Buch lesen: «Die Spaltung Amerikas»

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ibidem-Verlag, Stuttgart

Inhaltsverzeichnis

Vorwort von Sandra Kostner

Vorbemerkung des Übersetzers

Vorbemerkung zur amerikanischen zweiten Ausgabe

Vorwort

1 „Eine neue Rasse“?

2 Geschichte als Waffe

3 Der Kampf der Schulen

4 Der Zerfall Amerikas

5 E Pluribus Unum?

Epilog

Schlesingers Bücherecke – ein gutes Dutzend Bücher oder: Unerlässliche Lektüre zum Verständnis Amerikas

Quellenangaben

Vorwort von Sandra Kostner

Den ersten Band der Debattenreihe Impulse gab ich im letzten Jahr heraus. Er widmete sich dem titelgebenden Thema: Identitätslinke Läuterungsagenda – ein zugegebenermaßen auf den ersten Blick sperriger Begriff, den ich aber deshalb gewählt habe, weil er genau das Phänomen auf den Punkt bringt, das ich analysieren und zur Debatte stellen wollte. Mit dem Begriff „identitätslinke Läuterungsagenda“ bezeichne ich eine spezifische Form der Identitätspolitik, die von Personen vorangetrieben wird, die sich selbst politisch links verorten, aber im Kern eine rechte Politik verfolgen. Das ist deshalb der Fall, weil sie die starre Orientierung an unveränderbaren Merkmalen fortführen, die von Rechten genutzt wurde, um die Ungleichbehandlung von Nichtweißen und Frauen zu rechtfertigen. Einzig die Richtung der Ungleichbehandlung drehten Identitätslinke um, sodass nun, zur Wiedergutmachung historischen Unrechts, von den ehemals bevorzugten Identitätsgruppen verlangt wird, dass sie Ungleichbehandlungen über sich ergehen lassen sollen und müssen. Anders gesagt: Menschen werden in dieser linken Form der Identitätspolitik weiterhin nicht als Individuen, sondern als kollektive Merkmalsträger behandelt.

Werden Menschen kollektive Identitäten aufgrund eines Abstammungsmerkmals aufgezwungen und werden sie aufgrund dieser aufgezwungen Identitäten nicht als Individuen, sondern als Merkmalsträger behandelt, ist der Samen für die Spaltung der Gesellschaft gesät. Übernehmen staatliche Institutionen, von Bildungseinrichtungen über Behörden bis hin zu Kultureinrichtungen, sowie private Arbeitgeber dieses identitätspolitische Denken – sei es aus Überzeugung, sei es aufgrund politischen oder aktivistischen Drucks –, dann erleben Menschen, dass ihre Chancen auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit davon abhängen, mit welchem Abstammungsmerkmal sie geboren sind. Je mehr Menschen ihre Entfaltungschancen eingeschränkt sehen, desto mehr geht der spalterische Samen auf. Welche verheerenden Folgen dieser Samen, ist er erst einmal wie in den USA voll aufgegangen, auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt hat, führen insbesondere die jüngeren Entwicklungen dort eindrücklich vor Augen.

Ein früher Diagnostiker dieser spalterischen Identitätspolitik, die nunmehr sämtliche westlichen, liberaldemokratisch verfassten Staaten erfasst hat, war der Historiker Arthur M. Schlesinger Jr., der 1991 in seiner so hellsichtigen Schrift The Disuniting of America vor der ethnischen Spaltung der USA gewarnt hat; bereits 1998 schob er eine aktualisierte, neue Ausgabe nach. Heutzutage sind die USA auf eine Art und Weise gespalten, die wahrscheinlich selbst einen so weitsichtigen Analytiker wie Schlesinger mit Erstaunen erfüllen würde. Denn neben die Spaltung in ethnische Abstammungsgruppen trat in den letzten Jahren mit enormer Wucht die Spaltung nach Geschlecht und nach Genderidentitäten. Somit herrscht nun auf der gesamten identitätspolitischen Front eine „Wir-gegen-die-Mentalität“ vor, die gerade im Jahr 2020, befördert durch den stark identitätspolitisch geprägten Präsidentschaftswahlkampf, immer weitere Teile der USA erfasst hat und unerbittlich auf einen Kulminationspunkt zusteuert. Und damit auf den Punkt, an dem die USA so gespalten sind, dass das Land vor der Frage steht, in welcher Form sein Fortbestehen gesichert werden kann.

Liest man Schlesingers Text aus der Perspektive des Jahres 2020, springen zwei Punkte ins Auge: Zum einen, wie konstant sowohl die Gründe, die zur Rechtfertigung der Spaltungspolitik herangezogen werden, als auch die zum Einsatz gebrachten Methoden sind. Der wichtigste Grund heißt „Gerechtigkeit“, genauer gesagt „Rassengerechtigkeit“ („racial justice“). In den 1990er-Jahren wie heute ist den Befürwortern dieser Identitätspolitik zur Erreichung dieses Ziels so gut wie jedes Mittel recht – Nebenwirkungen, auch solche, die das Land tief und nachhaltig spalten, werden billigend in Kauf genommen. Vor genau diesen Nebenwirkungen warnte Schlesinger. Dass er leider mit seinen Warnungen nicht durchdrang, zeigen die Entwicklungen der vergangenen Jahre. Hätten Politik und Institutionen seine Analyse zur Grundlage ihrer Strategien gemacht, stünden die USA heute deutlich besser da.

Zum anderen fällt bei der Lektüre auf, wie sehr das rhetorische Arsenal der Identitätspolitik zwischenzeitlich ausgebaut wurde. Zentrale (Kampf-)Begriffe, mit denen heutzutage die spalterische Identitätspolitik vorangetrieben wird, wie „woke“ (besondere Wachsamkeit für Rassismus), „cancel culture“, „safe spaces“, „Triggerwarnungen“, „kulturelle Aneignung“, „Twitter-Mob“, „Black Lives Matter“, „BIPoC“ (Black, Indigenous and People of Color), „toxische Männlichkeit“, „Social Justice Warrior“ oder auch die Idee, dass es Dutzende von unterschiedlichen Genderidentitäten gibt, konnten noch keinen Eingang in Schlesingers Analyse finden.

Als Arthur M. Schlesinger im Jahr 2007 verstarb, war dieses Vokabular noch nicht im Umlauf. All diese erst in den letzten Jahren geprägten Begriffe sind Ausdruck dafür, dass Identitätspolitik nunmehr einem Hochgeschwindigkeitszug gleicht, der kontinuierlich weiter Fahrt aufnimmt und an den immer mehr thematische Wagen angekoppelt werden. Die fortwährend ergänzte Palette an Neologismen stellt eine Erweiterung des sprachlichen Instrumentariums dar, mit dessen Hilfe Identitätspolitik umgesetzt werden soll. Neu sind die Begriffe, altbekannt – und von Schlesinger hervorragend auf den Punkt gebracht – sind die mit ihnen verfolgten Ziele (vornehmlich die Einschränkung der Redefreiheit mittels eines moralisch erzeugten Konformitätsdrucks) und gesellschaftlichen Nebenwirkungen (wie vor allem die Spaltung der Gesellschaft).

Das Hauptziel war in den 1990er-Jahren wie auch heute, Begriffe zur Hand zu haben, mit deren Hilfe Menschen in moralisch Gute und Schlechte unterteilt werden können. Damals wie heute gilt als moralisch hochwertig, wer die richtige Sprache spricht und sich so als Unterstützer der identitätspolitischen Agenda zu erkennen gibt. Als moralisch minderwertig wird derjenige herabgewürdigt, der Kritik an der Agenda übt. Wer beispielsweise nicht hinnehmen möchte, dass zur Schaffung von „safe spaces“ für Opfergruppen, allen voran BIPoCs, Frauen und Menschen mit nicht-heteronormativer Genderidentität, die Meinungs-, Presse- und Wissenschaftsfreiheit eingeschränkt wird, dem wird unterstellt, dass er damit den genannten Opfergruppen ein Gefühl von Sicherheit, Wohlbefinden und Zugehörigkeit verweigere, ja, dass er in Kauf nehme, dass diesen Menschen sprachliche Gewalt angetan wird. Den Begriff „safe space“ kannte Schlesinger noch nicht, das Phänomen, dass für Opfergruppen Schutzräume geschaffen werden, zum Beispiel in der Form von Wohngebäuden nur für Afroamerikaner auf dem Gelände von Universitäten, floss avant la lettre in seine Analyse ein.

Wäre Schlesinger noch am Leben, sähe er sich heutzutage wohl als „alter weißer Mann“ diskreditiert, der mit seinen Analysen und Mahnungen nur eines bezwecke: seine „weißen, männlichen und heteronormativen Privilegien“ abzusichern. Zudem fände er seine Prognosen bestätigt – vielleicht auf eine Art und Weise, die selbst einen luziden Analytiker mit Entsetzen darüber erfüllte, in welchem Ausmaß es die amerikanische Gesellschaft zugelassen hat, dass sich die zerstörerischen Kräfte der Identitätspolitik nahezu ungehindert entfalten konnten. Ein Austausch mit Schlesinger als jemandem, der das Unheil früh heraufziehen sah, über die gegenwärtigen Entwicklungen, wäre sicher sehr erkenntnisreich und gewinnbringend.

Zwei Feldern, die maßgeblich dafür verantwortlich sind, dass das Spaltungs- und Zerstörungspotenzial der Identitätspolitik so stark an Fahrt aufnehmen konnte, hat Schlesinger jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet: „Geschichte als Waffe“ und „Der Kampf der Schulen“.

Schlesinger hat anschaulich dargelegt, warum und mit welchen Methoden identitätspolitische Aktivisten versuchen, Geschichte als Waffe einzusetzen. Das sie leitende Motto lautet: Wer die Deutungsmacht über die Vergangenheit hat, kann auch die Gegenwart und Zukunft prägen. Grundsätzlich gilt: Wer Geschichte als identitätspolitische Waffe einsetzt, dem geht es nicht um Fakten. Es geht ihm nicht darum, vergangenes Geschehen möglichst akkurat zu rekonstruieren. Ganz im Gegenteil: Es geht ihm darum, die Vergangenheit in ideologische Narrative zu pressen. Auf der identitätsrechten Seite handelt es sich um weiße Überlegenheitsnarrative, die allerdings nur noch von kleineren Gruppen am gesellschaftlichen Rand offensiv vertreten werden. Auf der identitätslinken Seite geht es um moralisch hochwirksame Opfer- und Schuldnarrative.

Das identitätslinke Narrativ, das inzwischen viele Bildungsinstitutionen dominiert, lautet so: Heute lebende Menschen, die aufgrund ihres Abstammungsmerkmals einer Schuldgruppe zugewiesen werden, müssen anderen heute lebenden Menschen, die einer Opfergruppe zugeteilt werden, Bevorzugungsmöglichkeiten gewähren, um die Schuld ihrer Vorfahren abzutragen. Die enorme Komplexität historischer Vorgänge wird also auf einen einzigen Aspekt reduziert. Begründet wird dies damit, dass dieser aus moralischen Gründen der einzig relevante sei. Diese interessengeleitete Simplifizierung und Moralisierung der Vergangenheit, die Schlesinger bereits in den 1990er-Jahren feststellte, hat im Jahr 2019 mächtig Auftrieb erfahren.

Im August 2019 veröffentlichte das New York Times Magazine eine Initiative namens „1619 Project“. Die Initiatoren erklärten das Jahr 2019 zum 400. Jahrestag der Sklaverei in Amerika und das Jahr 1619 zum eigentlichen Ausgangspunkt der US-Geschichte. Dass es beim Projekt 1619 nicht um Fakten, sondern um eine ideologiekonforme Geschichtsschreibung und somit um die Verfügungsmacht über das nationale Narrativ geht, geben die Initiatoren freimütig zu. Ziel des Projektes ist es, wie die Initiatoren auf der Website des New York Times Magazine schreiben, Sklaverei und den erzwungenen Beitrag der Afroamerikaner zum wirtschaftlichen Erfolg des Landes ins Zentrum der nationalen Erzählung zu rücken.

US-Amerikaner sollen Rassismus als unauslöschliches Kainsmal sehen. Amerikaner sollen davon überzeugt werden, dass nichts so sehr die USA geprägt habe wie Rassismus und dass Rassismus der Wesenskern des Landes sei. Das Opfer-und-Schuld-Narrativ soll politisch, institutionell und gesellschaftlich als einzig gültiges verankert werden – mit dem Ziel, dass sich Afroamerikaner ermächtig fühlen und ihnen die Möglichkeit gegeben wird, unter Verweis auf ihren Opferstatus, dauerhaft Wiedergutmachung einzufordern –, sei es in symbolischer Form, indem sich Weiße zu ihrem Rassismus, ihrem privilegierten Weißsein oder ihrer schuldbehafteten Hautfarbe bekennen, sei es in materieller Form. Unter letztere fallen sowohl Bevorzugungen bei Stellenbesetzungen als auch Reparationszahlungen für die 1865 beendete Sklaverei.

Wie gut der Boden für dieses nationale Narrativ inzwischen in den USA bereitet ist, wird daran ersichtlich, dass es den Initiatoren innerhalb von sechs Monaten gelungen ist zu erreichen, dass rund 3.500 Schulen das Narrativ des Projekts 1619 in ihren Lehrplan übernommen haben. Dies bedeutet nichts anderes, als dass jungen Menschen an diesen Schulen simplifizierende und moralisierende Narrative beigebracht werden anstelle von komplexen und sich Eindeutigkeiten entziehenden Fakten. Überdies spaltet dieses Geschichtsbild die Schülerschaft in Träger von Opfer- und Schuldidentität auf. Die eigentliche Funktion eines nationalen Narrativs, etwas Gemeinsames und Verbindendes zu schaffen, wird damit konterkariert. Und aufgrund dessen, dass diese nationale Erzählung eine Erbsünde festschreibt, kann aus der Geschichte auch zukünftig nichts Verbindendes mehr entstehen.

Hinzu kommt, dass, wer jungen Menschen beibringt, ihr Land sei auf rassistischem Unrecht gegründet und seine ganze Geschichte sei nur davon geprägt, die Identifikation mit diesem Land erschwert. Insofern ist es kein Wunder, dass immer mehr junge Menschen ihr Land als nichts anderes als einen rassistischen Unrechtsstaat sehen, dessen Systeme auf Rassismus gründen und daher sozusagen „unheilbar“ an Rassismus erkrankt sind. Sie glauben, dass Sklaverei und Rassismus konstituierend für die USA sind, nicht individuelle Freiheitsrechte. Dabei sind es diese bereits 1787 verfassungsrechtlich abgesicherten Freiheitsrechte, welche die USA zu dem Land gemacht haben, das sie heute sind.

Sklaverei und Rassismus sind Teil der Geschichte der USA und müssen daher auch einen Platz im nationalen Narrativ haben. Nur: Sklaverei und Rassismus sind weitverbreitete, sich durch erhebliche Teile der Menschheitsgeschichte ziehende Phänomene. Die Gründung eines Staates auf individuellen Freiheitsrechten, zu deren Absicherung ein demokratischer Rechtsstaat etabliert wurde, stellt hingegen historisch betrachtet eine Ausnahme dar. Umso fataler ist es, wenn jungen Amerikanern in Schule und Universität ein nationales Narrativ vermittelt wird, in dem die eigentlich für die USA konstitutiven Freiheitsrechte entweder unberücksichtigt bleiben oder als so befleckt von der rassistischen Erbsünde dargestellt werden, dass Menschen dazu verleitet werden, die Eckpfeiler ihrer Gesellschaft abzulehnen. Zumal es sich dabei um genau die Eckpfeiler handelt, die letztendlich das Unrecht der Sklaverei (1865) und später die Jim-Crow-Gesetzgebung in den Südstaaten (1964) unhaltbar machten und so überhaupt erst zur Abschaffung dieser Unrechtsstrukturen führten.

Die Initiatoren des Projektes 1619 folgen der Maxime „catch ’em young“, um sicherzustellen, dass die nächste Generation in den ideologisch gewünschten Bahnen denkt. Die Bildungsinstitutionen sind dafür, wie auch Schlesinger schrieb, der ideale Indoktrinationsort. Was er für die 1990er-Jahre feststellte, trifft hinsichtlich der Ziele und Methoden eins zu eins auch 2020 zu – einzig die Intensität hat sich verstärkt.

Und wie vor bald einem Vierteljahrhundert bilden Universitäten die Speerspitze der identitätspolitischen Bewegung. In ihnen werden die Konzepte und Begrifflichkeiten entwickelt und wird Studierenden das identitätspolitische Programm als wissenschaftliche Erkenntnis vermittelt. Wie schon in den 1990er-Jahren stehen „westliche“ Bildungsinhalte unter einem rassistischen, sexistischen, transphoben oder islamophoben Generalverdacht. Es erschallt der Ruf nach einer „Dekolonialisierung des Curriculums“, wobei dies im Grunde nur ein neuer Begriff für die Forderung nach einer Überwindung des eurozentrischen Curriculums ist, deren Manifestationen in Schulen und Universitäten bereits Schlesinger kritisch beleuchtete. Neu hinzugekommen ist die Sprache der Gewalt, die zur moralischen Untermauerung der curricularen Neuausrichtung herangezogen wird. So wird neuerdings behauptet, dass es ein Akt von „epistemischer Gewalt“ sei, wenn Menschen mit einem nicht-westlichen Abstammungsmerkmal an westlichen Bildungseinrichtungen westliche Bildungsinhalte aufgezwungen würden. Sie müssten die Möglichkeit erhalten, „ihr“ Wissen, das sie aus „ihren“ Traditionen ableiten, als gleichberechtigt im Curriculum wiederzufinden. Setzen sich diejenigen durch, die dies verlangen, gibt es bald keinen gemeinsamen Lehrplan mehr, was die Spaltung der Gesellschaft, nun nach Wissensbeständen, noch einmal erheblich weiter vertiefen würde.

Wie leicht entflammbar eine in der Gesellschaft tief etablierte Opferkultur ist, führten die Ereignisse in den USA infolge des durch einen Polizeieinsatz herbeigeführten Todes von George Floyd im Mai 2020 vor Augen. Schlesinger warnte vor dieser leichten Entflammbarkeit, die nun schon seit Monaten in den USA zu beobachten ist und in den umfangreichsten und militantesten Unruhen seit den 1960er-Jahren ihren Ausdruck findet. Interessant ist, dass das identitätspolitische Pulver auf beiden Seiten zündet: also aufseiten der Afroamerikaner, die sich als Opfer sehen, und aufseiten der Weißen, die von ihrem Schuldstatus aufgrund ihrer Hautfarbe überzeugt sind. Beide sehen, angeheizt von der BLM-Bewegung, den Tod Floyds als stellvertretend für den ungebrochenen Rassismus, der in ihrer Wahrnehmung in den USA grassiert. Erstere sehen sich in ihrem Opferstatus, letztere in ihrem Schuldstatus bestätigt.

Aufschlussreich ist zudem, dass es, ausgelöst von einer Kurzschlussreaktion, nicht nur in den USA, sondern auch in Europa und Australien zu heftigen Debatten, Protesten (inklusive gewalttätiger Ausschreitungen und Plünderungen) sowie Selbstbezichtigungsgesten kam. Dass es sich um eine Kurzschlussreaktion handelt, zeigt sich daran, dass aus dem Umstand, dass auf dem Video ein schwarzes Opfer und ein weißer Täter zu sehen war, auf Rassismus als einzig mögliches Tatmotiv geschlossen wurde, ohne dass man die Hintergründe kannte oder sich für diese interessierte.

Was sich an dieser Kurzschlussreaktion und den nachfolgenden Ereignissen zeigt, ist, wie wirkmächtig das Opfer-und-Schuld-Narrativ mittlerweile in westlichen Gesellschaften ist. Zur Illustration nur ein Beispiel: Wenn in den USA ein Afroamerikaner bei einem Polizeieinsatz sein Leben verliert und der kanadische Premierminister Justin Trudeau deshalb auf die Knie geht, tut er dies nicht, weil er mit dieser Demutsgeste seine Schuld für eine von ihm begangene Tat ausdrücken möchte, sondern er tut dies einzig und allein aufgrund seiner Hautfarbe und einer vermeintlich daran gekoppelten Kollektivschuld. Eine solche Geste heißt und soll heißen: Alle Weißen sind schuld am Tode George Floyds, denn ohne weißen Rassismus wäre Floyd noch am Leben.

Auch diese Entwicklungen hat Schlesinger in ihren Grundzügen schon vorausgesehen. Ganz sicher hätte er zum Stand der Spaltung der US-Gesellschaft und den aktuellen Vorgängen kluge Analysen beizutragen. Da er nicht mehr unter uns weilt, müssen sozusagen seine intellektuellen Nachfolger diese Aufgabe übernehmen. Schlesingers Analysen werden in einem weiteren Band debattiert, der aus lizenzrechtlichen Gründen separat erscheinen muss. Im Zentrum des Debattenbandes werden die Folgen der Spaltungspolitik stehen, so, wie sie sich tagtäglich in den USA und, inspiriert von den Entwicklungen dort, in sämtlichen westlichen Ländern manifestieren.

Der Debattenband ist für 2021 geplant; Schlesingers Spaltung Amerikas haben wir wegen der Ereignisse des Jahres 2020 terminlich vorgezogen.

Stuttgart, im September 2020

Sandra Kostner

Vorbemerkung des Übersetzers

An einigen Stellen im Buch verwendet Arthur M. Schlesinger (1917–2007) das Wort „race“, dem im deutschen bei wörtlich-etymologischer Übersetzung das verständlicherweise verpönte und gemiedene Wort „Rasse“ entspräche; auch Zusammensetzungen wie „Rassentrennung“ oder Koppelungen wie „rassisch-ethnische Enklaven“ werden damit gebildet. In den USA wird mit Blick auf die Hautfarbe mehr oder minder unreflektiert regelmäßig das Wort „race“ verwendet; selbst für ein Einreisevisum in die USA muss man die „Rasse“ angeben, der man zugehört. Das stellt den Übersetzer insofern vor Schwierigkeiten, als „race“ eben nicht mit „Rasse“ zu übersetzen ist, wenn man Schlesinger gerecht werden will. Sollte stattdessen von der Haplo-Gruppe (so der Terminus der Genetiker) gesprochen werden? Oder von Pigmentiertheit?

Es ist nicht möglich und sinnvoll, hier in der Übersetzung durchgängig genau ein passendes deutsches Wort zu wählen. „Rassentrennung“ oder „rassische Konflikte“ etwa sind stehende und in den USA nicht diskriminierend intendierte Begriffe, sie werden vielmehr zumeist dann gebraucht, wenn es darum geht, Missstände deutlich zu machen. Der Terminus „race“ ist freilich auch im Englischen einer Wandlung des Verständnisses unterworfen; darauf weist Arthur M. Schlesinger selbst hin, wenn er zum ersten Mal Äußerungen aus dem 18. und 19. Jahrhundert zitiert. Die Übersetzung hat daher überall dort, wo das englische „race“ im Deutschen als „Rasse“ einen Klang von rassistischer oder NS-Terminologie aufscheinen lassen könnte, zu unbelasteten und nicht-diskriminierenden Umschreibungen gegriffen oder solche – wie in der originalen Formulierung „rassisch-ethnische Enklaven“ – für ganz entbehrlich gehalten. An Stellen, an denen „race“ die amerikanische Sprech- und Schreibweise vergangener Jahrhunderte aufgreift und weiterführt, die hier einfach nur allgemein eine Distinktion der Herkunft und nicht der Hautfarbe nach meint (so etwa dort, wo der schwarze Gelehrte W. E. B. Du Bois zitiert wird, der davon spricht, dass „der rassische Blickwinkel viel stärker gegen die Iren ausgerichtet war als gegen mich“), wird der Terminus mit „Rasse“ übersetzt und beibehalten.

Ferner wurde „Rasse“ überall auch dort – meist in Anführungszeichen – stehengelassen, wo der Autor auf einen durchaus rassistisch aufgeladenen Zusammenhang rekurriert oder einen solchen kritisch referiert.

Die Fußnoten stammen sämtlich vom Übersetzer; in ihnen werden Persönlichkeiten oder Begebenheiten der US-amerikanischen Geschichte oder andere bedeutsame, hierzulande eher unbekannte Figuren der Geschichte sowie solche der bei Abfassung des Buches aktuellen Tagespolitik erläutert (es ließen sich entsprechende Informationen gleichwohl nicht zu allen vorkommenden Namen oder Ereignissen mit vertretbarem Aufwand recherchieren). Quelle ist hier überwiegend Wikipedia.

Hamburg, im September 2020

Paul Nellen

€9,99