer 2017 ist eine erneute Passage geplant.
Als wir nach 1993 im Jahr 2004 zum zweiten Mal durch die Nordwestpassage fuhren, hatte sich bereits vieles verändert. Es war wie eine Zeitreise. Der Klimawandel und dessen Auswirkungen waren in aller Munde. Im Jahr 2002 hatten wir die Nordostpassage auf der russischen Seite ohne große Probleme passiert und damit als erstes Schiff den Nordpol aus eigener Kraft komplett umrundet. Dafür hatten wir stattliche vier Anläufe gebraucht. Und auch auf dem anschließenden Weg durch die Nordwestpassage mussten wir noch auf halben Weg überwintern: Das Eis war zu mächtig. Außer uns überwinterten noch drei weitere Yachten in Cambridge Bay. Das erschienen uns schon irritierend viele zu sein, zumal zwei der Yachten von Bauart und Ausstattung her eher in die Südsee passten. Früher kannte ich die Namen jedes Bootes und jedes Skippers, der versucht hatte, die Passage zu durchfahren. Inzwischen habe ich aufgehört zu zählen. Es sind einfach zu viele geworden. Als wir 2004 die Nordwestpassage mit Kurs Grönland hinter uns ließen, waren wir bereits das 98. Schiff, dem das gelungen war – seit der ersten Durchquerung von Amundsen 1903–1906. Am Ende der Navigationsperiode 2016 hatten insgesamt 255 Schiffe die Passage bewältigt – also 157 Schiffe in 12 Jahren!
Längst geht es nicht mehr um das, was früher das alleinige Maß aller Dinge war – heil durchzukommen. Es geht heute um neue Routen, um Geschwindigkeitsrekorde, um das kleinste Schiff, das schnellste oder sonderbarste Gefährt.
Möglich geworden sind diese Passage durch das allgemeine Tauwetter in der Arktis. Nur wenn sich ein wenig mehr Eis in der Passage hält als in den Jahren zuvor, verspürt man noch einen Hauch der alten Nordwestpassage, des ansonsten verblichenen Mythos. Dann gerät der Versuch schnell zur Hybris – Schluss mit lustig! Was viele unterschätzen: Die Passage ist auch ohne Eis eine echte Herausforderung. Sie ist einige tausend Meilen lang, das Wetter kann – besonders im September – sehr stürmisch sein. Und vollkommen verschwunden ist das Eis natürlich nicht. Irgendwo lauern immer wieder mehr oder weniger dichte Eisfelder, die mit dem Wind und der Strömung hin- und hertreiben. Mit dem Erreichen der Beringsee wähnen sich einige bereits auf der sicheren Seite. Aber dieses Meer ist immer gut für eine böse Überraschung. The »Cradle of the Storms – die Wiege der Stürme« werden die Aleuten ein wenig martialisch genannt. Der Name kommt nicht von ungefähr. Sichere Häfen gibt es mit Ausnahme von Dutch Harbour im Süden der Beringsee und Cambridge Bay mitten in der kanadischen Arktis so gut wie keine. Die logistische und auch die mentale Herausforderung für den Segler ist enorm. Man sollte sich sehr genau prüfen, ob man sich ihr gewachsen fühlt. Nicht wenige Versuche von Seglern enden, bevor die eigentliche Reise begonnen hat.
Die Umrundung des Nordpols bleibt trotz Klimawandel eine echte Herausforderung für Material und Segler. Deshalb sollte man mit dem gebührenden Respekt an die Aufgabe herangehen. Trotz moderner Ausrüstung und akkurater Wetter- und Eisprognosen reist das Risiko gewissermaßen als blinder Passagier immer mit. Mein Interesse galt schon immer den Polarregionen. Sie waren einer der Gründe, weshalb ich mir ein Schiff wie die DAGMAR AAEN zugelegt habe. Ich wollte ein eisgängiges Schiff haben, wollte unabhängig sein, im Polareis überwintern und vom eingefrorenen Schiff aus Landexpeditionen unternehmen. Meine Motivation war eine andere, als die der meisten Segler, die heute durch die NWP oder in Teilen auch durch die NOP fahren. Ich war gekommen um zu bleiben – und nicht um möglichst schnell wieder in wärmere Gefilde zu entschwinden. Für diese Art zu segeln, im Eis zu leben und zu überleben, hatten wir jahrelang Erfahrungen gesammelt. Eis und Kälte waren kein fremdes Medium für uns. Wir fühlten uns wohl, so wie es war – trotz Risiko und Kälte. Reisen ins Eis waren stets mit einem hohen Risiko behaftet. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Das haben wir akzeptiert – sozusagen als Eintrittskarte in eine Welt voller Wunder. Es war die Paarung zwischen seglerischer Herausforderung, Planung, Teamarbeit und einem gigantischen Naturerlebnis. Das ist mein Verständnis von Abenteuer. Und ich glaube auch, dass die Menschen die sich dieses Jahr erneut auf Booten in die Hohen Breiten wagen, gewissermaßen den Gegenpol zu dem völlig durchorganisierten und in einem eng gefassten Raster aus Richtlinien und Verpflichtungen verlaufenden Leben suchen. Auf Zeit versteht sich. Man nennt es auch Sehnsucht.
Als ich im September 1994 beim Verlassen des Hafens von Providenija die letzten tristen und baufälligen Gebäude der Stadt hinter einer Fjordbiegung verschwinden sah, war meine erste Amtshandlung den Deckwaschschlauch hervorzuholen und die Pumpe anzustellen. Mit zusammengebissenen Zähnen, verbittert und ohne einen weiteren Blick nach achtern zu werfen, spritzte ich das Deck von Ruß, Kohlenstaub und Sand frei – mit einer Entschlossenheit, als könnte ich damit gleichsam auch unliebsame Erlebnisse und Erinnerungen über Bord waschen. Für mich war das Thema Russland durch. Ich war frustriert, enttäuscht, wütend und traurig zugleich. Nein, hier wollte ich nicht wieder hin.
Der Versuch der Durchfahrung der Nordostpassage war im dritten Anlauf gescheitert. Weniger wegen der schwierigen Eisverhältnisse – damit hätte ich gut leben können –, sondern vielmehr wegen der ablehnenden Haltung einiger Verwaltungsbeamter und der Hafenbehörde. Warum das so war, habe ich nie verstehen können.
Damals stand für mich fest, dass ich nie wieder mit einem Schiff in die russische Arktis zurückkehren würde. Zu hoch schien mir der Einsatz, zu gering die Erfolgsaussichten und überhaupt – ich hatte die Nase gestrichen voll!
Warum ich im März 2001 dennoch wieder den Entschluss fasste, einen weiteren Versuch zu unternehmen, kann ich auch heute nicht genau erklären. Sibirien entlässt einen nicht so mir nichts dir nichts. Man kann sich nicht einfach von dem Land mit all seinen Ärgernissen und Widrigkeiten, aber auch von seiner Faszination lösen. Sibirien bedeutet Widerspruch. Ich hatte Abstand gewonnen, mich aber niemals richtig gelöst. Ich hatte probehalber im Sommer einen Törn nach St. Petersburg unternommen und verwundert festgestellt, dass sich das Land gewandelt hatte. Aber St. Petersburg ist nicht Sibirien.
Sich auf die Nordostpassage erneut einzulassen, hieß endlose Korrespondenz mit russischen Behörden einzugehen. Eine Kalkulation zu erstellen, die eigentlich nur aus lauter Unbekannten bestehen würde. Ich würde mich wieder in die Hände von Menschen begeben, die gnadenlos jeden abzocken, der sich in ihren Einflussbereich begibt. Ich würde mich nur darauf einlassen, wenn mein russischer Freund und Expeditionsbegleiter Slava mit von der Partie wäre. Er sicherte mir dies spontan zu, wir stießen mit einem Glas Vodka darauf an – und ich war gefangen.
Noch lange danach quälte mich die Unsicherheit, ob ich mich hier auf etwas eingelassen hatte, das meinem eigenen innersten Wunsch entsprach oder ob es hier um schlichte Überredungskunst sowie eine sportliche Herausforderung ging – mit sehr ungewissem Ausgang. Letztere Gründe wären ein schlechter Ratgeber gewesen. Das Eis schreckte mich nicht – obwohl ich allen nötigen Respekt davor habe. Aber die Ungewissheit, ob wir alle Genehmigungen erhalten würden, und natürlich die Erfahrungen der früheren Reisen – das machte mir Angst.
Deshalb soll dieses Buch auch kein schlichter Bericht einer Eisfahrt werden. Ich habe so viele Meilen im Eis und unter schwierigsten Bedingungen zurückgelegt, dass ich diese Art zu reisen trotz aller Faszination als eine Art Handwerk verstehe. Ich habe gelernt, mit dem Eis umzugehen, auch wenn ich immer wieder staunend und sorgenvoll wie ein Berufsanfänger vor neuen Herausforderungen und Schwierigkeiten stehe. Die Abenteuer stellen sich ganz von allein ein. Aber ich brauche mir diesbezüglich nichts mehr zu beweisen. Sibirien hingegen ist für mich etwas sehr Persönliches. Sibirien ist anders. Sibirien hält mich gefangen. Gerade in der Retrospektive zu unseren früheren Reisen im Rahmen der Icesail-Expedition würden sich interessante Vergleiche herstellen lassen.
Als wir 1991 nach Russland einliefen, gab es noch die Sowjetunion. Wir hatten den Militärpautsch im August 1991 ebenso miterlebt wie den Flaggenwechsel von Hammer und Sichel hin zu der russischen Nationale. Keine andere Region der arktischen Hemisphäre ist so abgelegen und verbirgt ihr Antlitz so total wie der sibirische Norden.
Ich werde meine Eindrücke unterwegs zu Papier bringen und sie so stehen lassen, wie sie mir begegnet sind. Vielleicht werde ich am Ende der Saison wieder meinen Deckwaschschlauch hervorkramen und mit finsterer Mine sagen: »Das war endgültig das letzte Mal.« Vielleicht komme ich aber auch zu einem ganz anderen Ergebnis. Und diese Ungewissheit ist Rechtfertigung genug, um eine neue Reise zu unternehmen. Würden wir nicht das Unbekannte wagen, wären wir schon zu Lebzeiten erstarrt.
Murmansk, 21. Juli 2002
Einjähriges Eis, das sich in Auflösung befindet. Aber der Schein trügt: Das Eis ist immer noch knapp zwei Meter dick.
Die Nordostpassage
Die Nordostpassage ist die kürzeste Verbindung zwischen den Häfen Nordeuropas und den Häfen Asiens.
Als Einstieg ein kleines Zahlenspiel: Die Strecke von Hamburg nach Yokohama beträgt auf der Suez-Kanal-Route 11.073 Seemeilen. Auf der längeren Route um das Kap der Guten Hoffnung herum muss ein Schiff sogar 14.542 Seemeilen zurücklegen. Die Nordostpassage jedoch schlägt dagegen lediglich mit 6.920 Seemeilen zu Buche, sie ist also um ganze 4.153 Seemeilen kürzer als die heute gebräuchliche Suez-Route.
Wäre dort nicht das Eis! Die bloße Erkenntnis, dass rein rechnerisch gesehen der Seeweg über den Pol nach Asien kürzer ist als der lange und beschwerliche Weg um die Kontinente mit ihren stürmischen Kaps herum war den Kaufleuten, Geografen und Seefahrern schon seit Jahrhunderten bewusst. Unzählige Schiffe, Besatzungen und kostbare Ladungen gingen auf der Südroute verloren. Anlass genug, um Expeditionen auszusenden, die den Auftrag hatten, eine Passage auf der Nordroute zu erkunden. Es gab aber auch noch eine politische Komponente. Als 1494 im Vertrag von Tordesillas die Welt zwischen Portugal und Spanien sozusagen aufgeteilt wurde, waren anderen seefahrenden Nationen die Südrouten weitestgehend versperrt. Selbstverständlich versuchten diese sich rechtzeitig neu zu orientieren – und damit erwuchs das Interesse an den arktischen Regionen.
England konzentrierte sich auf die Suche nach einer nordwestlichen Durchfahrt, der Nordwestpassage, während Holland sich frühzeitig auf die Suche nach einer nordöstlichen Durchfahrt machte. Die russischen Zaren – in Unkenntnis über die wahre Größe ihres Reiches und den Küstenverlauf – sandten ebenfalls Expeditionen aus, um das Land zu kartografieren und neue Handelswege zu Wasser und zu Lande zu erkunden. Einer der Ersten, der brauchbare Informationen über den östlichen Teil der russischen Nordmeerküste mitbrachte, war der Kosake Semjon Deshnew, der 1648 als Erster mit sechs Booten und 90 Mann von dem Fluss Kolyma bis nach Anadyr segelte und damit den Beweis antrat, dass Sibirien und Amerika nur durch eine Wasserscheide – die Beringstraße – getrennt sind. Lediglich ein Boot und fünfundzwanzig Mann überstanden die Strapazen dieser Expedition. Die Landkarten, die er im Verlauf seiner Reisen anfertigte, unterlagen 100 Jahre lang der höchsten Geheimhaltung.
Der Holländer Wilhelm Barents versuchte 1596, einen Seeweg von Westen kommend zu erkunden und gelangte immerhin bis an die Nordspitze Nowaja Zemljas, wo sein Schiff schließlich einfror und zerdrückt wurde und er sich aus den Wrackteilen mit seiner Mannschaft eine Behausung baute, um den arktischen Winter zu überstehen. 25.000 Gulden – für die damalige Zeit eine unvorstellbar hohe Summe – waren als Belohnung für die Entdeckung einer Passage ausgelobt worden. Zwar gelang es den Holländern, den polaren Winter zu überstehen. Bei dem Versuch, im nächsten Sommer das Festland zu erreichen, erlag Barents jedoch den Strapazen. Die Überlebenden hingegen wurden gerettet und mit ihnen die Aufzeichnungen Wilhelm Barents’. Die Passage hatten sie nicht entdeckt, wohl aber das Wissen über diese Region vertieft. 300 Jahre später wurden durch einen Zufall sogar die Reste des Winterlagers auf Nowaja Zemlja gefunden. Damit ist diese Expedition vermutlich nicht nur eine der frühesten auf der Suche nach der Nordostpassage, sondern zugleich diejenige, die am besten dokumentiert ist.
Als eigentlicher Entdecker der Nordostpassage gilt der schwedische Baron Adolf Erik Nordenskiöld. Mit seinem Schiff VEGA durchfuhr er von 1878 bis 1879 vollständig die Passage. Günstige Eisverhältnisse erlaubten ihm innerhalb eines Sommers bis kurz vor die Beringstraße zu segeln, und hätten sie nicht – wie Nordenskiöld selbst freimütig einräumt – an der einen oder anderen Stelle unnötig Zeit verloren, hätten sie ohne weiteres die gesamte Durchfahrt in nur einer Navigationsperiode schaffen können. So aber blieben sie – nur wenige Meilen vom offenen Wasser entfernt – an der Tschukotka-Halbinsel liegen und mussten den Winter dort verbringen. Da es keine Kommunikationsmöglichkeiten mit der Außenwelt gab, war die Überfälligkeit der Expedition Anlass zu Spekulationen. Der amerikanische Zeitungsbaron Bennet ließ an der Westküste der USA die JEANETTE ausrüsten, die unter Leitung von De Long Richtung Beringstraße und Polarmeer segeln sollte, um nach der VEGA zu suchen.
Während die VEGA problemlos den arktischen Winter überstand, wurde die JEANETTE vom Eis eingeschlossen. Diese Expedition sollte sich zu einem der größten Dramen in der Polargeschichte entwickeln. Das Schiff wurde nach monatelanger Drift schließlich vom Packeis zerstört. De Long und seine Männer flüchteten in drei Rettungsbooten über die Neusibirischen Inseln und erreichten schließlich an unterschiedlichen Stellen das Lenadelta. Das eine Boot landete in unmittelbarer Nähe des heutigen Ortes Tiksi. Die erschöpfte Bootsbesatzung wurde von Einheimischen gerettet. De Long und seine Bootsbesatzung hingegen landeten weiter im Norden des Deltas. De Longs Tagebuchaufzeichnungen über das langsame Sterben stehen an Dramatik den letzten Tagebuchseiten von Robert Falcon Scott in der Antarktis in nichts nach. Immerhin wurden die Leichen sowie die Aufzeichnungen und Tagebücher entdeckt und die sterblichen Überreste bestattet. Das dritte Boot hingegen wurde nie wieder gesichtet.
Wrackteile der JEANETTE wurden quer über das Polarbecken bis nach Grönland getrieben.
Während De Long und seine Leute ihrem Ende entgegendrifteten, gelang es Nordenskiöld im darauf folgenden Sommer, durch die Beringstraße zu segeln und ohne weitere Probleme auf der Südroute zurück nach Schweden zu gelangen. Währenddessen wurden Wrackteile der JEANETTE quer über das Polarbecken getrieben und von der Strömung letztlich an der Südwestküste Grönlands wieder freigegeben, wo sie schließlich von Jägern entdeckt und eindeutig identifiziert werden konnten.
Mit dieser Entdeckung war Fridtjof Nansens Plan geboren, mit einem eigens dafür gebauten Schiff die Polardrift zu untersuchen. Von dem norwegischen Bootsbauer Colin Archer wurde die FRAM gebaut, ein Schiff, das in Bauweise und Robustheit einzigartig war. Mit der FRAM segelte Nansen 1893–1896 bis zu den Neusibirischen Inseln, ließ sich dort gezielt einfrieren und mit der Drift nach Norden treiben. Niemals zuvor hat ein solideres Schiff die polaren Gewässer befahren als die FRAM.
Trotzdem gab es im Verlauf der Expedition Momente, in denen die Expeditionsmannschaft daran zweifelte, ob der Rumpf dem gewaltigen Druck des Packeises standhalten würde. Er tat es – als erstes Schiff überhaupt – und wurde bekanntermaßen in den späteren Jahren auf anderen Expeditionen erfolgreich eingesetzt, unter anderem von Roald Amundsen für seine Südpol-Expedition.
Die russische Revolution schließlich ließ ein anderes Zeitalter aufziehen. In spektakulären Expeditionen wurde der Norden mit immer moderner und stärker werdenden Eisbrechern, ausgerüstet mit Dampfmaschinen, angegangen. Auch hier gab es Tragödien, Schiffsuntergänge und Helden, die den neuen Machthabern als Aushängeschild dienten. Jede einzelne dieser Expeditionen, ob von Nordenskiöld oder die Fahrt des Eisbrechers SIBIRIJAKOW im Jahr 1932, der die Passage erstmals in einer Navigationsperiode bewältige, sind in umfangreichen Büchern dokumentiert worden. Wenig dagegen findet sich über die vielen Pioniere, die häufig genug die Wissensgrundlage für die großen staatlichen Expeditionen gelegt haben: die Walfänger und Kaufleute.
Der deutsche Kapitän Eduard Dallmann beispielsweise ist einer der engagierten Kapitäne gewesen, der im Auftrag von Kaufleuten und Reedern schon Jahre vor Nordenskiölds Durchfahrung einige Fahrten zum Ob und Jenissei unternommen und dabei wirtschaftliche Kontakte geknüpft hatte. So gesehen war er seiner Zeit weit voraus. Zusammen mit Karl Koldewey stellt er für mich auch im internationalen Vergleich einen der ganz großen Polarfahrer dar. Dallmann wie auch Koldewey waren Seeleute durch und durch. Auf See an Bord eines Schiffes fühlten sie sich am wohlsten, die Öffentlichkeitsarbeit überließen sie anderen. Ihnen ging es nicht um nationales oder persönliches Prestige, sondern sie waren im wahrsten Sinne des Wortes Pioniere und Wegbereiter für Kaufleute, die ihren Routen folgen sollten.
Der merkantile Gedanke zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Nordostpassage. An seiner Peripherie tummelten sich über Jahrhunderte hinweg immer wieder Expeditionen, von denen jede für sich ein episches Drama wie Shackletons ENDURANCE-Expedition war. Aber richtungsweisend waren die Männer wie Dallmann, der 1877 in nur einem Sommer eine Reise von Bremen zum Jenissei und zurück unternahm. Oder der Engländer Wiggins, unter dessen Leitung 1878 und 1888 insgesamt 14 große Dampfer – beladen mit Handelsware – den Ob und den Jenissei erreichten, sowie Jonas Lied, ein norwegischer Reeder, der in den Anfängen des 20. Jahrhunderts mit seiner Siberian Steamship, Manufacturing and Trading Ltd. die wirtschaftliche Bedeutung des sibirischen Nordens erkannte.
Mit einer Flotte von 60 Dampfern und 170 Lastkähnen erschloss Lied die Flüsse Ob und Jenissei, die ihm als Autobahn ins Innere Russlands dienten. In den Flussmündungen wurden Handelsniederlassungen gegründet. Die florierenden Geschäfte, von Lied clever gemanagt, entwickelten sich trotz der widrigen klimatischen Verhältnisse hervorragend. Holz aus der sibirischen Taiga, Felle und selbst Butter und Fischkonserven wurden aus Sibirien exportiert und im Gegenzug Industrieanlagen und westliche Handelsgüter importiert. Wasserkraftwerke, Sägewerke und Fischverarbeitungsbetriebe wurden eingerichtet, und wäre nicht die Revolution von 1917 gekommen, die wie ein überdimensionierter Wirbelsturm von einem Tag zum anderen alle Investitionen und das Engagement hinwegfegte, hätte die Entwicklung Sibiriens heute einen völlig anderen Stand erreicht. Zwar betraf die Anreise zum Ob und Jenissei erst die westliche und leichter befahrbare Hälfte des Nördlichen Seeweges, aber einfach war es dennoch nicht. Die von den Seeleuten ehrfurchtsvoll als Eiskeller bezeichnete Karasee war alles andere als einfach zu passieren. Insgesamt betrug die Navigationsperiode nur wenige Wochen oder Monate.
Von 1872 bis 1938 wurden dennoch rund 470 Reisen von Handelsschiffen zum Ob und Jenissei durchgeführt. Gab es anfangs auch zahlreiche Schiffsverluste, so besserte sich die Situation etwa von 1915 an. Die Schiffe wurden stabiler und mit größeren, solideren Dampfmaschinen und Schrauben ausgestattet, sodass sie den Eismassen besser widerstehen konnten. Hinzu kam, dass entlang des sibirischen Festlandes von 1910 an auf russische Initiative hin insgesamt 16 Beobachtungsstationen eingerichtet wurden, um Wetter- und Eisbeobachtungen durchzuführen. Ab 1920 gab es sogar Funkbrücken, die die aktuellen Eislagen an die Schiffe weitermorsten. 1932 wurde in Moskau die Hauptverwaltung des Nördlichen Seewegs eingerichtet, eine Behörde, die bis zum heutigen Tag überdauert hat.
Dem Eisbrecher SIBIRIJAKOW unter der Leitung von Otto Schmidt, einem deutschstämmigen Russen, gelang es erstmals im Jahre 1932, den Nördlichen Seeweg in nur 60 Tagen zu durchfahren. Damit war ein neues Zeitalter angebrochen. Während des Ersten Weltkriegs wurden diese Eisbrecher eingesetzt, um die Konvois der Alliierten in die Häfen des Weißen Meeres zu geleiten.
Auch wenn es immer wieder zu Rückschlägen kam und Schiffe wie beispielsweise die TSCHELJUSKIN unter dramatischen Umständen in den Eispressungen zerstört wurden, so bekamen die Sowjets den Nördlichen Seeweg aller klimatischen Widrigkeiten zum Trotz mehr und mehr in den Griff. Zusätzliche Wetterstationen, Lotsendienste, immer stärkere Eisbrecher und später der Einsatz von Flugzeugen ließen die Effektivität der Reisen drastisch ansteigen.
Während des Zweiten Weltkrieges sollte der Nördliche Seeweg mit einer wiederum verstärkten Eisbrecherflotte eine noch größere Bedeutung bekommen. Allein 1942 wurden 44 Schiffe mit alliiertem Kriegsmaterial von Alaska aus durch den Nördlichen Seeweg nach Murmansk geleitet. Während im Nordatlantik die verheerenden Geleitzugschlachten mit furchtbaren Verlusten auf beiden Seiten tobten, war der Nördliche Seeweg mit wenigen Ausnahmen vor dem Zugriff der deutschen Luftwaffe und der Kriegsflotte geschützt. Damit wurde die militärstrategische Rolle des Nördlichen Seeweges erkannt. Sogar ein deutscher Hilfskreuzer, die KOMET unter Kapitän Eyssen, durchfuhr zur Zeit des Hitler-Stalin-Paktes 1940 in nur einer Saison die Passage. Unterstützt wurde er dabei von russischen Eisbrechern. Danach gelang es nur noch dem deutschen Schlachtschiff ADMIRAL SCHEER 1942 bis zu der Ortschaft Dikson vorzustoßen, um im Rahmen eines Überraschungsangriffs den Ort zu beschießen und damit die Geleitzüge durch die Passage zu stören.
Dessen ungeachtet wuchs die Bedeutung des Nördlichen Seeweges kontinuierlich. Rückschläge gab es zwar immer wieder, bei denen sich das Polareis als übermächtiger Gegner selbst für die starken Eisbrecher erwies, aber genau das war der Stoff, aus dem Heldenlegenden gewoben wurden. In spektakulären Rettungsmaßnahmen wurde der Patriotismus geschürt. Die Eisbrecherkapitäne, die ersten Flieger, die Polarforscher, sie alle wurden zu Helden der Sowjetunion. Der Diktator Josef Stalin nutzte den Kampf mit der polaren Natur als Propaganda. Der Nördliche Seeweg war zum Synonym für den Durchhaltewillen des russischen Volkes respektive der sowjetischen Ideologie geworden. Ganze Städte wie Dikson, Tiski, Kap Schmidt oder Pewek entstanden in den folgenden Jahren. Orte, bei denen man sich fragt, worin ihre Existenzberechtigung bestand, da es kaum wirtschaftliche Gründe für ihr Entstehen gab. Aber diese Orte mit Zehntausenden von Einwohnern mussten schließlich versorgt werden – über den Nördlichen Seeweg.
Die Nordostpassage – Stoff, aus dem Heldenlegenden gewoben wurden. Der Kampf mit der polaren Natur als Propaganda.
Mit der Einführung immer stärkerer Eisbrecher, zuletzt mit den bis zu 75.000 PS starken nuklear getriebenen Schiffen der Arktika-Klasse, wurde die Passage in den Siebziger- und Achtzigerjahren fast zu einem Routineunternehmen. Die Logistik für die Konvois war ausgefeilt und ungeheuer effektiv. Die Eiserkundung aus der Luft, eine große Anzahl von Wetterstationen, Satellitentechnik – der Nördliche Seeweg war zu einer wichtigen und sehr lebendigen Lebens- und Verkehrsader geworden.
Anders als das nordamerikanische Pendant, die Nordwestpassage, die in einem Dornröschenschlaf versunken schien und die für die Schifffahrt kaum wirtschaftliche Bedeutung erlangte, war die Nordostpassage, der Nördliche Seeweg, ein hoch effektiver Transportweg geworden, durch den jeden Sommer Tausende von Tonnen an Ladung von Ost nach West oder in umgekehrter Richtung gelotst wurden. Hochleistungseisbrecher standen an den so genannten Flaschenhälsen bereit, um die Schiffe durch die dort meterhohen Eispressungen zu führen, sie notfalls im Schlepp mit brachialer Gewalt zu ziehen. 1977 erreichte der Eisbrecher ARKTICA als erstes Überwasserschiff den Nordpol. Das Schwesterschiff YAMAL hat Anfang des Jahrtausends gerade die zwanzigste Rundreise zum Nordpol unternommen – mit zahlungskräftigen Touristen.
Selbst im Winter werden die Häfen am Jenissei von Eisbrechern angelaufen – beziehungsweise wurden. Denn mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion brach auch dieses gesamte über Jahrzehnte kunstvoll gewachsene Gebilde der Infrastruktur entlang des Nördlichen Seeweges zusammen. Als wir 1991 noch zur Zeit der Sowjetunion in die Passage einfuhren, bekamen wir noch einen eindrucksvollen Einblick in die Funktionsweise der Konvois. Aber bereits damals befand sich alles im Niedergang. Zerfallene Orte, Menschen, die ihr Hab und Gut in Container verluden und – sofern sie es sich leisten konnten – in südlichere Landesteile übersiedelten. Leere Geschäfte, Inflation und verbitterte Verwaltungsbeamte und Militärs, die nicht wahrhaben wollten, dass das Ende der Sowjetherrschaft und damit auch einer ganzen Gesellschaftsstruktur unwiderruflich gekommen war.
1992 waren wir immer noch im Land, sprachlos über den rasanten Verfall allerorts. Waren wir 1991 zumindest freundlich aufgenommen worden, so stießen wir 1994 bei offiziellen Stellen fast nur noch auf Ablehnung. Polarstationen wurden nicht mehr versorgt und infolgedessen aufgegeben. Die Eisbrecherflotte dümpelte zur Untätigkeit verurteilt im Hafen, schlecht gewartete Nuklearantriebe verwandelten sich in tickende Zeitbomben, und die Menschen in den trostlosen Ortschaften entlang des Seeweges waren allein gelassen, verzweifelt und vor schier unlösbare Probleme gestellt. Heizkraftwerke brachen zusammen, es gab keine Kohle mehr, Ersatzteile fehlten überall – und das bei Temperaturen, die im Winter bei 50 bis 60 °C unter Null liegen. In Krankenhäusern wurde bei Minusgraden im Schein von Petrole umlampen operiert. Krankheiten, Unfälle, Alkoholismus forderten einen großen Zoll an Menschenleben. Ich wage zu behaupten, dass sich bei uns in Europa kaum einer vorstellen kann, was das Überleben für die Menschen entlang der Passage bedeutet hat – ärgern wir uns doch schon, wenn vor unserer Haustür eine Straßenlaterne kaputtgeht.