Buch lesen: «Mit dem Rücken zur Wand»
Arthur Koestler
Mit dem Rücken zur Wand
Israel im Sommer 1948
Ein Augenzeugenbericht
Mit einem Geleitwort
von
Dr. Gil Yaron
INHALT
Dr. Gil Yaron: Zum Geleit
Arthur Koestler: Zur Einführung
Mit dem Rücken zur Wand
I. Die Umkehrung von Pompeji
II. David und Goliath
III. Die Belagerung Jerusalems
IV. Das Ende des Terrorismus und die Festigung staatlicher Autorität
V. Propheten und Pharisäer
Karin Moskon-Raschick: Nachwort
Anmerkungen
Übersichtskarte zum Teilungsplan der Vereinten Nationen von 1947
Über die Autoren
Über dieses Buch
Impressum
ZUM GELEIT
Dr. Gil Yaron
Durchschnittlich alle zwei Wochen erscheint auf Deutsch ein neues Buch zum Themenkomplex Naher Osten1 und gesellt sich schnell zu Tausenden Schriftwerken, die in Bibliotheken auf meterlangen Regalen nebeneinanderstehen, um ihre Analysen zu diesem scheinbar ewig lodernden Krisenherd feilzubieten. Warum sich also die Mühe machen, ein weiteres Buch aus dem Englischen zu übersetzen? Und dazu noch ausgerechnet eines, das scheinbar keine neuen Erkenntnisse bieten kann, weil es doch vor mehr als siebzig Jahren verfasst wurde? Legitime Fragen. Eine kurze Lektüre dieses Buches führte jedoch schnell zur Erkenntnis, dass man ein Juwel in Händen hält.
Es beginnt schon mit der Sprache. Arthur Koestler ist wortgewaltig, ohne ins Pompöse zu verfallen; humorvoll distanziert, ohne hämisch zu werden; intelligent und gebildet, ohne belehrend den Zeigefinger zu erheben. Kurz: Er schreibt, wie nur wenige es vermögen – oder in einer Epoche kurzer Soundbites und scrollbarer Texte überhaupt noch dürfen. So gelingt ihm etwas, das anderen Autoren oft misslingt: mit nur wenigen Worten zugleich auf mehreren Bedeutungsebenen zu kommunizieren.
Das Flugzeug eines UN-Sondergesandten, das Tel Aviv überfliegt, mutiert bei Koestler zur «motorisierten Friedenstaube», der «nur der Olivenzweig fehlte». Das ist mehr als nur ein klares Bild von einer weißen Maschine am blauen Himmel. Koestler verankert seine Geschichte mühelos ortsgerecht im biblischen Narrativ des Heiligen Landes. Genau wie die Taube ohne Olivenzweig im Schnabel Noah zeigte, dass die Sintflut noch nicht vorbei war, legt Koestler nonchalant das Unvermögen der UNO dar, sich gegen die Welle der Gewalt rund um die Entstehung Israels zu stemmen.
Wenn er die blauen Sammelboxen, mit deren Hilfe der jüdische Nationalfonds Spenden für den Aufbau eines neuen Staates zusammentrug, zu «Bettelschalen für den Kauf eines Königreichs» erklärt, dann ergründet sich dem Leser intuitiv nicht nur der verzweifelte Zustand der jüdischen Diaspora Osteuropas, die sich für den Traum vom eigenen Staat Pfennige vom Mund absparte. Er legt auch nahe, wie weit hergeholt, ja abstrus den meisten Zeitgenossen Koestlers das zionistische Vorhaben erschien, nach zwei Jahrtausenden eine jüdische Heimstätte für mittellose Flüchtlinge bar jeder nationalen Identität irgendwo in Asien wiederauferstehen zu lassen.
Koestlers Werk ist indes mehr als literarische Augenweide. Es ist ein Augenzeugenbericht, der an Weitsicht und Detailliertheit seinesgleichen sucht. Die Betrachtung scheinbar nebensächlicher Einzelheiten dient diesem begnadeten Autor dazu, die groben Züge historischer Entwicklungen mit feinem Pinsel ziseliert nachzuzeichnen. Wie ein Bogenschütze, der die politische Landschaft seiner Zeit durch eine schmale Schießscharte überblickt, nutzt er noch die kleinste Begebenheit, um Belange von strategischer Bedeutung treffsicher zu veranschaulichen. Wenn er anmerkt, dass «auf dem letzten halb-offiziellen britischen Empfang, den dieser Autor 1945 besuchte – eine große After-Dinner-Party des British Council in Jerusalem –, rund die Hälfte der etwa hundert Gäste Araber, die andere Engländer und drei Juden waren», dann zeigt er in einem Satz auf, wie es um die Neutralität der Exekutive der britischen Mandatsverwaltung in Palästina stand.
Dabei begnügt er sich nicht mit persönlichen Beobachtungen, sondern stellt dem Leser Fakten und Wissen in fast enzyklopädischem Umfang zu Verfügung. Berichte, Briefe, Pamphlete und Studien werden hier in einer Dichte zitiert, die Koestlers Buch in eine wertvolle Quelle für jeden Forscher der Entstehungsgeschichte Israels verwandeln. Diese minutiöse Pedanterie gelingt ihm, ohne den Laien zu langweilen, im Gegenteil: Sie verleiht seiner umfassenden Vogelperspektive den fundierten Scharfblick, der selbst ideologische Scheuklappen durchdringen sollte.
Dabei ist Koestler kein objektiver Berichterstatter, befindet sich zu keinem Zeitpunkt auf Äquidistanz zu seinen Objekten. Das erschließt sich bereits aus seiner Biografie. Koestler wuchs als bewusster Jude auf, war überzeugter Zionist, lebte und arbeitete in den Kibbuzim der zionistischen Pioniere, brannte für die Idee der Wiederauferstehung des jüdischen Volkes, auch wenn er in der neuen Heimat seines Volkes für sich selbst kein eigenes neues kulturelles Zuhause finden konnte. Das Leid der Palästinenser begriff er über seinen Intellekt, mit dem Schicksal der Juden verband ihn sein Herz.
Dennoch wurde er nicht parteiisch. Im Vorwort zur englischen Originalausgabe, das auch im Nachwort auszugsweise zitiert wird, legt er sein Verständnis seiner Aufgabe dar: «Die emotionale Neutralität des Chronisten ist nicht dasselbe wie Gleichgültigkeit, und seine Objektivität kann nichts anderes sein als das Resultat einer subjektiven Leidenschaft im Streben nach Wahrheit. Es ist eine armselige Unparteilichkeit, die außerhalb der Akteure steht, die sich von ihren Emotionen nicht berühren lässt; ein guter Richter, wie der Dramatiker und der Historiker, saugt die subjektive Wahrheit auf, die sich in den widersprüchlichen Plädoyers findet. Sein Urteil ist eine Synthese dieser Halbwahrheiten, nicht ihre Leugnung. Mit anderen Worten, Objektivität ist ein Zustand ausgewogener Emotionen, kein Gefühlsvakuum.» Koestler gelang es, diesen Zustand «ausgewogener Emotionen» zu wahren, indem er die Skepsis des professionellen Journalisten bewahrte und sie mit dem kaltblütigen, distanzierten Humor des British Empire koppelte. Selbst wenn sein Zugang zu Zionisten weitaus besser war als zu den Briten oder Arabern, stand er allen Akteuren stets gleichermaßen kritisch gegenüber.
Unermüdlich war er auf der Suche nach dem Heiligen Gral des Journalismus – dem Interview mit dem «kleinen Mann», der durch Umstände, die manche Zufall, andere Schicksal nennen, in die Lage versetzt wird, den Lauf der Geschichte zu verändern. So führt er dem Leser zwei Bewohner des Kibbuz Degania vor, die den Vormarsch der syrischen Armee im Norden Israels 1948 mit zwei Brandbomben aufhielten. «Eine davon warf Shalom Hochbaum aus Kattowitz, der zwei Jahre zuvor nach Degania gekommen war, nachdem er insgesamt fünf Jahre in dreizehn verschiedenen Konzentrations- und Flüchtlingslagern verbracht hatte, u. a. in Bergen-Belsen. Die zweite hatte Yehuda Sprung aus Krakau geworfen, achtunddreißig Jahre alt, Frau und zwei Kinder, zwölf Jahre in Degania, davor Jurastudent an der Krakauer Universität. Er ist ein schmaler, schüchterner Mann, der einem Schneider gleicht. Hochbaum ist ein kräftiger junger Bursche, der Yehudi Menuhin ähnelt. Keiner von beiden hatte jemals zuvor in seinem Leben einen Panzer gesehen.»
Persönliche Begegnungen wie die mit Hochbaum und Sprung ermöglichten es Koestler, den nahtlosen Übergang vom banalen Alltag des Konflikts zu unsterblicher Geschichte zu erkennen und seinen Lesern zu zeigen: «Für jemanden, der an seinem Frühstückstisch von den fernen Ereignissen in der Boulevardpresse las, hatte es den Anschein, als hätte die Weltgeschichte endlich den ambitioniertesten Traum von Metro-Goldwyn-Mayer erfüllt, in dem die Wüstensöhne in einem Heiligen Krieg gegen die auferstandenen Makkabäer in die Schlacht ziehen. In der Nahaufnahme, um in der Sprache des Kameramannes zu bleiben, entpuppte sich dieser Konflikt jedoch als ein Scheinkrieg, in welchem sich kleine, hoffnungslos dilettantische Banden levantinischer Söldner Scharmützel mit behelfsmäßig zusammengestellten Einheiten jüdischer Bürgerwehr lieferten, begleitet von viel Trara und Großtuerei auf beiden Seiten. Aber wenn man schließlich noch näher herantritt und die Szene in einem winzigen Landstrich in Zeitlupe zeigt, dann bleiben am Ende ein paar hundert Leute übrig. Leute wie Yehuda Sprung, Siedler von Degania, Frau und zwei Kinder, der, als er zum ersten Mal in seinem Leben einen echten Panzer in Aktion sah, nicht davonlief, sondern aus zehn Meter Entfernung eine Flasche nach ihm warf. Und so überschritt er in halb benommenem Zustand jenen Himmelsäquator, der die triviale von der historischen Sphäre trennt.»
Abgesehen vom journalistischen Können Arthur Koestlers macht noch ein ganz anderer Punkt dieses Buch besonders wertvoll, ja, eigentlich unersetzlich. Trotz der Nähe zu den Ereignissen bewahrte er stets die notwendige Distanz, um über den Tellerrand blicken zu können. Dem weitgereisten Koestler erschlossen sich so vor mehr als siebzig Jahren Einblicke, die selbst heute nichts von ihrer Relevanz eingebüßt haben, in ihrer Prägnanz fast prophetisch wirken.
Viele der innenpolitischen Konflikte, die Israel bis heute erschüttern, sagte Koestler schon zur Zeit der Staatsgründung voraus. Als der Direktor der Israelischen Zentralbank, Amit Yaron, Ende 2019 vor den Konsequenzen des rasanten Wachstums der ultraorthodoxen Bevölkerung warnte, hätte er Koestlers Prognosen aus den späten 1940er Jahren zitieren können. Yaron mahnte: «Wenn sich nichts an der demografischen Entwicklung ändert und der Anteil ultraorthodoxer Erwerbstätiger so niedrig bleibt, wie er heute ist, wird die Einkommensteuer um sechzehn Prozent angehoben werden müssen, um die Steuereinnahmen als Anteil am BIP zu erhalten.» Ultraorthodoxe bilden aufgrund ihrer schlechten Schulbildung Israels unterste soziale Schicht. Ihre Integration sei zu einer «wirtschaftlichen Notwendigkeit» für weiteres Wachstum und Wohlstand geworden, so Yaron. Hinter dieser Warnung steht die Befürchtung, dass es für Israel auf Dauer unmöglich werden könnte, eine Armee zu unterhalten, die seinen Nachbarn qualitativ überlegen ist. Die Integration der Ultraorthodoxen ist eine existenzielle Frage für Israel.
Und war es laut Koestler bereits im Jahr der Staatsgründung: Er sah schon damals Israels Entwicklung zur heute weltweit bekannten Hightechnation voraus. Nach einem Besuch im kurz zuvor eröffneten Weizmann-Institut in Rehovot schrieb er: «Die Forschungsabteilungen in Rehovot sind, an internationalen Standards gemessen, vermutlich die einzigen wirklich erstklassigen Einrichtungen im Land. Israels Zukunft wird bestimmt in diese Richtung gehen: innovative Industrieproduktionen durch kreative Methoden, […] Magie im industriellen Maßstab.» Zugleich hielt er an anderer Stelle fest: «Die religiösen Schulen, die laut den Zahlen der Bildungsabteilung von dreiundzwanzig Prozent aller Kinder zwischen vier und achtzehn Jahren besucht werden, machen ihre Schüler kaum tauglich für ein Leben im 20. Jahrhundert. Anders als in manchen weltlichen Schulen der katholischen Kirche in Westeuropa, die für eine solide Allgemeinbildung sorgten und mitunter hervorragend waren, stopfen die orthodoxen Seminare die Köpfe ihrer Schüler so voll mit mittelalterlicher Bibelauslegung, dass für andere Wissensbereiche kaum Platz bleibt.» Das klingt genau wie Yarons Warnung von 2019 – verfasst mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor.
Nicht nur Gesellschaft und Wirtschaft, auch die Politik analysierte Koestler messerscharf. So gelang es ihm schon damals, ein Phänomen zu erkennen, das Benjamin Netanjahu Jahrzehnte später dabei helfen sollte, der am längsten amtierende Premier in Israels Geschichte zu werden. In seiner Beschreibung der Revisionisten, der Vorläuferbewegung von Netanjahus Likud-Partei, hielt Koestler fest: «Ihre Führung bestand aus polnischen Intellektuellen, das Fußvolk waren ‹farbige Juden›, Jemeniten und Sepharden, auf die die blumige, chauvinistische Ausdrucksweise besonders anziehend wirkte. Diese orientalischen Juden würden eines Tages die Hälfte ihrer Stärke ausmachen, während die Führung fast ausschließlich aus jungen Intellektuellen bestand, die in der polnischen revolutionären Tradition aufgewachsen waren.» Unschwer sind hier die Wurzeln der Treue zu erkennen, die Israels Misrahim – die Nachkommen ebenjener «farbigen Juden» – dem aschkenasischen Netanjahu halten.
Doch Koestlers größte Leistung war wohl seine Fähigkeit, die eigentliche Bedeutung des israelisch-arabischen Konflikts trotz seiner persönlichen Befangen- und Betroffenheit zu erfassen. Seine Beobachtungen sind heute relevanter denn je. Angesichts des enormen Raums, den Politik und Medien dem Konflikt um Israel/Palästina weltweit einräumen, sind viele überrascht, wenn sie mit dessen wahrem Ausmaß konfrontiert werden: Israelis und Palästinenser ringen um ein Land von der Größe Hessens, mit einer Einwohnerzahl halb so groß wie der Kairos. Die wirtschaftliche Bedeutung des Konflikts ist gleich null, und selbst die Opferzahlen sind nach hundertvierzig Jahren Krieg zwischen Zionisten und Arabern so niedrig, dass er nicht einmal zu den Top 20 in der Liste der blutigsten Konflikte der Welt gehört. Warum also gebührt ihm überhaupt so viel Aufmerksamkeit?
Koestler gelang es, sich von religiösen, ideologischen oder ethnischen Scheuklappen zu befreien und die wahre Funktion des Heiligen Landes als globales Politbarometer auszumachen. Im hier nur teilweise zitierten Vorwort zur englischen Ausgabe bedient er sich dazu eines Zitats des französischen Physikers Pierre-Simon Laplace: «Wenn es uns möglich wäre, einen exakten Katalog aller Partikel und Kräfte anzulegen, die in einem Staubkörnchen aktiv sind, wären die Gesetze des gesamten Universums für uns kein Geheimnis mehr.» Richtig bemerkt Koestler daraufhin, der Staat Israel nehme «auf jedem mittelgroßen Schulglobus […] nicht viel mehr Platz als ein Staubkorn ein; und doch gibt es kaum ein politisches, soziales oder kulturelles Problem, dessen Prototyp man hier nicht vorfinden kann, und das in seltener Konzentration und Intensität». Für Laien wie Experten bietet dieses Buch eine einzigartige Gelegenheit, dieses Staubkorn besser verstehen zu lernen.
Tel Aviv, im Dezember 2019
ZUR EINFÜHRUNG
Arthur Koestler
Mitte der dreißiger Jahre stellte sich nicht mehr die Frage, ob der Zionismus eine gute Idee war oder eine schlechte, ob er wünschenswert sei oder nicht – 500 000 Juden in Palästina, das war keine politische Theorie mehr, sondern eine Tatsache. Die Juden besaßen einen zusammenhängenden Teil des Landes, und obwohl die Araber ihnen zahlenmäßig noch im Verhältnis zwei zu eins überlegen waren, hatten sie, was wirtschaftliche Stärke und soziale Errungenschaften betraf, bereits die führende Rolle in dieser unglückseligen Angelegenheit übernommen. Die Voraussetzungen für den späteren Staat Israel waren damit jedenfalls geschaffen.
Eine kurze Analyse dieser Voraussetzungen erscheint umso mehr angezeigt, als Israel praktisch der einzige existierende Staat ist, für den sämtliche Daten für eine solche Analyse niedergelegt und ohne Weiteres zugänglich sind.
So gut wie alle unabhängigen Staaten sind durch einen gewaltsamen und zum jeweiligen Zeitpunkt rechtswidrigen Umsturz entstanden, der nach einer Weile als vollendete Tatsache hingenommen wurde. Nirgendwo in der Geschichte – weder zur Zeit der Völkerwanderung noch bei der normannischen Eroberung Englands, weder im Holländischen Unabhängigkeitskrieg noch während der gewaltsamen Kolonisation Amerikas – finden wir das Beispiel eines Staates, der durch eine internationale Vereinbarung friedlich ins Leben trat. Auch in dieser Hinsicht ist Israel eine Ausnahmeerscheinung. Ähnlich wie das Geschöpf Frankensteins wurde es auf dem Papier gezeugt, während der Mandatszeit entwickelt und im Laboratorium der Diplomatie ausgebrütet. In der letzten Phase seines Geburtsprozesses jedoch war die Anwendung von Gewalt der entscheidende Faktor. Wie bei anderen Nationen auch beruht Israels Existenz letztendlich auf vollendeten Tatsachen, für welche die ursprünglich einheimische Bevölkerung die Zeche zu zahlen hat.
Die Balfour-Erklärung1 war bekanntlich das Versprechen einer Nation, einer zweiten ein Land zu überlassen, welches einer dritten gehörte. Als mildernder Umstand mag gelten, dass die Geschichte des Nahen Ostens gewissermaßen von vorne begann, als die Araber durch die Briten mit Waffengewalt von der Türkenherrschaft befreit wurden. 1917 war Palästina ein dünn besiedelter Landstrich aus Wüsten und Sümpfen, und die arabischen Anführer haben es damals ganz bereitwillig den Juden überlassen unter der Voraussetzung, dass sie selbst über den Rest des riesigen befreiten Territoriums vom Indischen Ozean bis zur türkischen Grenze herrschen durften. Emir Feisal, der Sohn des Kalifen, unterzeichnete sogar ein Abkommen mit dem Führer der Zionisten, Dr. Weizmann2, über eine freundschaftliche Zusammenarbeit zwischen dem zukünftigen arabischen Staat Großsyrien und der Nationalen Heimstätte der Juden.
Da Großsyrien nie zustande kam, trat auch das Abkommen nie in Kraft, und das Schicksal Palästinas wurde letztlich gewaltsam entschieden.
Der Begriff «historische Gerechtigkeit» ist unscharf und unbestimmt. Anders als im Strafgesetzbuch gibt es hier keinen festen Bezugsrahmen. Grundsätze und Kriterien, diesen Begriff betreffend, sind ganz und gar abhängig von der jeweiligen Weltanschauung. Aus darwinistischer Sicht bedeutet historische Gerechtigkeit das Überleben des Stärkeren auf Kosten des Schwächeren. Aus Sicht der jüdischen Religion ist Israel die Erfüllung der Verheißung vom Sinai und somit ein Akt göttlicher Gerechtigkeit. Für den Juristen basiert der Begriff auf einem Versprechen von Downing Street, das der Völkerbund gebilligt hat, und damit auf internationalem Recht. Dem marxistischen Dialektiker geht es um die Überwindung einer mittelalterlich-feudalen Gesellschaftsstruktur durch eine moderne sozialistische; das entspricht den Gesetzmäßigkeiten des historischen Fortschritts. In den Augen des Philanthropen geht es um einen Zufluchtsort für eine verfolgte, heimatlose Rasse, der aus genau diesem Grund zu begrüßen ist. Der romantische Traditionalist sieht die Verunreinigung einer primitiven und patriarchalen Lebensform durch die Geschäftigkeit einer technisierten Zivilisation. Und unter dem Aspekt nationaler Souveränität und Selbstbestimmung stellt Israel schließlich eine historische Ungerechtigkeit dar.
Jede dieser Betrachtungsweisen basiert auf einem anderen Referenzsystem und ist eingebettet in ihr je eigenes «Universum der Argumentation». Wenn diese Universen vermischt werden, muss jede Auseinandersetzung in einem heillosen Durcheinander enden. Die Diskussion der letzten zwei Jahrzehnte über das Palästinaproblem war ein klassisches Beispiel für eine semantische Verwirrung, die durch emotionale Voreingenommenheit noch verschlimmert wurde.
Tatsache ist, dass historische Gerechtigkeit nicht an absoluten Standards gemessen werden kann, sondern dass dafür nur relative und vergleichende Maßstäbe zur Verfügung stehen.
Da der Lauf der Geschichte nun einmal unumkehrbar ist, bleibt jedes Urteil seiner Zeit verhaftet. Ein Gewaltakt von gestern gilt heute als vollendete Tatsache (fait accompli) und morgen als rechtmäßiger Status quo. Darum hängt die Bestimmung von historischer Gerechtigkeit davon ab, welchen Zeitpunkt man als Stunde null ansetzt.
Welche also ist die Stunde null für Palästina? Als die Stämme der Hebräer das Land gewaltsam von den Kanaanitern, Jebusitern und Philistern eroberten? Als die Juden nach dem Bar-Kochba-Aufstand im zweiten Jahrhundert daraus vertrieben wurden? Als es im siebten Jahrhundert von arabischen Nomaden oder im sechzehnten Jahrhundert von osmanischen Türken eingenommen wurde? Oder war es der Einmarsch von Allenbys Truppen 1917, mit der Balfour-Erklärung in der einen Tasche und Wilsons Vierzehn-Punkte-Plan in der anderen? Als 1939 das britische Weißbuch in Kraft trat oder als die Briten 1949 Israel anerkannten?
Historische Gerechtigkeit erscheint somit als eine Funktion zweier Variablen: des Zeitpunkts, den man auswählt, und der Wertekriterien, die man anlegt. Das Urteil wird zunächst davon abhängen, wie weit die Vergangenheit als Beweismittel in Anschlag gebracht wird: Liegt der Ausgangspunkt bei den Eroberungen der Makkabäer, bei der Herrschaft der Kalifen oder bei der Schlacht im Negev? Zweitens wird es aber auch davon abhängen, was ein Richter vergleichsweise höher bewertet: die Senkung der Kindersterblichkeit bei den Arabern durch die eingewanderten jüdischen Ärzte oder im Verhältnis dazu das Recht der Araber auf ihre eigene Lebensweise ohne fremde Einmischung.
Jede Vorstellung von Gerechtigkeit basiert auf einem feststehenden Referenzsystem. Das Vorhandensein der zwei Variablen «Zeit» und «Wertvorstellungen» jedoch wandelt die gesamte Vorstellung von «historischer Gerechtigkeit» in eine subjektive und beliebige Angelegenheit, reduziert sie im Grunde auf einen Widerspruch in sich. Historie kann man nicht beurteilen, indem man einen starren Moralkodex anwendet, sie kann nur in der Art einer griechischen Tragödie hervortreten, in der beide Widersacher nach ihren eigenen Kriterien und innerhalb ihres je eigenen «Universums der Argumentation» im Recht sind. In der Tragödie der Juden und Araber in Palästina waren beide im Recht, und der Zuschauer konnte nicht mehr tun, als der einen oder anderen Seite mit Sympathie zu begegnen, entsprechend den eigenen subjektiven Wertvorstellungen und Neigungen.
Folglich muss sich jede Untersuchung der moralischen Grundlagen Israels auf einen begrenzten Zeitraum beziehen – zum Beispiel von der britischen Eroberung Palästinas bis zur Unabhängigkeitserklärung des neuen Staates –, und das Urteil kann sich nur auf einen Vergleich mit anderen Fällen stützen, in denen europäische Siedler ein Land eroberten. An diesen begrenzten und relativen Maßstäben gemessen, bleibt die Ungerechtigkeit, die den palästinensischen Arabern widerfahren ist, immer noch eine unleugbare Tatsache, aber verglichen mit historischen Präzedenzfällen erscheint sie als eine relativ milde Ungerechtigkeit und die Art und Weise der jüdischen Besiedlung als vergleichsweise anständig und human.
Es ist eine grundlegende Tatsache, dass die jüdische Besiedlung Palästinas weder durch Gewalt noch durch Androhung von Gewalt erfolgte, sondern, im Gegensatz zur allgemein vorherrschenden Meinung, in regem Zusammenspiel mit den Arabern. Kein Araber wurde jemals gezwungen, sein Land zu verkaufen – egal, ob es sich dabei um den Grundbesitz eines reichen Effendis handelte oder um masha’a-Land, das Gemeinschaftseigentum eines Dorfes. Und es trifft auch nicht zu, dass die Araber als naive Opfer der Verlockung jüdischen Goldes erlegen sind.
Die arabische Propaganda wetterte unablässig gegen den Landverkauf an Juden. Gleichzeitig war die Politik der Mandatsverwaltung gezielt darauf ausgerichtet, solchen Verkäufen durch administrative und gesetzliche Maßnahmen von zunehmender Härte einen Riegel vorzuschieben. […] Am Ende war Palästina ab 1940 das einzige Land der Welt, abgesehen vom nationalsozialistischen Deutschland, in dem es Juden untersagt war, Land zu erwerben.
[…] Man muss deshalb immer wieder betonen, dass die Juden sich die Landstriche, die das ökonomische und strategische Fundament ihres Staates bilden, nicht mit Gewalt aneigneten, sondern mit der freiwilligen Zustimmung ihrer jeweiligen Besitzer. Die staatliche Gesetzgebung diente ausschließlich dem Zweck, die Interessen der Eigentümer und ihrer Pächter abzusichern. Die Araber verkauften freiwillig und genossen den größtmöglichen Schutz gegen übereiltes Handeln oder Übervorteilung. Trotz aller Warnungen und Restriktionen verkauften sie aber weiterhin und taten es sehenden Auges. […]
Der Widerspruch, der darin besteht, dass ein erheblicher Teil des Landes nach und nach in jüdischen Besitz überging, während gleichzeitig die Anzahl «enteigneter» Araber unerheblich blieb, lässt sich leicht auflösen. Der größte Teil jenes Landes, das die Juden erwarben, sowohl von Großgrundbesitzern als auch von Dorfbewohnern, war zuvor gar nicht kultiviert worden. So bestanden die beiden wesentlichen zusammenhängenden Landstriche, die zur materiellen Basis des jüdischen Staates wurden, die Küstenebene und die Ebene von Jesreel, vor der Ankunft der Juden größtenteils aus Wildnis – Sanddünen, Sümpfe und Steinwüsten, hier und da ein malariaverseuchtes Gewirr von Lehmhütten oder die Ruinen eines Dorfes, dessen Bewohner der Krankheit erlegen waren. Die zunehmende jüdische Besiedlung bewirkte weder eine Verkleinerung der von Arabern kultivierten Flächen noch eine Umsiedlung oder Verarmung der arabischen Bauern – ganz im Gegenteil.
Der als Einführung des Autors vorangestellte Textauszug wurde Buch eins des Gesamtwerks Promise and Fulfilment entnommen (S. 21-27); Näheres zur englischen Vorlage im Nachwort der Übersetzerin.