Das Liebesleben eines deutschen Jünglings

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Ein heißer Schmerz krampfte mir das Herz zusammen. Gar zu gern hätte ich ihr noch einmal die Hand gedrückt, noch einmal in die liebevollen, milden Augen geblickt und ihr ein paar Worte der Liebe und des Dankes gesagt. Zu spät! Mit schwerem Herzen sprang ich in den Wagen. Die Kameraden hatten bereits wieder ihren Lieblingsgesang angestimmt. Während mir die hellen Tränen über die Wangen liefen, fiel ich schluchzend ein: »Lieb Vaterland, magst ruhig sein!«

Drei Tage und zwei Nächte fuhren wir mit der Eisenbahn. Von Homburg vor der Höh' ging es in Eilmärschen nach Metz. In Forbach, der ersten französischen Stadt, in die wir für zwei Tage einquartiert wurden, wollten mich meine Quartierwirte, ein altes kinderloses Ehepaar, durchaus bei sich behalten. Ich sei doch noch zu jung, um in den Krieg zu ziehen, sie wollten mich an Kindesstatt annehmen.

Vor Metz, unter Kanonendonner, ging der militärische Drill von neuem los; sogar langsamer Schritt wurde wieder – unglaublich – exerziert, freilich auch, zu unserer aller Freude, die erste Felddienstübung abgehalten.

Auch mit dem ewig Weiblichen kamen wir hier in Berührung. Neben dem Hause, wo wir in einer Scheune kampierten, wohnte eine allerliebste »Blanchicheuse«, die unsere Wäsche besorgte. Aber ich mußte mich begnügen, mit ihr zu plaudern und ein wenig platonisch zu scharmieren; mein Schulfranzösisch kam zu ungeahnten Ehren.

Wieder einmal in meinem jungen Leben mußte ich eine Enttäuschung erfahren. Ach ja, Theorie und Wirklichkeit stimmten gar oft nicht überein! Die fesche, flotte Marketenderin, die die Truppe ins Feld begleitet und die hungrigen und nicht nur nach Schnaps und Bier dürstenden Krieger erquickt, hatte ich mir doch ganz anders vorgestellt, als die Gehilfin unseres Markentenders Vater Zacharias es war, die uns Schinkenstullen zu 50 Pfennig das Stück und ganz scheußlich kratzendes »Eau de vie« kredenzte. Immer unordentlich und schlampig, schon etwas angejahrt, bot sie in ihrem Wollrock und in der Männerjacke einen nichts weniger als berauschenden Anblick. Dennoch zirkulierte das Gerücht in der Kompagnie, daß der Feldwebel und der Unteroffizier der Reserve Zander, ein manierlicher, hübscher, vierundzwanzigjähriger Mensch, gewisse Beziehungen zu der »schönen« Therese, einer unverfälschten Berlinerin, unterhielten.

Als Metz genommen war, ging es in Eilmärschen nach Paris. Zweier Erlebnisse mit schönen Französinnen erinnere ich mich, von denen das eine, bei dem der Unteroffizier die Hauptrolle spielte, recht charakteristisch kriegerisch war. Eines Morgens in aller Frühe, stand die Kompagnie zum Abmarsch bereit. Der Kompagnieführer, ein Premierleutnant, konnte jeden Augenblick kommen. Unteroffizier Zander fehlte noch immer. Der Feldwebel fluchte und fragte seine Leute aus. Die Kerle lächelten nur verschmitzt. Schon sahen wir den Kompagnieführer auf seinem Braunen dahersprengen, da stürmte Zander im Laufschritt heran und erreichte noch rechtzeitig seinen Platz. Unterwegs auf dem Marsch erzählte er mir lachend: »Das tolle Weib, meine Quartierwirtin, wollte mich partuh nicht fortlassen. Eine üppige junge Frau, der Mann im Kriege! Schon die ganze Nacht über hatte sie mir keine Ruhe gelassen. Als ich am Morgen – meine Korporalschaft war schon auf dem Sammelplatz unterwegs – Lebewohl sagte, kam noch einmal eine stürmische Zärtlichkeitsanwandlung über sie. Sie ließ nicht locker; in aller Eile, mit dem gepackten Affen auf dem Buckel, mußte ich ihr noch eine letzte Liebesbezeigung erweisen.«

Das andere Erlebnis war zarter, poesievoller; es hat sich als eine meiner lieblichsten Erinnerungen an den Feldzug 1870/71 meinem Gedächtnis eingeprägt. Es war in einem lothringischen Dorf, als ich eines Abends um zehn Uhr von einem Besuch bei einem Kameraden, dem Avantageur Arthur Zeydel, an den ich mich angeschlossen hatte, nachdem Kersten in ein anderes Bataillon versetzt worden war, in mein Quartier zurückkehrte. Ich war angenehm überrascht, als ich in dem geräumigen Wohnzimmer, das der Familie zugleich als Schlafzimmer diente, neben der jungen Tochter meiner Quartierwirte ein anderes junges Mädchen antraf, eine so auffallend schöne Erscheinung, daß ich wie bezaubert dastand.

Die beiden Freundinnen lehnten am Kamin im lebhaften Gespräch, während das alte Ehepaar in dem einen der beiden großen Betten schnarchte – das zweite Bett war, ländlich, sittlich, für mich bestimmt. Die Tochter des Hauses war eine zarte Blondine, kaum dem Backfischalter entwachsen. Man hätte sie für ein deutsches Gretchen halten können, auch ihrem schüchternen, befangenen Wesen nach. Vergeblich hatte ich mich am Nachmittag bemüht, mit ihr eine Unterhaltung anzuknüpfen. Ähnlich den deutschen Mädchen im gleichen Alter hatte sie auf alle meine Versuche, mit ihr ein Gespräch zu unterhalten, nur immer: »Oui, monsieur«, »non, monsieur« geantwortet.

Welch' einen frappanten Gegensatz bot nun die andere! Eine echt südländische Erscheinung: dunkle feurige Augen, schwarzes krauses Haar, eine üppige, voll entwickelte Gestalt, dazu eine höchst temperamentvolle Beweglichkeit. Im Laufe des Gesprächs erfuhr ich, daß sie von mütterlicher Seite italienischer Abkunft war. Sie teilte mir mit lebhaftem, sprudelndem Wortschwall mit, daß sie während der Nacht das in der Kammer nebenan befindliche Bett ihrer Freundin teilen würde, da sie sich nicht getraue, zu Hause zu schlafen. Sie sei vor den »balourdises prussiennes« des in ihrem Hause, das sie nur mit ihrer Mutter bewohne, im Quartier liegenden deutschen Capitaine geflüchtet. Ja, wenn es ein französischer Soldat wäre, erklärte sie mit südländischer Lebhaftigkeit, während die großen dunklen Augen flammten, dann würde sie ihm ihre Lippen nicht geweigert haben, aber sich von einem Preußen küssen lassen – jamais, jamais, jamais!

Ich seufzte leise, denn mein Herz brannte lichterloh. Eine Liebesstunde mit dem leidenschaftlichen berückenden Mädchen, das wäre der Himmel gewesen! Damals ging mir die Erkenntnis auf, wie jammervoll armselig meine bisherigen erotischen Erlebnisse und daß sie nur ein Surrogat, ja eine Verzerrung des süßesten Menschentriebes, eine Versündigung an dem heiligen Geist der Liebe gewesen.

Abgesehen von ihrer chauvinistischen Aufwallung, erwies sich die begeisterte Französin als ein liebenswürdiges, reizendes Geschöpf. Während wir lebhaft plauderten, ruhten meine Blicke bewundernd auf ihr. Gar nicht sattsehen konnte ich mich an den feinen, edelgeformten, ausdrucksvollen Zügen; nie wieder bin ich einer so vollendet schönen Französin begegnet. Bis gegen Mitternacht schwatzten wir; dann sagte sie mir mit einem freundlichen Händedruck Gute Nacht.

In Nancy verweilten wir ein paar Tage, und hier fanden die von den Strapazen zurückgedrängten Sinne der Soldaten Gelegenheit, sich zu betätigen. Auch ich war unter denen, die eines der trotz Feindseligkeit und Krieg offenstehenden Bordelle besuchte. Bei mir war es wohl wieder mehr die Neugier, die jugendliche Abenteuerlust und Eitelkeit, als ein wirklich dringendes Verlangen, die mich trieben, das »Freudenhaus« aufzusuchen. Ich freute mich nicht wenig in dem Gedanken, nachher, wenn ich in die Heimat und zur Schule zurückkehrte, vor den Mitschülern mit meinen interessanten Erlebnissen zu glänzen. Zunächst ging es ganz geschäftsmäßig zu. Im Hausflur befand sich, wie in einem Theater, eine Kasse, die von einem älteren Weibe, wahrscheinlich einer ausrangierten ehemaligen Jüngerin der Venus vulgivaga, bedient wurde. Fünf Franks war die Taxe, die jeder Soldat erlegen mußte. Dann wurde man zu einer »Schönen« in eines der zahlreichen kleinen Zimmer geführt. Ich hatte diesmal mehr Glück als seinerzeit in Stettin. Es war ein wirklich nettes, hübsches Geschöpf, das auch nicht so vollständig weiblicher Anmut und Grazie entbehrte wie ihre deutschen Berufsgenossinnen, deren Gunst ich bis dahin erkauft hatte. Sie war zärtlicher als die anderen und bemühte sich, ein persönliches Wohlgefallen zu erwecken. Tat sie es nur aus Berechnung? Ich erinnere mich, daß sie von ihrem freudlosen Leben erzählte, und von der Habgier der Bordellmutter, die ihr und ihren Genossinnen nichts anderes als die allerdings gute Kost und die Bekleidung ließ. Wenn ihr ihre »Liebhaber« nicht eine paar Franks zusteckten, bekäme sie auch nicht einen Sou in die Hände.

Ich verschloß mich dem deutlichen Wink nicht und sah mit Vergnügen, wie sie das ihr gereichte Geldstück in ihren Strumpf steckte.

Vor Paris hatten wir zunächst ein paar Ruhetage in dem Dorf Champlan. Nach den anstrengenden Märschen war das eine wohltat, Dienst hatten wir nicht; nur die Mannschaften rückten alle Tage zum Kartoffelbuddeln aus; wir Einjährigen waren davon dispensiert und so konnte ich, ein Langschläfer, wie ich war, dem Genuß, bis gegen Mittag im Bett zu liegen, nach Herzenslust fröhnen. Mein »Putzkamerad«, wie die meisten Leute ein Pole, war für meine Bequemlichkeit mit der Fürsorge einer Hausfrau bedacht. Alle Morgen, bevor er mit seinen Kameraden aufbrach, stellte er den selbstgekochten Kaffee, dem er eine derbe mit Schmalz bestrichene Stulle beifügte, vor mein Bett. Leider wurde die so innig begehrte Nachtruhe durch gewisse kleine, recht lästige Lebewesen gestört, während der letzten Marschtage waren diese kleinen Tierchen, die ein so starkes Unbehagen verursachten, plötzlich unter den Truppen erschienen, niemand wußte woher.

Zwei Wochen später lernte ich endlich den vollen Ernst des Krieges kennen: die blutige, männermordende Schlacht. Es war am zweiten Dezember, als wir bei Champigny zum erstenmal in die Schlacht kamen. Zuerst lagen wir stundenlang im Granatfeuer; die französische Artillerie schoß vorzüglich. Vor, zwischen und hinter uns krepierten die Granaten. So oft solch' ein Luder über uns dahinsauste, neigten wir instinktiv die Köpfe. Hinter mir lag unser Gruppenführer, ein alter Sergeant, mit lang auf die Brust wallendem Backenbart, der schon 1864 und 1866 mitgemacht hatte. Die Pfeife, die während des Marsches beständig an einem Knopf über der Brust hing, setzte er in Brand.

 

»Sie glauben nicht, Einjähriger«, redete er mich an, »wie das beruhigt, haben Sie denn nichts Rauchbares bei sich?«

Ich krabbelte mit meinen Fingern an meinem Waffenrock herum. Richtig! Zwischen dem zweiten und dritten Knopf steckte noch eine Zigarre, die letzte. Der Sergeant gab mir Feuer, und wir dampften um die Wette. Aber ich müßte lügen, wenn ich behaupten wollte, daß mir die Zigarre einen besonderen Genuß gewährt hätte.

Da veranlaßte mich plötzlich ein ungewöhnliches Geräusch, mich umzusehen. Mein Sergeant Thielke lag lang ausgestreckt vornüber und hielt sich mühsam mit den Händen über dem Erdboden. Seine Augen hatten einen starren Ausdruck, seinen bleichen Lippen war die Pfeife entfallen; keuchende, pfeifende Laute entrangen sich seinen Lippen.

»Sergeant, was ist Ihnen?«, fragte ich entsetzt.

»Ge–troffen!«, stammelte er mühsam.

Jetzt bemerkte ich ein fast faustgroßes Granatstück, das neben dem Verwundeten auf der Erde lag. Das Ding war ihm gegen die Säbelkoppel geschlagen und mußte ihm eine starke Konfusion verursacht haben.

Der Zugführer winkte zwei Krankenträger heran. Thielke wurde unter Ächzen und Stöhnen auf eine Tragbahre gelegt und davongetragen. Als man ihn aufhob, reichte er mir noch die Hand. Seine Pfeife legte ich neben ihn.

Unsere vor uns auf einer Anhöhe aufgefahrene Artillerie mußte zurück; wir aber gingen vor. Im Sturmschritt ging es einen Weinberg hinab; wir sahen die Rothosen vor uns laufen; dann warfen sie sich in einen Graben und eröffneten von hier mit ihren Chassepots ein Schnellfeuer auf uns. Rechts und links fielen unsere Braven. Mein Putzer, ein Pole, »was sich nur gebrochen deitsch sprak«, erhielt einen Schuß in den Unterleib; ich sehe ihn noch vor mir, wie er, das Gesicht schmerzlich verzogen, beide Arme und Hände gegen den Leib preßte und noch ein paar Schritte weiter taumelte; dann sank er zu Boden.

An einer etwas erhöht liegenden Chaussee, die ein wenig Deckung bot, machten wir halt und warfen uns der Länge nach zu Boden. Stundenlang lagen wir im Schnee. Manch' einer, der allzu unvorsichtig den Kopf erhob, mußte auch hier sein Leben lassen. Schauerlich hallten die Klagerufe der weiter abliegenden Verwundeten über das mit der hereinbrechenden Dämmerung still werdende Schlachtfeld.

Meine Gedanken richteten sich nach der Heimat. Ahnten meine Eltern, welchen blutigen Gefahren ich soeben entgangen, welchem ungewissen Schicksal ich vielleicht in wenigen Stunden entgegenging? Gedachte Klara Bohm, die noch immer Heißgeliebte, Treuverehrte, meiner?

Um neun Uhr erhielten wir den Befehl, in das noch zum Teil von den Franzosen besetzte Champigny – sie hatten bei Morgengrauen mit großer Übermacht die überrumpelten Württemberger aus dem Dorf geworfen – einzurücken. An einer am Kreuzpunkt der beiden breiten Dorfstraßen gelegenen großen Villa machten wir halt. Die Wachen wurden ausgerufen; wir anderen begaben uns in die Zimmer, entzündeten Feuer und erlabten uns, die wir den ganzen Tag über nichts genossen hatten, an Brot und Kaffee. Bevor ich mich auf die blanke Diele niederstreckte, trug ich das schon vorher am Abend auf dem Schlachtfeld in mir entstandene Gedicht in mein Notizbuch ein:

Bei Champigny, am Abend des 2. Dezember 1870.

Die tiefste Ruh' rings um mich her,

es schweigt das Schlachtgetümmel –

manch' brechendes Auge, es sieht nicht mehr

den sternenklaren Himmel.

Der Mond zieht herauf in bleicher Pracht,

glänzt weit über die schaurige Runde.

Schlaft wohl, ihr Brüder, zur ewigen Nacht

auf hartem, kühlen Grunde!

Wie still ringsum, wie lauschig die Nacht,

nur die Sträucher sich neigen und wiegen!

Sie flüstern von neuer blutiger Schlacht,

von neuen Kämpfen und Siegen.

Sie flüstern von dir, die du, ach so fern,

mein denkst in Bangen und Grauen –

noch leuchtet, mein Lieb, der Hoffnung Stern:

wir werden uns wiederschauen!

Schlaf wohl, mein Kind, sanft sei dein Traum,

es grüßen dich meine Lieder;

die Seufzer verhallen im Weltenraum –

bald, Schatz, bald sehn wir uns wieder!

Den ganzen Tag über lagen wir hinter den Barrikaden der Straße zwischen den toten Württembergern und Franzosen, die am 30. November hier erbittert gekämpft hatten; jeden Augenblick waren wir des Angriffs seitens der Franzosen gewärtig. Aber sie begnügten sich, während des ganzen dritten Dezembers mit uns Schüsse zu wechseln. Wir machten uns das Vergnügen, ihnen mit Chassepotgewehren zu erwidern, die wir in der Villa und auf den Straßen gefunden hatten.

Am Abend zogen die Franzosen ab, nach Paris zurück. Uns allen aber fiel es wie ein Alp von der Seele, denn bei einem Angriff des an Zahl uns weit überlegenen Feindes wäre es uns, die wir die Vorposten bildeten, übel ergangen.

Wenn ich nun schließlich von meinen Empfindungen während der Schlacht sprechen soll, so muß ich sagen: Das stille, tatlose Liegen in der Reserve, während die feindlichen Granaten unter uns aufräumten und wir vom Gegner nichts sahen, war eine scheußliche Seelenmarter. Jeden Augenblick dachte man, wenn wieder solch' ein Biest geräuschvoll heransauste: »Diesmal gilt es dir!« Aber als wir dann unter Hurrarufen – es klang aus mancher Brust nicht gerade wie ein Sieges- oder Triumphruf – vorgingen, fiel dieser quälende, unleidlich dumpfe Druck von einem. Man hatte überhaupt keinen Gedanken, keine Empfindung mehr; man rannte mechanisch, weil Kommando und Pflicht es verlangten, während einen die Chassepotkugeln mit ihrem summenden Geräusch wie Bienen umschwärmten und man den Kopf zum Ausweichen rechts und links drehte.

Noch während der Belagerung von Paris wurden wir zur Manteuffelschen Armee nach dem Jura abkommandiert. Hier marschierten wir auf den gebirgigen Höhen durch Schnee und Eis wochenlang, immer Bourbakis Truppen vor uns herjagend. Oft kamen wir spät abends in ein Dorf, vor dem noch die Wachtfeuer der flüchtenden Feinde brannten. Endlich wurde Waffenstillstand gemacht und die Friedenspräliminarien begannen. Froh, des Krieges und der ständigen Gefahren und Strapazen herzlich überdrüssig, traten wir den Heimmarsch an. Was wir wieder an Marschleistungen vollbringen mußten, war unerhört. Aber man hat doch da gelernt, sich in das Ganze zu fügen und hat seinen Willen bis zum äußersten gestählt. Ja, es bedurfte oft der stärksten seelischen Anstrengung, nicht schlapp zu werden und sich nicht todmüde, unlustig auf die Erde fallen zu lassen, wenn einmal der Marsch kein Ende nehmen wollte. Lust am Weibe, Erotik in irgendwelcher Form konnte da nicht aufkommen, wenigstens bei mir körperlich unreifem Burschen nicht. Es kostete mich Mühe genug, die soldatische Pflicht restlos zu erfüllen.

Schließlich nahm, wie alles Unangenehme auf Erden, auch dieses entsetzliche Marschieren ein Ende und wir gelangten nach Metz. Unser ganzes Bataillon wurde in eine große Tabakfabrik einquartiert. Die lothringische Hauptstadt war damals noch ein gefährliches Terrain, und größte Vorsicht wurde uns im Verkehr mit der Einwohnerschaft anbefohlen, besonders auch mit dem weiblichen Teil derselben, denn es wurde erzählt, daß Soldaten, die sich von einem Frauenzimmer hatten verleiten lassen mit zu gehen, nicht wieder zum Vorschein gekommen waren. Deshalb wurden wir wohl auch in Massenquartieren zusammen gehalten. Schön war es nicht, denn der Platz war so eng, daß jeder sich mit seinem Raum, den die schmale, auf dem Erdboden liegende Matratze einnahm, zu allen seinen Hantierungen, wie Putzen, Essen usw., behelfen mußte. Das paßte uns natürlich schlecht, denn wir glaubten jetzt endlich einmal Anspruch auf ein bißchen Bequemlichkeit und – ein bißchen Liebe zu haben. Unser Feldwebel ließ zum Glück mit sich reden, und so erhielten wir drei Freiwilligen der Kompagnie und mein Freund, der Avantageur Zeydel, die Erlaubnis, für eine Nacht in einem nahegelegenen Hotel kampieren zu dürfen. Freilich, auch hier war alles überfüllt, aber es gelang uns, ein Zimmer mit zwei Betten zu erhalten. Das dünkte uns schon, wenig verwöhnt wie wir waren, eine große Errungenschaft, und gern wollten wir uns je zwei mit einem der weichen und geräumigen Betten begnügen.

Aber vorher gab es noch allerlei Schönes. Während sich zwei der Kameraden mit Billardspiel im großen Restaurationszimmer vergnügten, machten wir, mein Freund Arthur Zeydel und ich, uns an die beiden jungen Mädchen hinter dem Büfett heran, die, wie sie uns mitteilten, Nichten des kinderlosen Hotelbesitzers waren. Es waren blutjunge Dinger, zwischen sechzehn und achtzehn, aber außerordentlich entgegenkommend, so daß wir sehr angenehm überrascht waren. Natürlich gingen wir beiden unternehmenden jungen Soldaten und daneben ein paar flotte, hübsche, phantasievolle Jungen, mit Entschlossenheit und soldatischer Bravur vor. Ich will hier einschalten, daß mein Kompagniekamerad nur ein halbes Jahr älter war als ich und ebenso wie ich aus jugendlicher Begeisterung direkt von der Schulbank zu den Fahnen geeilt war. Er war mein Intimus geworden im Laufe der letzten Monate. Gleiche Neigungen, gleiche Begabung hatte rasch ein herzliches Freundschaftsband um uns geschlossen. Auch er besaß literarische Bestrebungen und auch ihm galt der Dichterberuf als höchster, und gelegentlich teilten wir uns unsere während des Feldzugs entstandenen kurzen poetischen Ergüsse mit.

Also, wir waren mit den beiden hübschen kecken Französinnen sehr rasch zu einem Einverständnis gelangt. In der Nacht, so verabredeten wir vier, wenn alles im Hause schlafen würde, sollten Zeydel und ich unsere rasch gewonnenen Liebsten in ihrem Stübchen besuchen. Sie schliefen im ersten Stockwerk, während wir ein Parterrezimmer innehatten. Um in der Nacht keinem Hindernis zu begegnen, lud mich die eine der willfährigen Schönen ein, mit ihr hinaufzusteigen, damit ich den Weg zu dem Eldorado kennen lerne, das sich uns nach Mitternacht erschließen sollte. Also wir schlichen die Treppe hinauf, die niedliche Cathérine und ich; oben erblickte ich einen langen Korridor, der an mehreren Fremdenzimmern vorbeiführte.

Ganz am Ende des Ganges, so wisperte mir das Mädchen zu, befände sich ihre und der Schwester Kammer. Unterwegs kamen wir an einer offenstehenden Tür vorbei. Mein Blick glitt unwillkürlich in das Zimmer. Ein Herr von unverkennbar echt französischem Typus saß an einem Tisch, und vor ihm stand ein junger Mann, offenbar sein Diener.

»Monsieur le capitaine!« flüsterte mir meine Begleiterin zu, und an dem Blick voll Haß, der mir aus den Augen des Franzosen entgegensprühte, konnte ich unschwer seine Empfindungen beim Anblick meiner Uniform erkennen. Aber das scherte mich wenig; meine Gedanken und Empfindungen gehörten ganz meinem mir voranschreitenden Schätzchen an und dem in Aussicht stehenden interessanten vielversprechenden erotischen Abenteuer.

»Hier!« Cathérine stieß die letzte Tür im Korridor auf und ich erblickte einen bescheiden möblierten kleinen Raum, in dem sich meinen aufleuchtenden Blicken zwei saubere, freundlich einladende Betten zeigten.

Meine Seele jauchzte und ich drückte der verschämt lächelnden einen begeisterten Kuß auf die Wange.

»Ma chérie! Mon amour!« raunte ich ihr ins zierliche Ohr. »Que je serais heureux!«

Sie drückte herzlich, allem Anschein nach ebenso sehr wie ich von dem Vorgefühl der uns erwartenden Freuden berauscht, meine Hand, die ihre umspannt hatte. Dann traten wir den Rückweg an.

Mein Freund und ich waren natürlich seelenvergnügt. Das war so recht was für unsere liebeglühenden, abenteuerlustigen Sinne, und wir beglückwünschten uns, daß wir es so gut getroffen. Ja, diese schneidigen Französinnen waren doch netter als unsere prüden deutschen Mädchen!

Wir nahmen uns vor, in Unterkleidern, d. h. in Hemd und Unterhosen, das Faschinenmesser für alle Eventualitäten umgeschnallt, unsere Liebesexpedition anzutreten. Aber es kam anders. Um zehn Uhr suchten wir unser Schlafzimmer auf, um uns durch ein bißchen Schlummer zu unserem nächtlichen Unternehmen zu stärken. Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen hatte, als ich mit einem entsetzlichen Leibweh aufwachte. Es waren äußerst schmerzende Krämpfe, die mich packten und mich in furchtbaren Schmerzen hin- und herwinden ließen. Mein Kamerad neben mir erwachte.

»Du, es ist Zeit!«, flüsterte er.

»Jawohl, es ist Zeit«, gab ich in grimmiger Selbstverspottung, in ohnmächtigem Zorn über das grausame Schicksal zurück, – »es ist Zeit, aber nicht zur Liebe!«

 

Damit erhob ich mich stöhnend – das Unterzeug hatte ich anbehalten – um dem mich beherrschenden quälenden Drange zu folgen. Leise fluchend tappte ich mich in den Flur hinaus. Leider hatte ich verabsäumt, mich für alle Fälle über eine gewisse Lokalität zu vergewissern, und so langte ich nach kurzer Irrwanderung, mich eine kleine Treppe hinabschleppend, in einen kellerartigen Raum. Aber trotz der Erleichterung ließen die Schmerzen nicht nach, und bis zum Morgengrauen verbrachte ich die Zeit in scheußlicher Qual. Noch fast mehr als das körperliche Übel setzte mir der Gedanke zu, daß uns die beiden Huldinnen – denn mein Kamerad wollte die Expedition allein nicht wagen – uns nun vergebens erwarteten, und daß uns dieser tückische Zwischenfall um eines der sicherlich hübschesten, genußreichsten Liebesabenteuer brachte.

Elastisch, wie die glückliche, frische Jugend ist, fühlte ich mich am Morgen nach kurzem Schlummer und nachdem ich mich an einer Tasse starken Kaffees gelabt, ganz leidlich.

Viel Zeit blieb uns nicht; wir mußten zum Morgenappell wieder bei der Kompagnie sein, und so verließen wir das Hotel, ohne von den beiden betrogenen Schätzen Abschied nehmen zu können.

Waren sie betrogen? Oft habe ich mit Freund Zeydel diese merkwürdige Affäre besprochen, und noch heute ist mir rätselhaft, welches die Ursache dieser plötzlichen Erkrankung sein mochte. Hatte ich mich erkältet – wir hatten ein Oberfenster unseres Schlafzimmers der Ventilation wegen offengelassen? Aber war anzunehmen, daß mir, der ich doch während des Feldzuges an Wind und Wetter gewöhnt und wiederholt auf freiem Felde, auf feuchtem, kaltem Erdboden, nur in meinen Mantel eingehüllt, kampiert hatte, das rauhe Märzlüftchen diesen bösen Streich gespielt, das doch meinem Kameraden neben mir nicht geschadet hatte? Allerlei romantische Gedanken fuhren uns durch den Kopf, war die verliebte Zutraulichkeit der beiden jungen Französinnen, die uns so überraschend schnell rückhaltloses Liebesglück versprochen, nur intrigante Heuchelei gewesen? Hatte Cathérine vielleicht, in chauvinistischem Fanatismus, Gift in das mir kredenzte Glas Bier geschüttet? Oder noch schlimmer, waren die beiden Mädel etwa die Geliebten des französischen Capitaine, der mich mit so grimmigem Blick gemessen, hatten sie mit ihm verabredet, daß sie uns eine Falle stellen sollten? Möglich, daß er die Absicht gehabt, uns in der Nacht in der Kammer seiner Landsmänninnen mit Hilfe seines Burschen meuchlings zu überfallen. Im Grunde aber waren wir doch geneigt, einen blinden, bösen Zufall für unser Mißgeschick verantwortlich zu machen, denn es wollte uns gar nicht in den Sinn, daß die lieben blitzjungen Mädel abgefeimte Betrügerinnen gewesen.

Wir waren alle froh, daß wir schon am nächsten Tage die ungastliche Fabrik verlassen durften und nach dem nur zwei Stunden entfernten Dorf Augny abmarschierten. Schon im Herbst 1870 hatten wir wochenlang hier gelegen, teils in einem großen Schafstall, teils auf Heuböden und in aus Erde, Rasen und Baumstämmen und Strauchwerk selbst errichteten Baracken kampierend. Damals waren nur einige wenige alte Leute in dem großen stattlichen Dorf gewesen. Diesmal sahen wir Straßen und Häuser von einer zahlreichen Einwohnerschaft belebt, und manche liebreizende Frauen- und Mädchengestalt bot sich unseren aufleuchtenden Blicken. Auch mit der Unterkunft war es diesmal besser bestellt; wir wurden in Bürgerquartiere gelegt. Ich traf es freilich nicht besonders gut; mit meinem Burschen wurde ich bei einem Flickschuster einquartiert, dessen Wohnung nur aus einem geräumigen Zimmer mit einem großmächtigen Himmelbett, und einer Küche bestand. Dieses Himmelbett war das Prachtstück des ärmlichen Mobiliars, und ich mußte es mit meinem Quartiergeber teilen, während mein Putzkamerad auf einem allabendlich auf dem Fußboden zurechtgemachten Strohlager schlief.

Der alte Hagestolz war ein eifriger französischer Patriot. Manche Nachtstunde hindurch haben wir, friedlich nebeneinander ruhend, in heftigen Disputen verbracht, und wenn ich ihm sagte, daß er und seine lothringischen Landsleute nun bald Deutsche sein würden, wurde er fuchswild.

»Sie können unser Land deutsch machen«, erklärte er pathetisch, »aber unsere Herzen nicht!«

Ein recht angenehmes Leben begann. Man war so einsichtsvoll, uns nicht mit Drill und Exerzieren zu quälen, sondern uns einmal die uns so nötige Ruhe und Erholung zu gönnen. Nur aus einem geringen Nachtdienst und täglich zweimal kurzem Appell bestand unser militärischer Dienst. Brot, Fleisch und Gemüse wurde uns von unserem Train geliefert, und mein Bursche schmorte und briet, daß es eine Lust war. Sogar Monsieur Dubais verschmähte es nicht, hin und wieder an dem Mahl der verdammten Preußen teilzunehmen. Mein Abendbrot nahm ich regelmäßig in der großen Auberge Meunier. Der »Aubergiste« hatte uns Einjährigen der beiden Bataillone, die in Augny lagen, einen besonderen Raum eingerichtet, dessen weißgetünchte Wände ein künstlerisch veranlagter Kamerad mit allerlei kriegerischen und friedlichen Bildern schmückte. Herrliche Stunden haben wir etwa zwanzig junge Burschen hier pokulierend, scherzend, singend verlebt. Eine besondere Anziehungskraft und einen lang entbehrten Reiz bildeten unsere schöne Hebe, die achtzehnjährige liebliche Tochter unseres Wirtes, wir haben sie alle herzlich verehrt, die freundliche Mademoiselle Josephine. Aber so sehr sich auch der eine und andere bemühte, ihrer Gunst teilhaftig zu werden, es gelang keinem. Immer liebenswürdig, lustig und zu jedem Scherz aufgelegt, wußte sie sich doch auch bei den kecksten von uns in Respekt zu setzen und Distanz zu halten. Wie oft haben wir nicht über ihre drolligen Versuche, »dütsch« zu sprechen, gelacht. Doch kann ich wohl sagen, ohne prahlerisch zu sein, daß sie mich ein klein wenig, wenn auch in allen Ehren, vor den übrigen bevorzugte. Noch tönt mir ihr schelmisches: »Mon petit coquin! Mon petit polisson!« in den Ohren, mit denen sie meinen lebhaften Huldigungen zu begegnen pflegte.

Auch mit den übrigen Einwohnern standen wir auf bestem Fuß. Natürlich, wir brachten ja reichlich Geld unter die Leute. Auch von der ärmeren Nachbarschaft strömten Hausierer ins Dorf, die allerlei Leckereien und sonstige Waren feilboten. Unter ihnen stellte sich fast täglich eine Anzahl von Fabrikmädchen aus dem nahen Ars sur Moselle ein, die uns »L'eau de vie« und Backwerk zum Kauf anboten. Und hier fanden endlich unsere in der Ruhe und den verhältnismäßigen Wohlleben sich lebhaft regenden Sinne die erwünschte Befriedigung. So erinnere ich mich, daß wir einmal, vier Kameraden, ebensoviele Mädchen in den zwischen Augny und Ars gelegenen Wald begleiteten, hier trennten wir uns; jeder nahm eins der Mädchen, das sich ihm gern zugesellte, unter den Arm. Die blutjungen Dinger – keine war über zwanzig – waren einem Liebesabenteuer ebensowenig abgeneigt wie wir und vergaßen Patriotismus und mädchenhafte Scheu. In Liebessachen fühlt ja ein normales, natürlich und gesund empfindendes Weib immer international.

Acht Wochen währte dieses beschauliche, behagliche Leben. Dann hieß es: Friede! Nach der Heimat zurück! Obgleich unser aller Herzen freudig pochten, so wurde es doch manchem von uns schwer, von dem hübschen Dorf mit seinen freundlichen Einwohnern zu scheiden. Ich ging am Morgen unseres Ausmarsches mit Freund Zeydel in die Auberge, um unsere Feldflaschen mit dem guten süffigen Rotwein Monsieur Meuniers füllen zu lassen. Natürlich bediente uns die schöne Josephine. Sie mochte uns wohl erwartet haben. Als wir ihr zum letzten Lebewohl mit der Bescheidenheit, zu der sie uns erzogen hatte, die Hand reichten, umschlang sie uns, einen nach dem anderen, im ausbrechenden Gefühl und küßte jeden von uns herzlich auf die Lippen. Zum Schluß reichte sie dem Kameraden sowohl wie mir einen der auf dem Tisch bereitliegenden duftenden Sträußchen.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?